1.1. Der Begriff der Chancengleichheit in der Bildung
Wie bereits in der Einleitung angeklungen ist, basiert das Ziel bzw. die Forderung einer Chancengleichheit im Bildungswesen auf den Normen unserer sozialdemokratischen Ordnung, welche sich, gemäß Art. 3 Abs. 3 GG, dem Gleichheitsprinzip verpflichtet hat (vgl. Becker, 2004, S. 161). Die Gleichheit der Bildungschancen resultiert demnach aus dem allgemeinen Grundrecht der Chancengleichheit. Konsequenterweise stellt die Gleichheit bzw. die Angleichung der Bildungschancen eines unserer wichtigsten gesellschaftspolitischen Ziele dar (vgl. Hradil, 2001, S. 154).
Während seit den sechziger Jahren, als der empirische Nachweis für die Ungleichheit der Bildungschancen erbracht wurde (vgl. Wulf, 1984, S. 115), ein weitgehender Konsens bezüglich der Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen vorherrscht, sind jedoch die Vorstellungen über den Bedeutungsgehalt dieses Begriffs sehr unterschiedlich (vgl. Köhler, 1992, S. 15). Der Begriff der Chancengleichheit in der Bildung ist somit kein einheitlich definierter, sondern ein höchst strittiger und unklarer Terminus, da mit ihm unterschiedliche Zielvorstellungen verbunden werden, welche auf differenten, teils konträren Interessen und Gesellschaftsbildern basieren, aus denen wiederum unterschiedliche Handlungsperspektiven resultieren (vgl. Keck/ Sandfuchs, 1994, S. 69; vgl. Lenzen, 1989, S. 294).
Definitionsversuche 5 Infolge diverser differenter Interpretationen des Begriffs, soll hier ausschließlich die Darstellung der wichtigsten Grundpositionen erfolgen, da eine vollständige Diskussion und Darstellung aller Interpretationen den Rahmen dieser Arbeit „sprengen“ würde.
Zunächst kann eine Unterscheidung zwischen Startchancengleichheit (liberale Position) und Zielchancengleichheit (radikal- demokratische Position) vorgenommen werden (vgl. Lenzen, 1989, S. 294 f.; vgl. Wulf, 1984, S. 116), welche insbesondere zu Beginn der Chancengleichheitsdiskussion aufkam. Startchancengleichheit meint die Gleichheit der Zugangschancen zu qualifizierten Bildungsabschlüssen durch den freien, kostenlosen Zugang zu Bildungseinrichtungen und die Angleichung der Bildungsversorgung (vgl. Schraub/Zenke, 2000, S. 69, 120; vgl. Wulf, 1984, S. 116). Jedoch intendiert sie auch die Angleichung der Anfangs- und Startbedingungen, welche u.a. schichtbedingte Sozialisationsdefizite durch kompensatorische Maßnahmen auszugleichen versucht (vgl. Schröder, 2001, S. 55). Nach diesem Verständnis ist Chancengleichheit als Recht auf begabungsgemäße Bildung und individuelle Förderung zu verstehen (vgl. Keck/ Sandfuchs, 1994, S. 69). Diese ist dann erreicht, wenn auch begabte Kinder aus unteren Schichten den Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen erhalten und sich die Leistungsbewertung in der Schule nach objektiven Kriterien vollzieht (vgl. Schraub/Zenke, 2000, S. 120). Demgegenüber definiert sich Zielchancengleichheit nicht als Gleichheit der Startbedingungen, sondern, ausgehend von der Annahme, dass Leistungsunterschiede nicht genetisch, sondern ausschließlich umweltbedingt sind (vgl. Fend, 1982, S. 127), als Gleichheit des Bildungsergebnisses (vgl. Lenzen, 1989, S. 295). Unabhängig von den entwickelten Fähigkeiten soll danach jeder das Recht auf Bildungsangebote erhalten, um sich weiterzuentwickeln (vgl. Keck/ Sandfuchs, 1994, S. 69; vgl. Lenzen, 1989, S. 296). Chancengleichheit nach diesem Verständnis intendiert somit primär die Gleichheit der Lebensbedingungen (vgl. Lenzen, 1989, S. 295), welche mit bildungspolitischen Mitteln nicht bzw. nur schwer zu realisieren ist (vgl. Wulf, 1984, S. 116).
Die Vertreter dieser Position kritisieren die Gegenposition, indem sie anführen, dass Chancengleichheit im Sinne von Startchancen nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern nur zu mehr Wettbewerbsgleichheit unter Ungleichen führt, woraus eine
Definitionsversuche 6 Verstärkung des Konkurrenzkampfes jeder gegen jeden resultiert (vgl. Heid, 1988, S. 8 ff.). Diese Kritik mag zwar in gewisser Weise zutreffen, jedoch hat nach der Startchancengleichheit -zumindest theoretisch- jeder die gleiche Chance. Um es in einer Metapher zu verdeutlichen: „Ein Hundertmeterlauf hat ja auch nur einen Sinn, wenn alle die gleiche Chance haben zu gewinnen und […] [nicht] wenn alle gleichzeitig ankommen“ (Heid, 1988, S. 5). Der Argumentation ist daher entgegenzuhalten, dass es sich bei Chancengleichheit, wie der Begriff Chance schon verrät, nur um die bedingte Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit, nicht jedoch um eine intendierte Ergebnisgleichheit aller handeln kann. Der Begriff Chancengleichheit darf daher nicht mit Gleichheit verwechselt werden! Zielchancengleichheit bezieht sich jedoch nicht mehr auf die Chance, sondern determiniert bereits das Ergebnis. Somit kann bei Zielchancengleichheit nach Ansicht der Verfasserin nicht von Chancengleichheit, sondern es muss von Ergebnisgleichheit gesprochen werden. Ein solches Verständnis von Chancengleichheit kann in unserer heutigen, differenzierten Gesellschaft jedoch kein anzustrebendes Ziel darstellen. Wollte man nämlich nach dieser Interpretation Chancengleichheit herstellen, müsste man beispielsweise eine Gleichheit zwischen leistungsstarken Mittel- oder Oberschichtenkindern und leistungsschwachen Arbeiterkindern herstellen, indem man ersteren beispielsweise absichtlich Fördermaßnahmen entzieht, um ihre Leistung anzugleichen. Dadurch würde man jedoch Ungleiches gleich behandeln, was wiederum eine Ungerechtigkeit in sich birgt und zudem dem Gleichheitsanspruch des Art. 3 Abs. 3 widerspricht.
