Karlchen, ein größenwahnsinniger Zwerg
Ein Kollege aus Berlin-Wilmersdorf rief mich eines Morgens an. Es ging um einen seiner Patienten, der dringend meine Hilfe brauchte. Die Behandlungsmöglichkeiten in seiner Praxis seien im Fall von Karlchen, dem Yorkshire-Terrier-Zwergdackel-Mix von Hans P., ausgeschöpft. Vielleicht käme ich da weiter, mit einem Hausbesuch und meinem verhaltenstherapeutischen Ansatz.
Er berichtete mir, dass Hans P., ein freundlicher, ziemlich übergewichtiger älterer Herr, bereits seit Jahren mit seinem Hund in die Praxis komme. Außer regelmäßigen Zahnsanierungen in Narkose habe es bislang keine nennenswerten Probleme gegeben. Karlchen stamme aus dem Tierheim, Hans P. habe ihn nach dem Tod seiner Frau zu sich geholt. Eigentlich habe der Hund ein freundliches Wesen, aber Hans P. beklage sich in letzter Zeit immer öfter darüber, dass Karlchen in der Wohnung randaliere, selbst wenn er ihn dort nur kurz alleine ließe.
Mit seinen zarten sechs Kilogramm Körpermasse habe es dieser Zwerg geschafft, zwei Sofas und eine Matratze auseinanderzunehmen, Vorhänge herunterzureißen, Teppiche anzuknabbern sowie eine alte Aktentasche und diverse Kabel zu zerbeißen. Ach ja, und er habe immer wieder schleimigen Dickdarmdurchfall, der einfach nicht in den Griff zu bekommen sei. Wohl ein Fall für den Seelenklempner, wie mich mein Kollege gern scherzhaft nennt. Hans P. würde sich bei mir melden.
Tags darauf rief dieser an. Ich sei seine letzte Rettung. Natürlich, das bin ich immer. Er schilderte mir die Zerstörungswut seines Hundes, und alles hörte sich noch deutlich schlimmer an als von meinem Kollegen beschrieben. Wir vereinbarten einen Termin für die darauffolgende Woche. Den verhaltenstherapeutischen Fragebogen konnte er nicht von meiner Homepage herunterladen, denn er hatte kein Internet – so etwas Neumodisches käme ihm nicht ins Haus!
Kein Problem. Für solche Fälle gab es immer noch die Post.
Ich bereitete mich gründlich vor. Die Verdachtsdiagnose lautete: »Separationsphobie; Typ: Zerstören«, also Trennungsangst. Mal sehen, was die Vor-Ort-Anamnese ans Licht bringen würde.
Hans P. brauchte viel Zeit, ehe er mir die Tür öffnete. Geschätzte 140 Kilogramm bewegen sich langsam. Karlchen hingegen war sehr schnell. Verdammt schnell: Er zwängte sich durch die Tür, stellte sich vor mich hin, grummelte einmal kurz, hob das Bein, pinkelte mich an, scharrte wild mit den Hinterbeinchen auf dem Teppich im Flur, wetzte zurück, holte einen großen Kunststoffknochen, der etwa dreimal so groß wie er selbst zu sein schien, und präsentierte seine Beute.
Was für ein Kerl, dachte ich! Wow! Ein größenwahnsinniger Zwerg! Hans P. hatte das Harnmarkieren seines schnellen Hündchens an meinem Hosenbein nicht bemerkt, lächelte mich an und sagte: »Er freut sich immer so über Besuch!« Wir setzten uns ins Wohnzimmer und begannen mit der Anamnese.
Seine Wohnung bot ein Bild der Zerstörung. Kaum ein Möbelstück, das nicht angeknabbert oder anderswie beschädigt war: die Sitzgelegenheiten, alle Stuhl- und Tischbeine, die Vorhänge, die Bettdecken bis hin zu den Tischdecken. Aber Hans P. war deshalb nicht böse auf Karlchen. Er war eher besorgt um seinen kleinen Prinzen. Was hatte er bloß, der Kleine?
