Die Vorstellung, dass Entscheidungen in Medizin und Gesundheitswesen durch Beweise gerechtfertigt werden sollten, existiert nicht erst durch das Konzept der Evidence- based Medicine (EbM)[30], sondern reicht bis an den Anfang der modernen wissenschaftlichen Medizin zurück.
Mitte des 19. Jahrhunderts führte Pierre Louis die statistische Analyse ein, um Behandlungsformen hinsichtlich ihrer Effektivität zu evaluieren und erbrachte so unter anderem den Beweis, dass der Aderlass[31] eine nutzlose Therapie ist (vgl. Weatherall, zitiert nach Greenhalgh, 2000, S. 12). Dennoch dauerte es noch hundert Jahre, bis die Ergebnisse von Experimenten, epidemiologischen und klinischen Studien auch eine Wirkung auf die medizinische Praxis erzielten. Maßgeblichen Anteil daran hatte eine Gruppe britischer Epidemiologen um Austin Bradford Hill und später Richard Doll, die in den 1950er Jahren mit der bahnbrechenden Studie „Mortality in relation to smoking“ begannen. Sie untersuchten den Zusammenhang von Rauchen und Krebs bei 40.000 britischen Ärzten über einen Zeitraum von über 40 Jahren und gelangten zu der Erkenntnis, dass Rauchen Krebs verursachen kann (vgl. Greenhalgh, 2000, S. 67).
Durch Herausbildung der klinischen Epidemiologie[32] wurden zunehmend statistische Untersuchungen zur Beantwortung einer klinischen Fragestellung durchgeführt, was wiederum eine wesentliche methodische Voraussetzung für die Entwicklung der EBM gewesen ist.
Evidence- based Medicine ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, klinische Entscheidungen durch die Berücksichtigung von Studienergebnissen besser abzusichern. Für die Entscheidungsfindung wird für gewöhnlich keine eigene Studie durchgeführt, da heute ein riesiges, kaum zu überblickendes Angebot an wissenschaftlicher Information besteht.
Lauterbach und Schrappe (2004, S. 60) stellen fest, dass das Überangebot an wissenschaftlicher Information „eine Folge der leichten Verfügbarkeit medizinischer Fachliteratur durch die elektronischen Medien seit dem Ende der 80er Jahre“ ist. Nach Lauterbach & Schrappe (2004, S. 40) werden weltweit jährlich 2 Millionen Artikel in über 25.000 bio- medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Durch elektronische Literaturdatenbanken[33], auf die man über das Internet zugreifen kann, wird diese enorme Zahl an Publikationen erfasst. Sie katalogisieren aus einer Vielfalt von Studien in entsprechenden Fachzeitschriften und sind die wichtigste methodische Voraussetzung für die Entwicklung von EbM. Durch die Nutzung elektronischer Literaturdatenbanken können Ärzte, Therapeuten und andere Personen, die eine bestimmte Fragestellung untersuchen, schnell und unkompliziert nach wissenschaftlichen Informationen suchen.
Die Methode der Evidence- based Medicine entstand auch deshalb, weil eine hohe Qualität der Studien nicht immer gewährleistet ist. So kommt es häufig vor, dass mehrere Studien eine gleiche Fragestellung bearbeiten, aber zu unterschiedlichen bis vollkommen gegensätzlichen Ergebnissen kommen. Auch Übersichtsartikel zur Zusammenfassung mehrerer Studien, die auch als Reviews bezeichnet werden, können methodische Fehler aufweisen und sind daher nicht immer repräsentativ (vgl. Greenhalgh, 2000, S. 143-50). Eine Übertragung von Studienergebnissen auf die Praxis kann erst erfolgen, nachdem die Studie durch Anwendung von EbM einer kritischen Beurteilung unterzogen worden ist.
Zum Beispiel herrscht in der sportwissenschaftlichen und –medizinischen Literatur Einigkeit über die Bedeutung von allgemeiner körperlicher Aktivität für die Therapie von chronischen Rückenschmerzen. Die Ergebnisse von Studien über die Wirksamkeit von Rückenschulprogrammen sind dennoch recht unterschiedlich, was durch verschiedene Übersichtsarbeiten belegt wird (vgl. u.a. Koes, van Tulder, van der Windt & Bouter, 1994, S. 851-62).
Der Fortschritt auf den Gebieten der Medizin, Molekularbiologie oder der Chemie seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat zur Entwicklung zahlreicher neuer Möglichkeiten der Patientenbehandlung geführt. Parallel dazu hat sich die angewandte Forschung herausgebildet, die durch statistische Analyse die neuen Formen von Vorsorge, Diagnose oder Therapie untersucht (vgl. Davidoff, Haynes , Sackett & Smith, 1995, S. 1085).
