Das Bindungsbedürfnis ist ein angeborenes psychisches Grundbedürfnis des Menschen, dessen angemessene und zuverlässige Befriedigung von erheblicher Bedeutung für sein körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden ist. Diese inzwischen durch die Forschung gestützte Erkenntnis geht ursprünglich auf Arbeiten des englischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby zurück, der als eigentlicher „Vater“ der so genannten Bindungstheorie anzusehen ist und erste Studien zu diesem Thema bereits während des II. Weltkriegs vorgelegt hat. Die Bindungstheorie kann im Wesentlichen zweierlei erklären:
Zwei Grundannahmen der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie ist auf der einen Seite eine Theorie über die normale
Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Sie geht von
der durch die Forschung gut gestützten Grundannahme aus, dass sichere
zwischenmenschliche Bindungen bei Personen aller Altersgruppen ent-
scheidend zum Aufbau und Erhalt von psychischer Sicherheit beitragen.
Die Bindungstheorie ist auf der anderen Seite eine Theorie über das Ent-
stehen von psychischer Unsicherheit sowie von Entwicklungs- und Per-
sönlichkeitsstörungen als Folge von zwischenmenschlichen Bindungs-
problemen.
John Bowlby war und ist allerdings mehr an den negativen emotionalen Folgen interessiert, die sich für Erwachsene, Jugendliche und Kinder aus unangemessenen Bindungserfahrungen und unsicheren Bindungen ergeben, um das Entstehen von Beziehungs- und Persönlichkeitsstörungen zu erklären und diese dann besser behandeln zu können.
Bindungssicherheit als Stärke. In diesem Kapitel sollen Bindungsstörungen und deren negativen Folgen für Personen aber weitgehend außer Acht gelassen werden. Stattdessen wird eine stärkenorientierte Betrachtungsweise in den Vordergrund gestellt, die aufzeigt, unter welchen Bedingungen tragfähige Bindungen zwischen Menschen zustande kommen und wie diese zu sichern sind. Zu diesem Zweck werden ausgewählte Ergebnisse der Bindungsforschung vorgestellt, die eine solche Sichtweise stützen. Der Bezug auf die Bindungstheorie erfolgt also vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Gelingens von zwischenmenschlichen Bindungsbeziehungen, wobei Eltern-Kind-Bindungen im Mittelpunkt stehen. Dabei sollen für Eltern grundlegende Möglichkeiten erkennbar werden, wie ihre Kinder zu ihnen sichere Bindungen aufbauen und dadurch ihr Bindungsbedürfnis hinreichend und angemessen befriedigen können. Um bei Eltern für die Orientierung an einer solchen Erziehungsaufgabe zu werben, werden außerdem Forschungsergebnisse vorgestellt, die zeigen sollen, welche weiteren positiven Wirkungen sichere Bindungen für Kinder und Jugendliche haben.
Der Leserin oder dem Leser soll an dieser Stelle ein tieferer Einblick in die Bindungstheorie und die vielfältigen Untersuchungsmethoden von Bindungsforschern erspart bleiben. Wer mehr darüber wissen möchte, findet im Literaturteil am Ende des Buches Hinweise auf einige Veröffentlichungen, die umfassender über dieses Thema informieren. Stattdessen werden anschließend zunächst nur drei Grundbegriffe kurz
erläutert, deren Kenntnis zum Verständnis und zur Bewältigung dieser Erziehungsaufgabe unbedingt erforderlich ist.
Drei wichtige Grundbegriffe der Bindungstheorie
Bindungsverhalten
Fürsorgeverhalten
Erkundungsverhalten
Bindungsverhalten
Bei sehr kleinen Kindern zeigt sich das Bedürfnis nach Bindung an eine besonders vertraute Bezugsperson normalerweise dadurch, dass sie Nähe zu dieser Person herstellen oder beibehalten wollen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Kinder sich unwohl fühlen, Angst haben oder in anderer Form Leid empfinden. Von Bindungsforschern werden solche dem Kind sehr vertrauten Bezugspersonen als Bindungspersonen bezeichnet, bei denen es sich oft, aber nicht immer um die Mutter des Kindes handelt.
Nähe herstellen: Kleinstkinder versuchen Nähe herzustellen, indem sie zum Beispiel schreien, nach der Bindungsperson rufen oder nach ihr suchen, sobald sie sich fortbewegen können.
Nähe beibehalten: Kleinstkinder zeigen, dass sie die Nähe der vertrauten Bezugsperson beibehalten wollen, indem sie die Person festhalten, sich bei ihr anklammern oder ihr erkennbares Vorhaben beklagen, sich entfernen zu wollen. Ihre momentane Absicht ist es, eine Trennung von der Bindungsperson möglichst zu verhindern.