Chancengleichheit kann daher vernünftigerweise nicht als Zielchancengleichheit verstanden und gefordert werden, sondern nur nach dem Verständnis einer Startchancengleichheit. Ein solches Verständnis von Chancengleichheit respektiert soziale Ungleichheiten, jedoch versucht sie diese, durch die Schaffung gleicher Startchancen (welche realistischerweise nie vollkommen gegeben sind) auszugleichen, indem versucht wird, allen im Wettrennen um soziale Positionen zumindest die gleiche Chance einzuräumen. Den leistungsschwächeren Schülern wird somit im besonderen Maße geholfen, ohne die leistungsstärkeren Schüler zu benachteiligen (vgl. Fend, 1982, S. 128).
Definitionsversuche 7 Basierend auf dieser Argumentation bezieht sich diese Arbeit folglich auf das Verständnis der Chancengleichheit als Startchancengleichheit. Neben der Frage nach der Interpretation von Chancengleichheit bleibt auch die Frage, wann Chancengleichheit als erreicht gilt und wie sie zu messen ist, zu klären. Zur Überprüfung von Chancengleichheit werden grundsätzlich zwei Positionen unterschieden, die als Messgrößen bzw. Indikatoren dienen: das Proporz-Modell (Synonym: proportionales Modell) und das meritokratische Modell (Synonym: Leistungsmodell) (vgl. Geißler, 2005, S. 72). Diese zwei Modelle sollen an dieser Stelle vorgestellt und anschließend diskutiert werden. Das Proporz-Modell basiert auf einem Vergleich des Anteils der Bevölkerungsgruppen in einer Gesellschaft mit dem Anteil der entsprechenden Gruppen in den weiterführenden Bildungseinrichtungen (vgl. ebd.). Die Verwirklichung von Chancengleichheit liegt nach diesem Modell dann vor, wenn in allen Schulzweigen jeweils so viele Schüler aus den verschiedenen Schichten vorzufinden sind, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Im Umkehrschluss liegt eine Ungleichheit der Bildungschancen vor, wenn prozentual mehr oder weniger Kinder einer bestimmten Gesellschaftsschicht in einer Schulform vertreten sind als in der Gesamtbevölkerung (vgl. Geißler, 2002, S. 334; vgl. Hradil, 2001, S. 153).
Demgegenüber definiert sich das meritokratische Modell, basierend auf dem Prinzip „gleiche Chancen nach Fähigkeit und Leistung“ als Konzept einer leistungsbezogenen Chancengleichheit (vgl. Geißler, 2002, S. 334). Danach soll jedem, entsprechend seiner Leistung und seinen Fähigkeiten sowie unabhängig von leistungsfremden Kriterien wie Geschlecht, sozialer Herkunft oder finanziellen Ressourcen, die gleiche Chance zum Besuch von Bildungseinrichtungen und zum Erwerb von Bildungsabschlüssen garantiert werden. Chancengleichheit im Bildungswesen ist nach diesem Modell verwirklicht, wenn alle Menschen, unabhängig von jeglichen leistungsfremden Kriterien, die gleiche Chance auf eine Bildungskarriere erhalten (vgl. Geißler, 2004 a, S. 49; vgl. Hradil, 2001, S. 152) bzw. wenn lediglich die schulischen Leistungen bestimmen, wie weit jemand im Bildungswesen kommt (vgl. Fend, 1982, S. 130).
Definitionsversuche 8 Das meritokratische Modell übersieht dabei, dass die schulischen Leistungen einem schichtspezifischen Filter unterliegen (wie in Kapitel 3.3.4.1 noch zu zeigen sein wird) und sie daher ein ungeeignetes Kriterium für die Bestimmung von Chancengleichheit darstellen.
Bei einem kritischen Vergleich der Modelle fällt ferner auf, dass eine empirische Untersuchung der Chancengleichheit mit dem meritokratischen im Gegensatz zum Proporz-Modell kaum möglich scheint. Während sich mit dem Proporz-Modell eine Chancengleichheit bzw. Ungleichheit nach dessen Definition statistisch klar konstatieren lässt, da hier lediglich ein proportionaler Vergleich vorzunehmen ist, gestaltet sich dies mit dem meritokratischen Modell durchaus komplexer und diffiziler, da Leistungen in der Schule nie vollkommen objektiv gemessen werden können.
Dem Proporz- Modell ist somit zwar eine einfachere Anwendbarkeit und Überprüfbarkeit zuzugestehen, jedoch ist sein Zielkriterium einer statistischen...