Nach wie vor setzen Politiker und Entscheidungsträger auf Werte wie familialer Zusammenhalt und intergeneratives Verantwortungsbewusstsein, wenn es um die Frage nach Lösungskonzepten für die Bewältigung der Herausforderungen geht, welche der erwartete Anstieg der pflegebedürftigen Älteren um das Anderthalbfache bis zum Jahr 2020 mit sich bringt: „Die Bedeutung von Familie und weiteren privaten Netzen für die Unterstützung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen ist unbestritten.... Es sind nach wie vor die näheren Angehörigen, die Unterstützung und Betreuung leisten.“ beschreibt der Fünfte deutsche Altenbericht die Situation bzgl. der Versorgung pflegebedürftiger Menschen (s. Fünfter Altenbericht, 2005, 314).
Auf welchen Fakten der inzwischen in der öffentlichen Diskussion etablierte Begriff der „Familie“ als „größtem Pflegedienst der Nation“ tatsächlich gründet, soll im Folgenden näher erläutert werden.
Innerhalb der jüngeren Fachliteratur werden unter dem Begriff „pflegender Angehöriger“ nicht nur Familienangehörige bzw. enge Bezugspersonen verstanden sondern auch Nachbarn, Freunde und andere Personen, die in die Pflege involviert sind. Entgegen dieser Entwicklung wird im Folgenden der Begriff des „pflegenden Angehörigen“ jedoch nur auf Menschen bezogen, die in einer engeren emotionalen Verbindung mit dem Pflegebedürftigen stehen. Diese Eingrenzung erfolgt auf dem Hintergrund der Forschungsfrage nach den Konsequenzen eines Eintritts ins Heim für die Angehörigen, die den Betreffenden zuvor zuhause versorgt haben. Hier ist eine Differenzierung zwischen Personen, die dem Pflegebedürftigen nahestehen und Personen, die lediglich marginal am Pflegearrangement beteiligt sind, obligat. Aus der Begriffsdefinition aufgrund der emotionalen Verbindung mit dem Pflegebedürftigen resultiert, dass diese Bezeichnung auch für Betroffene verwendet wird, deren Angehörige in einer stationären Einrichtung wohnen. Dies geschieht auch aus einem Verständnis des Pflegebegriffs heraus, der Pflege nicht ausschließlich als reduziert auf grund- und behandlungspflegerische Tätigkeiten begreift, sondern Aufgabenbereiche wie Beziehungspflege, Aufrechterhaltung von Kontakten, Vertretung von Interessen und Anliegen etc. bewusst impliziert. Wenn im Zusammenhang mit Untersuchungen bzw. Studien die Bezeichnung „pflegende Angehörige“ verwendet wird, folgt die Eingrenzung des Begriffs den Definitionskriterien der jeweils zitierten Erhebung. Diese basiert in vielen Fällen, wie z.B. in den MuG-Untersuchungen, auf einer Selbsteinschätzung der Befragten.
Derzeit haben ca. 1,2 Millionen Menschen in Deutschland die Verantwortung für eine pflegebedürftige Person übernommen. Von ihnen betreuen etwa 36 % den Pflegebedürftigen als einzige Hauptpflegeperson. 29 % der Pflegenden teilen sich ihre Aufgabe mit einer weiteren Person und 27 % der Unterstützungsbedürftigen werden von drei oder mehr Personen versorgt (vgl. Meyer, 2006, 21).
Die Dauer einer Pflegebeziehung ist mit durchschnittlich 8,2 Jahren ab Beginn der ersten relevanten Unterstützungsleistungen relativ hoch. Das bedeutet, dass Pflegende häufig über einen langen Zeitraum die Belastungen der Pflegesituation bewältigen.
Oftmals befinden sich die Pflegenden selbst schon im höheren Lebensalter. Über 32 % der pflegenden Angehörigen haben das 65. Lebensjahr überschritten. Das bedeutet, dass viele Menschen in einem Alter die Verantwortung für einen Pflegebedürftigen übernehmen, in dem sie selbst schon ein erhöhtes Erkrankungs- bzw. Pflegerisiko tragen.
Die größte Gruppe unter den Pflegenden ist die mittlere Generation der 45-64-Jährigen mit einem Anteil von 48 %. Lediglich ca. 16% der Pflegepersonen sind jünger als 45 (vgl. Meyer, 2006, 21).
Eine Generationenzuordnung der pflegenden Angehörigen lässt sich auch hinsichtlich des Lebensalters der Gepflegten vornehmen: Während bei 60-79-Jährigen vorwiegend die Ehepartner im Bedarfsfall tätig werden, sind es bei den über 80-Jährigen vorwiegend Töchter und Schwiegertöchter, die Pflege leisten (Hagen, 2001, 96-97).
