In jeder Gesellschaft werden Frauen und Männern gemäß ihrer offensichtlichen biologischen Unterschiede differenzierte soziale Rollen zugeordnet. (vgl. Haeberle, E., 2005, S. 143) Im vorliegenden Zusammenhang wird Rolle als Gesamtheit von Verhaltensregeln, Leitlinien und Vorschriften, die das geschlechtsspezifische Verhalten einer Person bestimmen, verstanden. Es handelt sich bei diesen Vorgaben selten um konkrete Hinweise, sondern eher um Bekräftigungen und –mehr oder weniger verdeckt- Erwartungen und Wünsche, die die Einstellungen und das Verhalten formen. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 70)
Es werden somit zu den natürlichen Unterschieden zusätzliche, kulturell und sozial bestimmte, Unterscheidungen zugefügt. Die natürlichen Unterschiede werden benutzt, um die sozialen Unterschiede zu definieren, die dann zu natürlichen Geschlechtsunterschieden erklärt werden. Es entsteht ein Kreislauf, der gesellschaftlich wirksam ist. (vgl. Haeberle, E., 2005, S. 63ff)
Schon bei der Geburt beginnt unmittelbar nach der Geschlechtsbestimmung die Entwicklung der Geschlechtsrolle mit dem Vornamen oder einer blauen oder rosa Decke. Elterliche Zuweisungen verdeutlichen diese Rolle durch Zärtlichkeiten, Bestrafungen, Spiele, Spielzeuge, Kleidung, Haartracht, Bücher, Möbel, Schmuck u.s.w. Kinder lernen innerhalb der ersten Lebensjahre sich selbst als männlich oder weiblich zu identifizieren, und nehmen dann meistens das maskuline oder feminine Verhalten an. (vgl. Haeberle, E., 2005, S. 63ff)
In der frühen Kindheit sind Erziehungsunterschiede weniger deutlich ausgeprägt als in der späten Kindheit, doch lassen sich schon im Kindergarten unterschiedliche geschlechtsspezifische Einflussnahmen nachweisen. Im Kleinkind- und Kindergartenalter erfahren Jungen eine höhere Kontrolle und Beachtung des geschlechtsangemessenen Verhaltens, als Mädchen. Forschungsergebnisse belegen, dass auf Jungen besonders von der väterlichen Seite erheblich mehr Druck zum geschlechtsangemessenen Verhalten ausgeübt wird, als auf Mädchen. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 70ff)
Oft wird von den Eltern eine homosexuelle Entwicklungsrichtung befürchtet, wenn die Söhne weinen, sich nicht wehren oder zuviel Weichheit und Nachgiebigkeit an den Tag legen, sich also untypisch verhalten. Geschlechtsunangemessenens Verhalten wird hier nicht selten sogar bestraft. Im Kindergarten können die Jungen mit Spot und Missbilligungen rechnen, wenn sie zum Beispiel mit Puppen spielen. Mädchen werden dabei mit wesentlich mehr Toleranz und Nachsicht behandelt, wenn diese sich mit Autos oder technischem Spielzeug beschäftigen. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 70f)
Schon bei der Kinderzimmereinrichtung, dem Spielmaterial und den Beschäftigungsbereichen zeichnen sich deutliche Unterschiede ab. Eltern bringen oft unbewußt ihre geschlechtsspezifischen Erwartungen durch das zur Verfügung gestellte unterschiedliche Spielmaterial zum Ausdruck. Während in einem typischen Mädchenzimmer häufiger Spielzeug aus dem Haushaltsbereich anzutreffen ist, findet sich in einem typischen Jungenzimmer eher Spielzeug mit der Tendenz weg vom Haus wie zum Beispiel Fahrzeuge aller Art, technisches Spielzeug und Werkzeug. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 72)
Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich nicht nur in der von den Eltern zugewiesenen Kleidung, sondern auch bei der Mithilfe bei kleineren Verrichtungen. Mädchen werden dazu angeregt, der Mutter im Haushalt zu helfen und Jungen helfen häufiger dem Vater bei handwerklichen oder technischen Arbeiten. Außerdem sind viele Eltern der Ansicht, dass Töchter mehr liebevolle Zuwendung und Wärme benötigen, als Jungen. In emotionaler Hinsicht kommen Jungen dabei häufig zu kurz und oft bleibt ihre Einfühlung, ihr Verständnis für zwischenmenschliche Belange und auch ihre Beziehungsfähigkeit unterentwickelt. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 74ff)
Im konkreten Alltag tragen neben den Eltern das gesamte Umfeld sowie die allgegenwärtigen Medien zur Geschlechtsrollensozialisation von Jungen und Mädchen bei.