Die Vielzahl an Studien, Untersuchungen, Experimenten und sonstigen Forschungsarbeiten wird durch die Methode der Evidence- based Medicine kritisch beurteilt. Nach Sackett, Rosenberg, Gray, Haynes und Richardson (1996, S. 71) sollen die Beweise aus Studien immer bewusst, explizit und abwägend gebraucht werden und so zum Prozess der Entscheidungsfindung in der klinischen Praxis beitragen.
Schrappe und Lauterbach (S. 61) fassen den Ursprung der Evidence- based Medicine durch die folgenden Punkte zusammen:
Überfluss an wissenschaftlicher Information,
unklare Validität von Studien und widersprüchliche Studienergebnisse,
Reviews mit fragwürdiger Repräsentativität,
höhere methodische Anforderungen an Studien -> erschwerte Beurteilbarkeit,
fragliche Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf den klinischen Alltag.
Obwohl die Wurzeln bis in die Mitte des 19. Jh. zu den Studien von Louis zurückreichen ist die Evidence- based Medicine eine recht junge Methode. Die Durchführung von Studien nahm erst nach dem zweiten Weltkrieg zu und der erleichterte Zugang zu diesen Informationen als methodische Voraussetzung für die Anwendung wurde ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Errungenschaften der Informationstechnologie wie elektronische Datenbanken und das Internet möglich.
Evidence- based Medicine (EbM) ist eine Methode, die Ärzte und andere Berufsgruppen, die mit der Behandlung von Patienten zu tun haben, anwenden, wenn sie eine Entscheidung über die jeweilige Behandlungsform eines Patienten treffen.
In diesem Abschnitt wird genauer erläutert, wofür EbM steht und warum diese Methode so gut wie alle Handlungen eines Arztes, einer Krankenschwester oder eines Therapeuten beeinflussen sollte.
Der Arzt oder ein anderer Therapeut haben die Aufgabe, über den Umfang der Behandlung eines Patienten zu entscheiden. Diese Entscheidung kann nicht intuitiv oder ausschließlich aufgrund von Erfahrung getroffen werden, sondern muss wohlüberlegt sein und den wissenschaftlichen Erkenntnisstand berücksichtigen. Bevor eine Entscheidung getroffen wird, ist eine Suche nach wissenschaftlicher Information notwendig, die einen vernünftigen Beweis für die Wirksamkeit der Behandlung liefert. Beispielsweise sollte ein Arzt einem Patienten kein Medikament verschreiben, wenn es keine eindeutige Beweise für dessen Wirksamkeit gibt (vgl. Greenhalgh, 2000, S. 20).
Evidence- based Medicine steht für den Prozess der Entscheidungsfindung auf der Grundlage vorliegender wissenschaftlicher Beweise.
Sackett et al. (1996, S. 71) definieren EbM in einem häufig zitierten Artikel des British Medical Journal als bewussten, expliziten und abwägenden Gebrauch der gegenwärtig verfügbaren Beweise, um Entscheidungen über die Behandlung individueller Patienten zu treffen.
Nach Guyatt (2004, S. 990) wird die Entscheidungsfindung in der medizinischen Praxis nicht mehr allein durch die unsystematische klinische Erfahrung, sondern auch durch die Suche nach best evidence aus der klinischen Forschung beeinflusst.
Die Anwendung von EbM bedeutet, Beweise bzw. wissenschaftliche Studien, die eine bestimmte Fragestellung beantworten, zu selektieren und nach definierten Kriterien zu bewerten. Die wissenschaftliche Erkenntnis, zu der man durch die Bewertung der Studien gelangt, wird in Form medizinischer Entscheidungen in die Praxis übertragen.
Im Sinne der Definition von Sackett et al. (1996, S. 71) soll durch EbM eine Entscheidung über die Behandlung individueller Patienten getroffen werden. Demnach wird alles, was mit dem Patienten zu tun hat, „dazu führen, dass Sie nach wissenschaftlichen Beweisen fragen, Antworten auf diese Fragen systematisch suchen und Ihr Vorgehen in der Praxis dementsprechend ändern werden“ (Greenhalgh, 2000, S. 17).
Eine bestimmte Behandlungsmethode, eine Diagnose oder die Verschreibung eines bestimmten Medikaments kann in der Regel nicht ohne die Anwendung von EbM erfolgen.
Die Methode der EbM erfordert nach Guyatt (2004,...