Die verschiedenen Aktivitäten mit denen Kleinstkinder das Ziel verfolgen, durch die Herstellung oder Beibehaltung von Nähe zur Bindungsperson ein Gefühl von psychischen Sicherheit zu erreichen oder zu bewahren, werden auch als Bindungsverhalten bezeichnet. Ein gezeigtes Bindungsverhalten soll der Bindungsperson deutlich machen, dass das kleine Kind gerade bestrebt ist, sein Bedürfnis nach Bindung zu befriedigen und dazu ihre Hilfe benötigt.
Auch ältere Kinder und Jugendliche zeigen Bindungsverhalten. Ihr Bindungsbedürfnis wird jedoch mit zunehmendem Alter immer mehr durch sprachlichen Austausch mit der Bindungsperson zum Ausdruck gebracht, indem Nähewünsche direkt oder indirekt angesprochen werden.
Fürsorgeverhalten
Normalerweise wird durch das vom Säugling gezeigte Bindungsverhalten ein Fürsorgeverhalten der Mutter oder einer anderen Bindungsperson mit der Absicht ausgelöst, das kindliche Bindungsbedürfnis angemessen zu befriedigen. Die Bindungsperson geht zu dem Baby das ihre Nähe sucht, nimmt es behutsam auf, um es zu beruhigen oder anderweitig zu versorgen. Einem kleinen Kind, das sich nicht von ihr lösen möchte, gibt sie solange fürsorgliche Zuwendung bis das Nähebedürfnis des Kindes befriedigt ist, es eine vorübergehende Trennung aushalten kann oder sich beruhigt selbst von der Bindungsperson entfernt, um ein unterbrochenes Spiel wieder aufzunehmen oder neugierig und unbeschwert die nähere Umgebung zu erkunden.
Bindungsverhalten und Fürsorgeverhalten stehen demnach in einer engen Wechselbeziehung zueinander, wobei es von der Qualität des Fürsorgeverhaltens der Bindungsperson abhängt, ob das Bindungsbedürfnis des kleinen Kindes angemessen befriedigt wird oder nicht. Eine angemessene Befriedigung des kindlichen Bindungsbedürfnisses liegt normalerweise dann vor, wenn die Bindungsperson den Eindruck gewinnt, dass das Baby ihre Fürsorge im Augenblick nicht mehr benötigt. Sie kann dies daran erkennen, dass bei ihrem Säugling kein Bindungsverhalten mehr zu beobachten ist.
Wenn Kinder älter werden, ändert sich auch das elterliche Fürsorgeverhalten, um ihr Bindungsbedürfnis zu befriedigen. In späteren Abschnitten wird im Einzelnen dargestellt, worin diese Änderungen des Fürsorgeverhaltens bestehen. Zunächst soll im übernächsten Abschnitt aufgezeigt werden, welche Fähigkeiten Eltern benötigen, um das Bindungsbedürfnis von Säuglingen und Kleinkindern angemessen zu befriedigen.
Erkundungsverhalten
Wenn das kleine Kind kein Bindungsverhalten zeigt, spielt es normalerweise oder erkundet neugierig und unternehmungslustig seine nähere Umgebung. Dieses Verhalten wird von Bindungsforschern als Erkundungs- oder Explorationsverhalten bezeichnet. Durch das Erkundungsverhalten befriedigt das Kleinstkind vornehmlich sein angeborenes Neugierbedürfnis. Die starke Bereitschaft seine Umgebung erkunden zu wollen, setzt aber bei dem kleinen Kind ein Gefühl von Bindungssicherheit voraus, was am besten daran zu erkennen ist, dass Säuglinge ihr Erkundungsverhalten einstellen, sobald bei ihnen durch bestimmte Ereignisse ein Bindungsverhalten ausgelöst wird. Um sorglos und unbekümmert explorieren zu können, benötigen Babys also den sicheren Rückhalt durch eine fürsorgliche Bindungsperson. Ebenso wie das liebevolle Fürsorgeverhalten einer schützenden Bindungsperson dem Säugling Sicherheit durch Nähe vermittelt, erlebt das kleine Kind durch eine Bezugsperson, die Ihm sicheren Rückhalt beim Spielen und dem Erforschen seiner näheren Umgebung bietet Sicherheit beim Erkunden. Insofern besteht bei Bindungsforschern die übereinstimmende Auffassung, dass sich bei Kleinstkindern ein Gefühl von psychischer Sicherheit sowohl aus der Erfahrung einer sicheren Bindung als auch aus einem Gefühl von Sicherheit beim Erkunden herausbildet.
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