Nachdem die Grundzüge der „Politischen Theologie“ von 1922 dargestellt worden sind, gilt es im folgenden, ihre Stellung im Kontext der frühen Arbeiten Schmitts zu klären. Fast alle Interpreten begreifen die Schrift als¾ ,programmatischen’ ¾ Teil eines Ganzen, das „die“ Politische Theologie Schmitts ausmacht. Der Autor selbst hat im Jahre 1970 angesichts einer fast 48 Jahre währenden Rezeption und Kritik seines Essays auf „einen zeitlichen, stofflichen und systematischen Zusammenhang“ mit den Arbeiten der Jahre 1919-1927 hingewiesen[72]. Dieser Zusammenhang soll nun hergestellt werden. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild dessen, was Schmitt unter Politischer Theologie[73] verstanden hat. Freilich können die Schriften, die um den zentralen, im Rahmen der vorliegenden Arbeit näher zu untersuchenden Text von 1922 (in der Fassung von 1934) herum gruppiert sind, nur skizzenhaft vorgestellt werden. Es geht darum, die trotz der unterschiedlichen Themenstellungen wahrnehmbaren Verbindungslinien aufzuzeigen, die zur Monographie „Politische Theologie“ hin- und von ihr wegführen.
Die zu Beginn des vierten Kapitels der „Politischen Theologie“ vorgetragene Korrektur der in Deutschland üblichen Gepflogenheit, die Theoretiker der Gegenrevolution der Romantik zuzuordnen, hat Schmitt in seinem Werk „Politische Romantik“ in extenso durchgeführt. Wer nicht „bedingungslos die Gegenwart für besser, freiheitlicher und fortschrittlicher“[74] hält als die Vergangenheit, wird nach diesem Denkschema automatisch auf die Seite der Romantiker geschlagen, was im Falle der Gegenrevolutionäre schon deshalb nicht stimmen kann, weil sie das „,Monstrum mit den drei Köpfen’: Reformation, Revolution und Romantik“[75] bekämpft haben.
Ebensowenig bestimmt sich nach Schmitt Romantik aus dem bloßen Gegensatz zu Rationalismus und Aufklärung, da man dann die katholische Kirche, „diesen Wunderbau christlicher Ordnung und Disziplin, dogmatischer Klarheit und präziser Moral, ebenfalls für romantisch zu erklären und im romantischen Pantheon neben allen möglichen Genies, Sekten und Bewegungen auch noch das Bild des Katholizismus aufzustellen“ hätte[76]. Katholische Kirche und Romantik schließen sich gegenseitig aus: „Denn sooft die katholische Kirche das Objekt romantischen Interesses war, und sooft sie auch romantische Tendenzen in ihren Dienst zu stellen wußte, sie selbst ist nie, sowenig wie irgendeine Weltmacht, Subjekt und Träger einer Romantik gewesen.“[77]
Was die Romantik auszeichnet, ist ihr „subjektivierter Occasionalismus, d. h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Subjektivität“[78]. Die romantische Haltung besteht darin, „sich zwischen mehreren Realitäten zu reservieren“[79], einer Entscheidung auszuweichen, „nicht Partei [zu] ergreifen, wie das jeder tun muß, der von gut und böse im moralischen Sinne spricht und Recht von Unrecht unterscheidet“[80], sondern statt dessen „das höhere, alle Gegensätze in harmonischer Einheit auflösende subjektivierte Dritte“[81] zu suchen.
Als „Typus politischer Romantik in seltener Reinheit“[82] wird uns der konservative katholische Konvertit Adam Müller vorgesellt, an dessen Vorlesungen über „Die Elemente der Staatskunst“ (1809) Schmitt kein gutes Haar läßt[83]. Romantiker wie Müller können, so Schmitt, nur deshalb in der katholischen Kirche Platz finden, weil sie den Ertrag einer tausendjährigen theologisch-begrifflichen Anstrengung ernten, ohne sich „in die mühselige und undankbare Arbeit dogmatischer Untersuchungen einzulassen“; sie „gebrauchen ... jetzt, wie sie früher naturphilosophische Termini verwendeten, Worte wie Gnade, Erbsünde und Offenbarung als kostbare Behälter, in welche das romantische Erlebnis sich ergießt“[84].
