Schmelztiegel oder Hexenkessel?
Juden und Antisemiten im Wien der Jahrhundertwende
Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, möchte ich gleich zu Anfang feststellen, daß ich ein unverwechselbares Produkt der Gesellschaft bin, die ich kritisch zu betrachten mich anschicke. Selbst der Wortschatz leitet sich von der Wiener Kultur um die Jahrhundertwende her, in der sich die österreichischen, deutschen und jüdischen Elemente bis zur Unauflöslichkeit vermischten. Alles das bestimmt meine Perspektive.
Außerdem bin ich nicht als Experte jüdischer Geschichte zu den Problemen gelangt, die uns hier beschäftigen, sondern von einer ganz anderen Seite her. Als Lehrer österreichischer Literatur habe ich nämlich sehr bald die unvermeidliche Entdeckung gemacht, daß im Wien der Jahrhundertwende der jüdische Anteil am literarischen, publizistischen, intellektuellen und allgemein kulturellen Leben so überwältigend war, daß es einfacher ist, die nichtjüdischen Figuren von Rang aufzuzählen als die jüdischen. Diese jedes Normalmaß weit hinter sich lassende Überrepräsentation drängte mich in historische und soziologische Nachforschungen, deren Resultate ich vorlegen möchte.[1]
Zunächst muß aber von der Besonderheit und Bedeutsamkeit dieses österreichischen Milieus die Rede sein. Selbstverständlich unterscheidet es sich nicht in jedem einzelnen Charakterzug von den übrigen europäischen Gesellschaften, insbesondere nicht vom Deutschen Reich, das aus sprachlichen Gründen Verwandtschaften mit Österreich aufzuweisen hat, einschließlich des ähnlich konstituierten jüdischen Faktors. Es bleiben aber zahlreiche und gleichzeitig wesentliche Aspekte übrig, durch die sich Österreich von den übrigen europäischen Staaten unterscheidet und zum lehrreichen Beobachtungsfeld wird. Mehr noch: durch bestimmte historische Umstände erhebt sich Österreich zum Paradigma für die gesamteuropäische Entwicklung, zum Kampfplatz sozialer Mächte, in deren Zusammenprall sich die Zukunft abzeichnet und aus deren Analyse sich wichtige Erkenntnisse gewinnen lassen.
In einem dem jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur gewidmeten Aufsatz schrieb ein Historiker, er «habe die Bedeutung des Wortes ‹deutsch› auf jene beschränkt, die im Deutschen Reich geboren wurden oder größtenteils gewirkt haben. Eine umfassendere Definition zugrunde legen, die deutschsprechende Juden des ganzen unter dem Ausdruck ‹deutscher Kulturbereich› verstandenen Gebiete miteinschlösse, hieße [seine] These verwässern. Offenkundig waren österreichische und tschechische Juden, Werfel und Schnitzler, Karl Kraus und Sigmund Freud, von unermeßlicher Wichtigkeit, und zwar nicht etwa für Österreich-Ungarn allein. Aber sie lebten und schufen unter Bedingungen, die sich von denen ihrer deutschen Glaubensgenossen radikal unterschieden. […] Und so habe [er] sie, wenn auch zögernd, unberücksichtigt gelassen.»[2] Ich sehe die Aufgabe nun gerade darin, diese so andersartigen Bedingungen zu ergründen.
Das erste ins Auge springende Merkmal der Monarchie war das Multinationale. Tschechen und Deutsche, Ungarn und Slowaken, Kroaten und Slowenen, Polen und Serben, Italiener und eben auch Juden lebten da nebeneinander, keinesfalls friedlich, aber immerhin unter einer zentralen Verwaltung und durch tausenderlei Fäden miteinander verknüpft. Was sie alle zusammenhielt, war ein dynastischer Staat uralter Prägung, ein erratischer Block in einer bereits nach ganz anderen Gesetzen sich entwickelnden Welt, Überbleibsel einer feudalen Vergangenheit, mit einer teils verknöcherten, teils undurchschaubaren Gesetzgebung, einer von vielen für irrational gehaltenen Organisation. Dazu kam, daß dieser Vielvölkerstaat ewig seine Form und Ausdehnung änderte, und man stets umlernen mußte, was zu ihm gehörte und was nicht. Kein Wunder, daß in einem Jahrhundert, in dem der Begriff der Nation mehr und mehr in den Vordergrund trat, Denker und Dichter immer wieder die Suche nach der Identität dieses Staates initiierten, daß allenthalben der Ruf «Was ist Österreich?» ausgestoßen wurde, nicht etwa als Frage, auf die eine Antwort erteilt werden konnte, sondern als Verzweiflungsschrei. Daß dieser gespaltene, durch ein verfilztes Verwaltungsnetz mühselig zusammengehaltene Staat sich länger als die anderen west- und mitteleuropäischen Länder gegen die neuen Mächte wehrte, die unter dem Namen Modernisierung zusammengefaßt werden können, läßt sich leicht einsehen. Und als dann die unvermeidliche industrielle Revolution und das ihr entsprechende Wirtschaftssystem endlich auch die Donaumonarchie ergriffen, glich der Zusammenstoß des Neuen mit dem Alten einer veritablen Explosion. So gewaltsam war das Aufbersten dieser Gesellschaft, daß man es mit einer Nova verglichen hat – eine glückliche Metapher, die sowohl der ungezähmten Wildheit wie auch der blendenden Schönheit des Vorgangs Rechnung trägt.