Die Rolle des pflegenden Angehörigen setzt nicht unbedingt voraus, im gleichen Haushalt mit dem Pflegebedürftigen zu leben. Viele Pflegende leisten Unterstützung und Betreuung trotz räumlicher Distanz, was spezifische Vor- und Nachteile impliziert. Allerdings lässt sich feststellen, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Pflegebeziehungen eine gewisse räumliche Nähe gegeben ist: Ca. 70 % der pflegenden Angehörigen leben in häuslicher Gemeinschaft mit dem Pflegebedürftigen. Weitere 14 % leben bis zu 10 Minuten entfernt und lediglich 16 % nehmen ihre Pflege- und Unterstützungsaufgaben aus größerer Entfernung wahr (MuG III, 2005, 76). Die Anzahl der Pflegebeziehungen mit einer größeren räumlichen Distanz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der steigenden Mobilität innerhalb unserer Gesellschaft künftig weiter zunehmen.
Ein interessanter Aspekt bezüglich familialer Pflege stellt ihre Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit dar: „In der Unterschicht ist die Pflegebereitschaft noch weit verbreitet. Im liberal-bürgerlichen Milieu hingegen nimmt sie allmählich ab.“ (s. Fröhlingsdorf, 2005, 88). Pflegende mit einer niedrigeren Schichtzugehörigkeit nehmen auch weniger außerhäusliche Hilfe bei ihrer Pflegetätigkeit in Anspruch als Angehörige höhergestellter Milieus (vgl. Hagen, 2001, S. 103). Als eine mögliche Ursache hierfür werden neben schichtspezifischen Wertvorstellungen auch materielle Aspekte vermutet. So haben z.B. Geringverdiener weniger finanzielle Einbußen als Besserverdienende, wenn sie zugunsten der Pflegetätigkeit ihren Arbeitsplatz aufgeben. Auch zeitliche Kriterien spielen hierbei eine Rolle, da z.B. ein arbeitsloser Angehöriger über größere zeitliche Ressourcen verfügt und die Pflegetätigkeit zudem evtl. auch als sinnstiftende, tagesstrukturierende Aufgabe begreift. Die höhere Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern wird auch als Begründung für das Phänomen herangezogen, dass dort vergleichsweise mehr Männer in häuslichen Pflegesituationen aktiv sind (vgl. Niejahr, 2007, 22).
Obwohl sich der Männeranteil unter den pflegenden Angehörigen insgesamt von 17 % zu Beginn der 90er Jahre auf 27 % merklich erhöht hat, sind Frauen innerhalb der Pflege immer noch deutlich überrepräsentiert (vgl. MuG III, 2005, 90). Manche Studien beobachten die Tendenz, dass infolge der Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit die Pflege durch Töchter und Schwiegertöchter leicht rückläufig ist. Ihre Position wird dann häufig durch Personen ausgeglichen, die in ihrer fehlenden bzw. geringen Beschäftigung einen Anreiz für die Pflegeübernahme sehen (vgl. Meyer, 2006, 23). Allerdings rangieren Töchter bei den Hauptpflegepersonen nach den Ehepartnern mit 25 % immer noch auf dem zweiten Platz, so dass ihre Präsenz in häuslichen Pflegesettings nach wie vor erheblich ist (vgl. MuG III, 2005, 77). Bei der Betreuung von Angehörigen mit Demenz ist die ungleiche Verteilung der Geschlechter in Bezug auf die Pflegeaufgaben sogar noch signifikanter. Wenn Männer in der häuslichen Pflege aktiv werden, sind es vorwiegend ihre Ehefrauen, deren Pflege sie übernehmen (vgl. Meyer, 2006, 22). Auch die Form, wie Männer sich an Pflege beteiligen, unterscheidet sich deutlich von den Aufgaben, die Frauen übernehmen. Während Frauen überwiegend in die „direkte“ Pflege, also auch Körperpflege und Hauswirtschaft involviert sind, übernehmen Männer häufiger Funktionen des „Pflegemanagements“, d.h. die Organisation von Pflege. Als Hintergrund dieses Phänomens wird das traditionelle Rollenverständnis vermutet, das in Pflegesituationen noch besonders evident ist: „In kaum einem anderen Lebensbereich wirken klassische Rollenerwartungen an Männer und Frauen so unwidersprochen fort wie bei der Pflege.“ (s. Niejahr, 2007, 22).
Zusammenfassend lässt sich aus den o.g. Zahlen schließen, dass infolge des demografischen Trends sich das Lebensrisiko „Pflegebedürftigkeit“ zunehmend zum „erwartbaren Regelfall im Familienzyklus“ entwickelt, der jeden betreffen kann (vgl. Fröhlingsdorf u.a., 2005, 87). Pflegebedürftigkeit innerhalb der Familie verliert seinen Ausnahmestatus und wandelt sich vermehrt zu einer Entwicklungsaufgabe, die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Obwohl sich inzwischen auch Veränderungen abzeichnen, werden die Herausforderungen, welche dieses Lebensereignis mit sich bringt, nach wie vor überwiegend mit z.T. großem Engagement innerhalb des familialen Netzwerks bewältigt. Angesichts dieser deutlichen Pflege- und Unterstützungsbereitschaft erweist sich der Begriff der Familie als „größtem Pflegedienst der Nation“ als durchaus adäquates Bild in Bezug auf die aktuelle Pflegesituation in Deutschland.
Wenn im folgenden Abschnitt die Rede von „Pflegebedürftigen“ sein wird, sind ausschließlich Menschen gemeint, die im Sinne des SGB XI pflegebedürftig...