7Einleitung
Krisentheorie – damals, heute
Dieses Buch ist die erweiterte Fassung meiner im Juni 2012 gehaltenen Adorno-Vorlesungen, fast genau 40 Jahre nach meinem Frankfurter Soziologie-Diplom.[1] Ich kann nicht sagen, dass ich ein »Schüler« Adornos gewesen sei. Ich habe einige seiner Vorlesungen und Seminare besucht, aber nicht viel verstanden; das war damals so und man hat das hingenommen. Erst später ist mir bei eher zufälligen Gelegenheiten klargeworden, wie viel ich dadurch versäumt habe. So ist meine wichtigste Erinnerung an Adorno die tiefe Ernsthaftigkeit geblieben, mit der er seine Arbeit tat – in denkbar starkem Kontrast zu der inneren Gleichgültigkeit, mit der Sozialwissenschaft heute, nach Jahrzehnten ihrer Professionalisierung, nur allzu oft betrieben wird.
Niemand wird mich, glücklicherweise, für berufen halten, das Werk Adornos zu würdigen. Ich habe auch darauf verzichtet, im Einzelnen nach Verbindungen zwischen dem zu suchen, was ich zu sagen habe, und dem, was Adorno hinterlassen hat; 8das würde gezwungen erscheinen und wäre anmaßend. Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, dann sind sie sehr allgemeiner Art. Zu ihnen gehört, dass ich es intuitiv ablehne zu glauben, dass Krisen immer gut ausgehen müssen – eine Intuition, die ich auch bei Adorno zu finden glaube. Das, was ich als funktionalistisches Sicherheitsgefühl bezeichnen möchte, beispielhaft zu besichtigen bei Talcott Parsons, ging ihm ab; dafür, dass alles irgendwann wieder von selber in ein gutes Gleichgewicht kommen würde, gab es bei Adorno keinerlei Garantie. Zu einem Hölderlinschen Grundvertrauen – »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« – konnte er sich nicht durchringen. Dies geht mir ähnlich, weshalb auch immer. Mir erscheinen soziale Ordnungen als normalerweise fragil und prekär, und unangenehme Überraschungen als jederzeit möglich. Ich halte es auch für falsch, von jemandem, der ein Problem als solches beschreibt, zu fordern, dass er zusammen mit dessen Analyse gleich eine Lösung liefert[2] – und beuge mich auch in diesem Buch einem solchen Diktat nicht, selbst wenn ich am Schluss zu einem Teilaspekt der Krise dann doch einen, allerdings nicht sehr realistischen Vorschlag mache, was zu tun wäre. Probleme können so beschaffen sein, dass es für sie keine Lösung gibt oder jedenfalls keine hier und jetzt realisierbare. Wenn man mich vorwurfsvoll fragen würde, wo denn da »das Positive« bleibe, dann wäre das am Ende doch noch eine Gelegenheit, 9bei der ich mich auf Adorno berufen könnte, dessen Antwort, natürlich viel besser formuliert, zweifellos gewesen wäre: Was, wenn es gar nichts Positives gäbe?
Mein Buch behandelt die Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart im Lichte der Frankfurter Krisentheorien der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, also der Zeit um Adorno herum und, natürlich, meines Frankfurter Studiums. Die Theorien, an die ich anschließe, waren Versuche, die damals beginnenden Umbrüche in der politischen Ökonomie der Nachkriegszeit als Momente eines historischen Prozesses gesamtgesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen, wobei sie sich mehr oder weniger eklektisch aus der marxistischen Theorietradition bedienten. Die dabei entwickelten Deutungen waren alles andere als einheitlich, waren oft nur skizzenhaft ausformuliert und änderten sich, wie nicht anders zu erwarten, mit dem Lauf der Ereignisse, oft von den Autoren unbemerkt. Auch findet, wer auf sie zurückblickt, immer wieder ein beharrliches Insistieren auf geringfügigen Differenzen innerhalb der Theoriefamilie, die heute irgendwie irrelevant erscheinen oder gar völlig unverständlich. Schon deshalb kann es im Folgenden nicht darum gehen, wer damals mehr oder weniger recht gehabt hat.
Auch an den Theorieversuchen der Frankfurter Jahre erweist sich, wie unvermeidlich zeitgebunden sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sind. Trotzdem und gerade deshalb bietet es sich an, bei der Befassung mit den gegenwärtigen Ereignissen an die Krisentheorien des »Spätkapitalismus« der 1970er Jahre anzuknüpfen, und zwar nicht nur, weil man heute wieder weiß und sagen kann, was jahrzehntelang vergessen oder für irrelevant gehalten wurde: dass die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der reichen Demokratien immer noch eine kapitalistische und deshalb, wenn überhaupt, nur mit Hilfe einer Theorie des Kapitalismus zu verstehen ist. Im Rückblick lässt sich auch erkennen, was man damals nicht erkennen konnte, weil es noch selbstverständlich war oder schon selbstverständlich geworden war, oder nicht erkennen wollte, weil es politischen Projek10ten im Wege stand. Dass man ungeachtet aller Anstrengungen des theoretischen Verstandes Wichtiges nicht gesehen und Kommendes nicht kommen gesehen hat, kann im Übrigen zur Erinnerung daran dienen, dass Gesellschaft vor einer offenen Zukunft stattfindet und Geschichte nicht vorhersagbar ist – ein Umstand, den sich die modernen Sozialwissenschaften noch immer nicht völlig klargemacht haben.[3] Andererseits ist, allen Veränderungen zum Trotz, in der Gegenwart manches wiederzuerkennen, was in der Vergangenheit erkannt war, dann aber vergessen wurde. So wenig Verlass auf eine statische Betrachtung der Welt ist, so identisch mit sich selber kann eine soziale Formation auch über Jahrzehnte hinweg erscheinen, wenn man sie als Entwicklungsprozess auffasst, der sich ändernde Strukturen über die Zeit zusammenhält und dessen Logik man rückblickend verstehen kann, auch wenn sie sich für Vorhersagen nicht hergibt.
