Der Begriff Motorik ist grundsätzlich bekannt und im deutschen Sprachgebrauch unter der Bedeutung „Bewegung“ (lat. Motor = „Beweger“) gebräuchlich. Es handelt sich um keinen Spezialausdruck aus einem bestimmten Fachbereich, sondern das Wort Motorik wird vielseitig und in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Deshalb erscheint es interessant, wie Motorik im pädagogischen Bereich definiert und gebraucht wird. Beim Blick in pädagogische Lexika zeigt sich gleich, dass Motorik in diesem Gebiet sehr ganzheitlich und unentbehrlich für menschliches Verhalten gesehen wird. So findet sich im Wörterbuch Heilpädagogik von Bundschuh, Heimlich und Krawitz (2002, S. 210) folgende Definition:
„Motorik steht als Oberbegriff für die Gesamtheit der Bewegungen des menschlichen Körpers. Bewegung ist der basale und vermittelnde Prozess schlechthin, d.h. Bewegung ist eine unabdingbare Voraussetzung bzw. die einzige Möglichkeit für menschliches Verhalten und Handeln. In allen menschlichen Handlungs- und Verhaltensweisen ist Bewegung, also Motorik, aufgehoben. Bewegung, immer in Verbindung mit dem ganzen Körper, vermittelt Wahrnehmung, den Bezug zur Welt, ist der Schlüssel zum Kognitiven, zu inneren Prozessen verschiedener Art. So lässt sich Motorik auch als Komplex motorischer (die Bewegung betreffend), sensorischer (die Sinnesorgane betreffend), kognitiver (das Denken betreffend) und affektiver (das Fühlen betreffend) Faktoren bzw. Prozesse begreifen.“
In der vorliegenden Arbeit werden, angelehnt an diese Definition, unter dem Begriff Motorik alle Bewegungsabläufe des menschlichen Körpers verstanden, wobei diese Bewegungsprozesse eng mit Sinneswahrnehmungen, Denken und Fühlen zusammenhängen.
Gebräuchlich ist die Unterteilung in Grobmotorik und Feinmotorik. Im Ausdruck Grobmotorik werden die Koordination der Bewegungen, Reaktionsschnelligkeit und Körperstärke zusammengefasst. Unter Feinmotorik wird vor allem die Fingergeschicklichkeit, aber auch die Mimik verstanden. Des Weiteren wird zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Motorik unterschieden. Willkürlich bedeutet, dass eine Bewegung bewusst gesteuert wird. Im Gegensatz dazu besteht die unwillkürliche Motorik aus reflexartigen Bewegungen (vgl. Schaub & Zenke, 1995, S. 252). Reflexe sind also im pädagogischen Verständnis ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Motorik. Dieser Aspekt ist im Hinblick auf die vorliegende Arbeit sehr bedeutsam, da die Reflexbewegungen des Kindes darin besonders berücksichtigt werden.
In der Pädagogik, vor allem hinsichtlich der Entwicklung des Kindes, spielt die Motorik eine überaus wichtige Rolle. Mit zunehmendem Alter entwickeln sich beim Kind Beherrschung und Gebrauch des Bewegungsapparates und diese motorische Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Ausbildung bedeutender geistiger und seelischer Funktionen wie zum Beispiel der Wahrnehmung, der Sprache, dem Denken und dem Fühlen. Mit diesen Zusammenhängen beschäftigen sich vor allem die Psychomotorik, die Motopädagogik und verschiedene ähnliche „pädagogisch therapeutische Methoden, die vor allem von der Möglichkeit ausgehen, motorische, kognitive, soziale und schulische Lernprozesse und therapeutische Zielsetzungen bei Kindern durch eine (systematische) Beeinflussung der Bewegung/Motorik zu fördern“ (Eggert, 1994, S. 18).
Für viele pädagogische „Probleme“ kommen Defizite in der Motorik als Ursache in Frage. Geistig behinderte Menschen weisen oft auch eine motorische Rückständigkeit auf und verhaltensauffällige Kinder zeigen häufig körperlich unbeherrschtes und unkoordiniertes Verhalten (vgl. Böhm, 1994).
Auch im Zusammenhang mit Lehren und Lernen ist es von großer Bedeutung, die motorischen Wechselwirkungen im Körper zu kennen. So lernen und begreifen in etwa nach Eggert (1994) motorische Typen rascher und leichter durch Selbsterfahrung und durch eigene und nachgeahmte Bewegungen. Defizite in der motorischen Entwicklung können zu Lese-, Schreib-, Rechen- oder anderen Lernproblemen führen. Auf diese Aspekte wird im Verlauf dieser Arbeit noch sehr genau eingegangen.
