2. Geschichte der Behindertenpolitik
2.1 Von den Anfängen bis zur Weimarer Republik
Anfänge einer von der Armenpolitik abgekoppelten Behindertenpolitik lassen sich im 18. Jahrhundert erkennen. Kriegsgeschädigte Soldaten wurden durch Gnadenunterstützungen sowie durch die Errichtung von Invalidenhäusern unterstützt.[3] Obwohl es in erster Linie um die Sicherung der Betroffenen in finanzieller Not ging, sieht Hammerschmidt hierin die ersten Ansätze zur gesellschaftlichen Eingliederung Behinderter. Zu nennen seien des weiteren die Einführung der Bismarkschen Sozialversicherungsgesetzgebung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, die anfangs erwerbstätige Arbeiter gegen die Risiken Krankheit und Invalidität absicherte.
Erste Ansätze dieser Rehabilitationspolitik finden sich im Bereich der Unfallversicherung des Jahres 1884. Es folgte 1889 der Aufbau der Alterssicherung (Invalidenversicherung). Danach konnten die Versicherungsanstalten das Heilverfahren übernehmen, sofern als Folge der Krankheit die Erwerbsunfähigkeit zu erwarten war, welche einen Anspruch auf Invalidenrente begründete. Diese Regelung beinhaltete schon damals den Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“.[4]
Im gleichen Sinne wurden im 19. Jahrhundert die Militärversorgungsgesetze ergänzt.
Aus der Geschichte dieses Sozialversicherungssystems heraus entwickelte sich für Behinderte im Laufe der Zeit ein Versicherungs –und Gesundheitsschutzsystem.[5]
Der Reintegrationsgedanke von Behinderten in Arbeit und Gesellschaft setzte sich erst im Ersten Weltkrieg durch. Die Zahl der Kriegsbeschädigten war so groß, dass die bis dahin geltenden Fürsorge- und Militärversorgungsgesetze der Notsituation durch die auf Rentenleistung abgestellte Versorgung allein nicht mehr gerecht werden konnten. Es wurde für erforderlich gehalten, rechtzeitig auf die berufliche Wiedereingliederung des Behinderten hinzuwirken. In dieser Zeit liegen auch die ersten gesetzlichen Maßnahmen für Schwerbehinderte.[6]
Nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches änderte sich die Sozialpolitik unter dem Druck des durch die Kriegsfolgen entstandenen Handlungsbedarfs.[7] Zahlreiche Kriegsbeschädigte kehrten ins zivile Leben zurück. Nach der Demobilisierung der Soldaten drohte die Gefahr, dass nun ein Verdrängungsprozess zuungunsten der körperbehinderten Arbeitskräfte erfolgte. Daher wurde ein allgemeines Kündigungsverbot für Schwergeschädigte verhängt. 1920 beschloss dann die Nationalversammlung einstimmig das „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter“. [8] Eine gesetzliche Einstellungspflicht und damit auch die ersten Ansätze einer staatlichen Arbeitsmarktpolitik zunächst für Kriegsgeschädigte und Arbeitsunfallgeschädigte waren damit vorhanden. Der gute Wille des Gesetzgebers beruhte letzten Endes auf der breiten Mehrheitsmeinung der damaligen Nachkriegsgesellschaft, dass die Kriegsbeschädigten ein großes Opfer für die Allgemeinheit erbracht und somit auch ein Recht auf einen wirtschaftlichen Nachteilsausgleich hätten. Der neue Staat, die Weimarer Republik, erkannte Rentenzahlungen, Arbeitsplatzsicherung und anderes als wohlbegründete Rechte an.[9]
Zum Ende der zwanziger Jahre geriet die Sozialpolitik der Weimarer Republik, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, in eine politisch – ökonomische Krise. Die Sozialpolitik der Präsidialkabinette unter Brüning, von Papen und Schleicher schnitt große Löcher in das Netz der sozialen Sicherung. Die Arbeitslosenversicherung, die bedeutendste sozialpolitische Errungenschaft der Weimarer Republik und vierte Säule der Sozialgesetzgebung, in der der Staat sich zum ersten Mal in vollem Umfang dafür zuständig erklärte, den sozialen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen und damit eine alte Forderung der Arbeiterbewegung erfüllte, wurde wieder demontiert.[10]
Die Kriegsopferfürsorge blieb jedoch von dieser Demontage verschont. Zu verdanken war dies den Kriegsopferverbänden. Die nach dem ersten Weltkrieg gegründeten Kriegsopferverbände (Reichsbund (SPD-nah), Internationale Bund der Kriegsopfer (USPD und KPD-nah) und Zentralverband deutscher Kriegsgeschädigter und Kriegshinterbliebener (deutsch-national)) hatten einen erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung und konnten den Kahlschlag in der Kriegsopferversorgung verhindern. Zu erklären ist dies durch die große Anzahl ihrer Mitglieder mit einer gemischten sozialen Herkunft und natürlich dem bereits oben beschriebenen politischem Klima jener Zeit, das Dankbarkeit für die Opferungen der Kriegsgeschädigten vorsah.[11]