Meine Analysen der Finanz- und Fiskalkrise des gegenwärtigen Kapitalismus behandeln diese in der Kontinuität und als Moment einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, deren Beginn ich auf das Ende der 1960er Jahre datiere und die ich von heute aus gesehen als Prozess der Auflösung des Regimes des demokratischen Kapitalismus der Nachkriegszeit beschreibe.[4] Mein Beitrag zu dessen Verständnis schließt, wie gesagt, an einen Theorieversuch an, der das, was sich damals abzuzeichnen begann, unter Rückgriff auf ältere, vor allem marxistische Theorietraditionen zu deuten unternahm. Zu diesen gehörten bestimmte aus dem später von Adorno geleiteten Institut für Sozialforschung hervorgegangene For11schungen, an denen Adorno allerdings nicht direkt beteiligt war. Charakteristisch für die Krisentheorie der »Frankfurter Schule« war eine heuristische Vermutung eines prinzipiellen Spannungsverhältnisses zwischen dem sozialen Leben einerseits und einer von Imperativen der Kapitalverwertung und Kapitalvermehrung beherrschten Ökonomie andererseits – eines Spannungsverhältnisses, das in der Nachkriegsformation des demokratischen Kapitalismus auf vielfältige und sich historisch weiter entfaltende Weise durch staatliche Politik vermittelt war. Soziale Institutionen, vor allem solche politisch-ökonomischer Art, erschienen so als stets umstrittene, immer nur zeitweilige Kompromisse zwischen grundsätzlich inkompatiblen Handlungsorientierungen und soziale Systeme als in sich widersprüchlich, fundamental instabil und nur vorübergehend, wenn überhaupt jemals, im Gleichgewicht befindlich. Die Wirtschaft der Gesellschaft schließlich wurde, in der Tradition der politischen Ökonomie, als soziales, also nicht bloß technisches oder naturgesetzlich gesteuertes Handlungssystem aufgefasst, das aus machtbewehrten Interaktionen zwischen mit unterschiedlichen Interessen und Ressourcen ausgestatteten Parteien bestand.
Indem ich an Theorien der 1970er Jahre anschließe und den Versuch unternehme, diese im Licht von vier Jahrzehnten nachfolgender kapitalistischer Entwicklung zu aktualisieren, behandele ich die gegenwärtige Krise des demokratischen Kapitalismus in dynamischer Perspektive, eingebettet in eine Entwicklungssequenz (Streeck 2010). Dass dies der gebotene Weg ist, Makrosoziologie oder politische Ökonomie zu betreiben, glaube ich als Soziologe und Politikwissenschaftler aus zahlreichen Untersuchungen unterschiedlicher sozialer Felder über die Jahre gelernt zu haben.[5] Sozialwissenschaftlich aufschlussreich sind für mich nicht Zustände, sondern Verläufe – oder Zustände nur im Zusammenhang von Verläufen. Theorien, die 12Strukturen oder Ereignisse als freistehende Unikate in einem feststehenden Eigenschafts- und Möglichkeitsraum behandeln, können fundamental in die Irre führen. Alles Soziale spielt sich in der Zeit ab, entfaltet sich mit der Zeit und wird in und mit ihr sich selber ähnlicher. Was wir heute sehen, können wir nur verstehen, wenn wir wissen, wie es gestern ausgesehen hat und auf welchem Weg es sich befindet. Alles, was vorfindlich ist, ist immer auf einem Entwicklungspfad unterwegs. Auf diesen kommt es, wie sich zeigen wird, entscheidend an; deshalb unter anderem die vielen Verlaufsdiagramme und stilisierten Narrationen in den drei Hauptteilen dieses Buches.
Nicht allein, dass alles Zeit braucht, ist wichtig, sondern auch, wann in der Zeit es stattfindet und wo. Raum, der durch Nähe konstituierte soziale Kontext, ist nicht weniger grundlegend für Gesellschaft als Zeit, und es ist nicht nur chronologische Zeit, die zählt,[6] sondern auch diachronische, also historische. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse werden erst dann wirklich zu solchen, wenn man sie mit einem Zeit- und Raumindex versehen hat. Die Krise, von der hier die Rede sein wird, ist eine des Kapitalismus im Kontext der reichen Demokratien der westlichen Welt, so wie er sich nach den Erfahrungen der Great Depression, der Neugründung von Kapitalismus und liberaler Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Zerbrechen der...