Im allgemeinen Sprachverständnis versteht man unter Defizit einen Mangel, das heißt, es fehlt etwas. In diesem Sinne soll auch der Begriff Entwicklungsdefizite in meiner Diplomarbeit verstanden werden. Den Kindern mit Entwicklungsdefiziten fehlt etwas Wichtiges in ihrer Entwicklung, in diesem Fall in der motorischen Entwicklung. Fehlendes kann aber unter Umständen aufgeholt werden, und das ist der zentrale Unterschied zum Begriff Entwicklungsstörung. Je früher ein Defizit bei einem Kind bemerkt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die fehlenden Entwicklungsschritte nachgeholt werden können. Auch im Hinblick auf die Förderung von Kindern mit Entwicklungsdefiziten scheint diese Unterscheidung bedeutsam zu sein. Der Ausdruck Entwicklungsrückstand wird als Synonym zu Entwicklungsdefizit verwendet.
Klar abgegrenzt werden Entwicklungsdefizite auch vom Begriff Behinderung: „Von einer Behinderung spricht man bei individuellen Beeinträchtigungen eines Menschen, die umfänglich, vergleichsweise schwer und langfristig sind“ (de.wikipedia.org/wiki/Behinderung, 2006). In der vorliegenden Arbeit geht es um grundsätzlich gesunde Kinder, die in bestimmten Bereichen in ihrer Entwicklung Nachholbedarf aufweisen.
Das deutsche Wort Reflex stammt ebenfalls aus der lateinischen Sprache. „Reflexus“ bedeutet „das Zurückbeugen“. Reflexe sind angeborene, unwillkürliche und ungesteuerte Bewegungen, die durch äußere oder innere Reize ausgelöst werden. Einige Reflexe beim Menschen bestehen nur eine bestimmte Zeit, andere üben während der gesamten Lebenszeit wichtige Funktionen aus.
Die Motorik von Babys besteht noch zu einem recht großen Teil aus reflexartigen Bewegungen. Goddard-Blythe (2005, S. 43f.) unterscheidet drei Arten von Reflexbewegungen während der ersten dreieinhalb Lebensjahre des Kindes:
1. Intrauterine Reflexe: Diese entstehen schon in der frühen Schwangerschaft und sind nur aktiv, solange sich das Kind in der Gebärmutter befindet. Es handelt sich dabei um Rückzugsreaktionen vor einem schädigenden Reiz.
2. Primitive Reflexe: Diese Gruppe der Reflexe sind bei der Geburt des Kindes voll entwickelt und werden auch frühkindliche Reflexe genannt. Man versteht darunter „automatische, stereotype Bewegungen, die vom Hirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden. (…) Die Reflexe sind grundlegend für das Überleben des Babys in den ersten Lebenswochen und bilden ein rudimentäres Training für viele spätere willensgesteuerte Fertigkeiten“ (Goddard, 2004, 19). Primitivreflexe nennt man demnach nur Reflexe, die lediglich beim Neugeborenen beziehungsweise jungen Säugling bis zu sechs Monaten vorkommen. Daher werden sie auch als frühkindliche Reflexe bezeichnet. Sie sind die Grundlage der sich später entwickelnden Haltungsreaktionen.
3. Haltungsreaktionen: Dabei handelt es sich um Reaktionen, die bei der Geburt noch nicht bestehen, sondern sich erst im Laufe der ersten drei Lebensjahre bilden. Sie bestehen dann ein Leben lang.
Die drei Gruppen von Reflexen sind nacheinander aktiv. Für kurze Zeit können sie zwar auch gemeinsam wirksam sein, die frühkindlichen Reflexe sollten aber nach und nach gehemmt und durch bewusst gesteuerte Bewegungen und Haltungsreaktionen abgelöst werden. „Für die frühkindlichen Reflexe gibt es einen bestimmten Zeitpunkt der Entstehung und ihrer Herausbildung sowie ein bestimmtes Muster der Reflexunterdrückung. Reflexe erstarken, bis sie ihren Höhepunkt erreicht haben, dann erfolgt allmähliche Unterdrückung“ (Beigel, 2004, S. 84).
Dabei kommt es auch zu einer Änderung der Gehirnaktivität. Anstatt des Hirnstamms werden die Bewegungen nun mehr und mehr durch höhere Zentren im Gehirn mit Beteiligung des Kortex gelenkt. Wenn die einzelnen frühkindlichen Reflexe nicht unterdrückt werden, sie also nach dem sechsten bis zwölften Lebensmonat weiter bestehen, kann dies auf eine unterentwickelte Hirnreifung hinweisen (vgl. Beigel, 2004, S. 83ff.). Auf Probleme, die daraus entstehen, wird im Laufe der Arbeit noch genauer eingegangen.
Der Ausdruck Legasthenie stammt vom lateinischen „legere“ und vom griechischen „asthenia“ und bedeutet wörtlich übersetzt Leseschwäche. Man versteht darunter ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens, wodurch auch die Bezeichnung Lese-Rechtschreibschwäche üblich ist (vgl. Schulte-Körne, 2004, S. 18f.).
Zum Thema Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten gibt es viel Literatur und auch unterschiedliche Definitionen und Sichtweisen der Problematik, was zu einem sehr unübersichtlichen Dschungel von Begriffsverständnissen und auch hitzigen Diskussionen führt. Von manchen Autoren wird heute noch bezweifelt, dass es Legasthenie überhaupt gibt. Allerdings sind diese inzwischen in der...