In diesem Sinne waren die Kriegsopferverbände die ersten einflussreichen Interessenvertretungen Behinderter in der deutschen Geschichte. Diese Art der Interessenvertretung galt jedoch lediglich für die Kriegsgeschädigten. Die zivilen Körperbehinderten profitierten nur gelegentlich von der Kriegsopferversorgung. Es wurden zwar ab 1919 alle schwerbehinderten Unfallopfer in der gesetzlichen Unfallversicherung der Arbeits- und Betriebsfürsorge den Kriegsgeschädigten gleichgestellt, dies wurde jedoch in der Praxis kaum durchgeführt.[12]
2.2 Der Nationalsozialismus
1933 ergriff die NSDAP die Macht. Sie verbot Gewerkschaften und Konkurrenzparteien und sperrte viele deren aktiven Mitglieder in Konzentrationslager. Die Nationalsozialsten anerkannten nur noch die freien Wohlfahrtsverbände der Caritas, der Inneren Mission und des Deutschen Roten Kreuzes. Andere Wohlfahrtsverbände, wie beispielsweise die Arbeiterwohlfahrt, wurden aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt.[13] Die wohlfahrtspolitische Bedeutung der noch zugelassenen Wohlfahrtsverbände sank zunehmend. Als Ersatz wurde die nationalsozialistische Volkswohlfahrt e.V. gegründet. Sie war für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge zuständig. Die Interessenvertretungen der Behinderten mussten sich der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt unterordnen. Die Leistungen dieser Wohlfahrtseinrichtung entsprachen den sozialdarwinistischen, bevölkerungspolitischen und rassehygienischen Vorstellungen der nationalsozialistischen Ideologie, die zur Staatsideologie erhoben wurde. Nach dieser Ideologie erhielt nur die „erbgesunde“, einer Förderung „würdige“ deutsche Familie und Jugend, Unterstützung. Von den Leistungen ausgeschlossen waren die gesellschaftlichen Randgruppen.[14] Für die Einrichtungen der Behinderten wurden die finanziellen Zuschüsse gestrichen. Zur inneren Stärkung des Deutschen Reiches gehörte nach nationalsozialistischer Auffassung die Beseitigung der Schwachen, darunter die Beseitigung Behinderter. Lediglich die kriegsbeschädigten Soldaten blieben verschont und erhielten sogar Rentenerhöhungen.[15] Das Fanal für die spätere Ermordung wurde mit dem „Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ am 14. Juli 1933 gesetzt. Damit wurde ein Teil der rassistischen Pläne der Nationalsozialisten als integrierender Bestandteil ihrer Ideologie in die Tat umgesetzt. Das Gesetz ermöglichte die Sterilisierung auch gegen den Willen des oder der Betroffenen. In § 1 dieses Gesetzes wurde der Personenkreis folgendermaßen festgelegt:
„ (1) wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar
gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der
ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwar-
ten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder
geistigen Erbschäden leiden werden
(2) Erbkrank im Sinne des Gesetzes ist, wer an folgenden
Krankheiten leidet:
1. Angeborener Schwachsinn
2. Schizophrenie,
3. zirkulärem (manisch- depressivem) Irresein
4. erblicher Fallsucht
5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)
6. erblicher Blindheit
7. erblicher Taubheit
8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung
Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“[16]
Die Ausführungsverordnungen dieses Gesetzes forderten die Psychiater auf, die Diagnosen auf die fünf Hauptgebiete zu reduzieren. Eine Beweislage für eine Erblichkeit nach wissenschaftlichen Maßstäben ( z. B. bei Schizophrenie) lag gar nicht vor.[17]
In den ärztlichen Fachzeitschriften wurde das neue Gesetz von vielen Autoren begrüßt. Der Öffentlichkeit wurde eine fragwürdige Berechnung vorgelegt, die aufgrund der Fortpflanzungsquote besagte, das ohne die Sterilisierung dieses Personenkreises die Kranken bald die Gesunden überwiegen würden. In einer breiten Propagandakampagne wurden die eugenischen Maßnahmen als eine Notwendigkeit für das gesunde Überleben des deutschen Volkes gepriesen. Ein erheblicher Widerstand gegen dieses Gesetz war nicht zu erkennen. Die noch bestehenden Wohlfahrtsverbände als Träger von Einrichtungen für Behinderte sahen die Sterilisierungen von gewissen Gruppen als nicht...