An diesem Prozeß waren nur, im Gegensatz zu anderen Staaten wie etwa Frankreich und Deutschland, große jüdische Volksmassen beteiligt, besonders nach der Einverleibung von Ungarn und Galizien in die Monarchie. Durch diese rein dynastische Regelung gerieten sie in den großen Wirbel. Ehe sie wußten, wie ihnen geschah, wurden sie mit unvorstellbarer Wucht in die westliche Zivilisation und die moderne Welt sozusagen hineingeschleudert. Das Resultat war auf der einen Seite die Zerstörung der alten, mehr oder weniger statischen ostjüdischen Kultur[3] und auf der anderen ein Antisemitismus von ungeahnter Virulenz. Die Keime des modernen, dem Hochkapitalismus entsprechenden Judenhasses sind überall in Europa anzutreffen; dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich bleibt die zweifelhafte Auszeichnung, die Wiege eines ganz neuartigen Antisemitismus gewesen zu sein, sozusagen das Laboratorium eines sozialen Experiments.
Ich fasse bereits vorwegnehmend zusammen, daß durch alle diese in anderen Ländern entweder nicht vorhandenen oder unvollständig ausgebildeten Umstände Österreich die moderne Entwicklung zerstörerischer erlebt hat und daß auch das weitere Schicksal der Juden sich hier mit erschreckender Deutlichkeit zu erkennen gibt. Ich betrachte es durchaus als folgerichtig, daß sowohl Hitler wie Herzl von hier ihren Ausgang genommen haben.
Ehe ich aber dieses jüdische Schicksal genauer betrachte, muß ich die Zeit und den Ort der Untersuchung näher begründen. Die Epoche um 1900 habe ich nicht willkürlich gewählt. Die Jahrhundertwende bietet sich aus inneren Gründen als prägnanter Moment an, von dem aus sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft plausibel aufgerollt werden können. Noch hielt diese im Innern gärende Welt zusammen. Noch vermochten die Völker und ethnischen Minderheiten im gleichen Raum nebeneinander zu bestehen, nicht in harmonischem Einverständnis, aber immerhin in einem gewissen, wenn auch noch so prekären Gleichgewicht. Schon waren die Anzeichen späterer Katastrophen den Einsichtigen erkennbar, für die Mehrzahl waren sie aber noch durch das ganze vielbesungene erotisch-sybaritische Leben, durch die Pracht und kulturellen Herrlichkeiten der Hauptstadt überglänzt. Denn daß es in dieser zentrifugalen Gesellschaft auf die Kaiserstadt ankam, daß hier das scheinbar ruhende Zentrum des Sturms war und die in alle Richtungen laufenden Fäden noch zusammenhielten, bedarf keiner weitausholenden Begründung. Der jüdische Werdegang in dieser Epoche ergibt sich aus der dialektischen Spannung zwischen Wien und den östlichen Provinzen, und wir werden den Blick auf beide zu richten haben. In manchen Hinsichten weisen natürlich Prag und Budapest ähnliche Züge auf, zu seiner vollen Entfaltung kommt das Syndrom aber nur in Wien.
Wir sind davon ausgegangen, daß um die Jahrhundertwende eine ungewöhnliche Konzentration jüdischen Talents in Wien stattgefunden hat. Um eine Ahnung von dem kulturellen Reichtum zu vermitteln, will ich einige der wichtigsten Namen der in dieser Stadt wirkenden Juden aufzählen, auf einige charakteristische Kategorien beschränkt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. An Schriftstellern und Journalisten lebten und arbeiteten in der dem Ersten Weltkrieg vorangehenden Zeit in der Reichshauptstadt: Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Stefan Zweig, Felix Salten, Joseph Popper-Lynkeus, Karl Kraus, Theodor Herzl, Hermann Broch. Hugo von Hofmannsthal müßte man hier nicht nennen, da man sich sonst dem Verdacht aussetzte, die Nürnberger Gesetze anzuerkennen, wenn er nicht seine ganze soziale Stellung den kommerziellen Leistungen und der auf ihnen beruhenden Nobilitierung seines jüdischen Urgroßvaters verdankt hätte.
Es ist oft betont worden, daß das jüdische Bürgertum Wiens einen ungemein rezeptiven Resonanzboden für kulturelle Leistungen und intellektuelle Neuerungen abgab. Die großen Zeitungen befanden sich in jüdischen Händen. Moritz Benedikt war Herausgeber der Neuen Freien Presse, Moriz Szeps derjenige des Wiener Tagblatts, beides Organe des österreichischen Liberalismus, die liberales Gedankengut verbreiteten und liberale Interessen vertraten. Vielleicht ist es...