Einfluss der Medien durch klischeehafte Darstellung
Jungen werden in den Medien häufig als Helden dargestellt, die Abenteuer erleben, sie verhalten sich mutig und unabhängig. Mädchen bleiben fast unsichtbar im Hintergrund und schauen bewundernd zu ihnen auf. Sie übernehmen die Rolle der Prinzessin, die einfach nur schön aussieht. Mädchen werden meist als schwache, hilfsbedürftige, ängstliche und fügsame Geschöpfe beschrieben. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 77)
Das Bundesministerium für Frauen und Jugend fand 1995 auch in neueren Bilderbüchern folgendes heraus:
1. Mädchen spielen in Bilderbüchern nur zu ca. 10 % die Hauptrolle und sind damit deutlich unterrepräsentiert
2. Sie werden als passiv, schwach und hilflos und Jungen als aktiv, stark und intelligent dargestellt
3. Dargestellte Jungen unternehmen wesentlich mehr und verhalten sich einfallsreicher und selbstbewußter als Mädchen
Das gilt für Bücher aller Art, so zum Beispiel für Sagen, Märchen, Phantasiegeschichten, Tiergeschichten, Biographien, teilweise sogar für Sachbücher. Die Geschlechterrollenklischees finden sich auch in Schulbüchern wieder. Das traditionelle Frauenbild steht auch in neueren Büchern als unsichtbare Leitlinie hinter den meisten Darstellungen. Zur typisch weiblichen Rolle gehört das Ein- und Unterordnen, das Entgegennehmen von Anweisungen, Wünschen, das Eingehen auf Ansprüche und Erwartungen der Männer. Der typische Mann schöpft seine Befriedigung aus Taten und Leistungen, er ist orientiert auf die Welt der Technik und Wissenschaft. Doch nicht nur Bücher, sondern auch das Fernsehen haben einen starken Einfluss auf die Geschlechtsrollenentwicklung. Hier bestehen kaum Unterschiede zum Medium Kinderbücher, obwohl das Medium Fernsehen in technischer Hinsicht wesentlich moderner ist. Das Fernsehen verwendet fast durchgängig die traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 78ff)
Die seit Jahrzehnten zu verzeichnenden Emanzipations- und Frauenbewegungsaktivitäten führten in einigen Bereichen der Gesellschaft zu einem Abbau der Diskriminierung und zu einer Angleichung der Geschlechterrollen. Trotzdem bleibt gerade das in Kinderbüchern dargestellte konventionelle Frauen- und Männerbild hartnäckig bestehen. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 81)
Geschlechtsunterschiede werden aber nicht erst durch einen Akt sozialer Konstruktion erschaffen, es werden schon zu Beginn des Lebens Weichen zur Polarisation gestellt. (vgl. Bischof-Köhler, D., 2006, S. 105)
Die biologischen Geschlechtsunterschiede bilden sich in einer Folge aufeinander aufbauender, zeitlich festgelegter Schritte aus. Schon mit der Zeugung wird das genetische Geschlecht durch die Vereinigung von Samenzelle und Eizelle festgelegt. (vgl. Kasten, H., 2003, S. 15) Bei den Menschen tragen alle Körperzellen einen doppelten Chromosomensatz mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen. Diese weisen bei Männern die Kombination XY und bei Frauen XX auf. Eizellen sind immer vom Typ X, Spermazellen können aber X oder Y sein. Der Vater entscheidet also darüber, ob ein Sohn oder eine Tochter entsteht. Hierbei können auch Fehlentwicklungen entstehen. Es gibt Individuen die nur ein X-Chromosom haben, eine XXY-Kombination oder drei oder mehrere X-Chromosomen. Ist mindestens ein Y-Chromosom vorhanden, verläuft die Entwicklung in die männliche Richtung. (vgl. Bischof-Köhler, D., 2006, S. 178f)
Es lassen sich bereits bei der unterschiedlichen Zusammensetzung des Geschlechtschromosomenpaares Geschlechtsunterschiede ableiten. Diese Unterscheidung liegt hauptsächlich am X-Chromosom, da hier die genetischen Grundlagen für eine Reihe von Merkmalen sitzen. Ob das X-Chromosom nur einfach (bei Männern) oder in doppelter Anzahl (bei Frauen) vorhanden ist, macht natürlich einen Unterschied. Denn bei Männern ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher, dass die rezessive Variante (nicht in Erscheinung tretende Variante) eines solchen Merkmals das Erscheinungsbild bestimmt. Deshalb tritt die Bluterkrankheit oder Farbenblindheit auch häufiger bei Männern auf. Bei Frauen stellt sich ein Kompromiss zwischen den beiden X-Chromosomen ein, wodurch Extreme bei Frauen seltener zu finden sind, als bei Männern. Bei Männern kommen in diesem Zusammenhang einerseits mehr extreme Minderbegabungen aber auch häufiger Höchstbegabungen vor, als bei Frauen. Aufs Ganze gesehen sind diese Unterschiede aber marginal. (vgl. Bischof-Köhler, D., 2006, S. 178f)
Geschlechtstypische Verhaltensunterschiede sind biologisch hauptsächlich auf die Wirkung des Hormons Androgen. Dies zeigen Tierversuche, aber auch Befunde am Menschen.
In der ersten Zeit der Befruchtung entwickeln sich die Geschlechtsorgane gleichsinnig. Erst ab der siebten Woche induziert ein bestimmtes...