Die Bewunderung, mit der Schmitt schon in seinen frühesten Werken[85] von der ¾ römisch-katholischen ¾ Kirche spricht, setzt sich in der „Politischen Romantik“ fort. Sie gilt dem klassischen Form- und Hierarchieprinzip der lateinischen Kirche, das sie zur Entscheidung befähigt. Diese Kirche bildet einen Kontrast zur politischen Romantik, die „psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität“[86] ist. Es ist daher ein bürgerlich-konservatives Mißverständnis, „Männer wie Burke, de Maistre und Bonald mit Adam Müller und Friedrich Schlegel unter dieselbe Kategorie politischer Geistigkeit“ zu bringen[87]. Zum Kampf gegen den Liberalismus taugen die Romantiker nicht, weil sie wie dieser in der Unentschiedenheit des „ewigen Gesprächs“ verharren.
Schmitt hat zentrale Motive der „Politischen Romantik“ in der „Politischen Theologie“ von 1922 wieder aufgegriffen und radikalisiert. Hugo Ball vergleicht deshalb das Verhältnis der beiden Monographien mit dem zwischen Kants ,Kritik der reinen Vernunft’ und der ,Kritik der praktischen Vernunft’, und zwar „nicht nur, weil die Titel Kongruenzen ausweisen. Letzten Endes war die ganze Untersuchung in ,Politische Romantik’ nur unternommen, um die großen politischen Theologen Burke, Bonald und de Maistre vor einer Verwechslung mit Talmipolitikern und Adapteuren wie Adam Müller und Fr. Schlegel zu schützen“[88].
Wie bereits der volle Titel der rechtshistorisch und staatstheoretisch angelegten Studie zeigt, verhandelt Schmitt das vielschichtige Phänomen der Diktatur im Zusammenhang mit der Entwicklung des Souveränitätsgedankens der Moderne. Während bereits das bloße Wort „Diktatur“ vor dem historischen Hintergrund der Jahre 1933-1945 und im heutigen Umfeld einer demokratiegewöhnten Kultur negative Assoziationen auslöst, erschien die Diktatur in der Weimarer Republik, auch in katholischen Kreisen[89], als eine durchaus optionale Staatsform, zumal wenn sie als ein zeitlich begrenztes Herrschaftsinstitut verstanden wurde, das um der (demokratischen) Verfassung willen auf seine eigene Ablösung hinwirkte.
Diktatur ist für Schmitt „die Herrschaft eines ausschließlich an der Bewirkung eines konkreten Erfolges interessierten Verfahrens, die Beseitigung der dem Recht wesentlichen Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen eines Rechtssubjekts, wenn dieser Wille dem Erfolg hinderlich im Wege steht; demnach die Entfesselung des Zweckes vom Recht“[90]. Der Sinn und Zweck der Diktatur aber besteht darin, die Verfassung als ein Ganzes zu sichern[91].
„Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus.“[92] Dieser Zweck wird in beiden möglichen Varianten von Diktatur verfolgt: „Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen.“[93]
Die souveräne Diktatur „suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung“[94]. Immer wird gerade diejenige Norm negiert, „deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. ... Rechtsphilosophisch liegt ... das Wesen der Diktatur ... in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung.“[95]
Diese bereits in seiner Habilitationsschrift vorgenommene Unterscheidung[96] gibt Schmitt nun die Möglichkeit, das Hauptaugenmerk auf die Aufgabe der Rechtsverwirklichung zu legen und personalistisch zuzuspitzen: In „Der Wert des Staates“ war es noch allgemein der Staat, dem diese Aufgabe zukam; in der Schrift über die „Diktatur“ ist es der Diktator, der eine verbindliche Entscheidung trifft und Recht...