Für die Anamnese hatte ich zweieinhalb Stunden eingeplant. Sie verliefen jedoch völlig anders als erwartet. Karlchen kratzte an der Terrassentür. Sofort bewegte sich Hans P. dorthin und ließ Karlchen hinaus in den Garten. Nur wenige Minuten später flitzte Karlchen zurück in die Küche und schnappte sich seinen Blechfutternapf. Hans P. marschierte hinterher und füllte den Napf mit Fleischwurst.
Kaum war das Fressen erledigt, begab sich Karlchen zum angeknabberten Sofa und bellte auffordernd. Worauf sich Hans P. aus dem Sessel erhob, zum Sofa hinüberging und dort den Kleinen aufs Sofakissen hob. Dort thronte Karlchen dann – für die nächsten 15 Minuten. Dann sprang er wieder herunter, holte seinen Stoffhasen und versuchte, ihn Hans P. auf den Schoß zu legen. Dieser machte bereitwillig mit.
Als Karlchen kurz darauf keine Lust mehr zum Spielen hatte, schnappte er mal kurz nach Hans P. – und trug dann seinen Stoffhasen zurück ins Körbchen. Was würde Karlchen wohl als Nächstes einfallen? Nun begann er wieder an der Terrassentür zu kratzen, und das Spiel ging von vorne los. Hans P. öffnete ihm die Tür, ging dann in Richtung Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Doch Karlchen fand den Garten nun nicht mehr so interessant. Lieber lief er seinem Herrchen unentwegt vor den Füßen hin und her, sodass dieser dauernd ausweichen musste.
Inzwischen war etwa eine Stunde vergangen. Um Punkt 13 Uhr lief Karlchen zur Wohnungstür. Hans P. stand auf und zog seine Jacke an: »Entschuldigung, dass wir unterbrechen müssen, aber jetzt ist Karlchens Zeit. Genau um 13 Uhr muss er kurz raus. Wir sind aber in zehn Minuten wieder da.«
Da saß ich nun allein in dieser Wohnung und musste unwillkürlich schmunzeln. Karlchen, ein Bonsai-Terminator! Trennungsangst hatte dieses kleine Schätzchen nun wirklich nicht, aber dafür einen massiven Kontroll-Komplex-Zwang. Bei so etwas würde ich auch stressbedingten Dickdarmdurchfall bekommen!
Hans P. kam schwitzend zurück, entschuldigte sich nochmals für die Unterbrechung und setzte den Kleinen wieder aufs Sofakissen. »Was kann ich denn nur mit meinem Karlchen machen? Ich bin etwas ratlos, wie …« Er unterbrach sich, als das Telefon zu klingeln begann.
»Oh, jetzt wird es schwierig!«, meinte er und bewegte sich eher zögerlich auf das Telefon zu, das auf seinem Schreibtisch stand. Hastig zog er dort seine Pantoffeln aus und schlüpfte schnell in Holzpantinen, die dort schon bereit standen. Zeitgleich sprang Karlchen vom Sofakissen hinunter und versuchte wütend, von vorn in die Holzschuhe zu beißen. Er tobte regelrecht. Ich war beeindruckt.
Hans P. begrüßte seine Schwester am anderen Apparat. Als er nach einem kurzen Gespräch den Hörer wieder auflegte, war Karlchens Wutausbruch augenblicklich vorbei. Der Hund schüttelte sich und »begleitete« Hans P., der nun wieder seine Pantoffeln trug, zum Tisch zurück.
Dieser Hausbesuch hatte so viel Unterhaltungswert, dass ich richtig Spaß bekam, ihn voll auszukosten. Ich schickte Hans P. nach draußen, ohne Karlchen.
»Nun tun Sie mal kurz so, als ob Sie einkaufen gehen wollten. Bleiben Sie draußen in Sichtweite. Und ich sehe mir hier drinnen an, was der Hund in Ihrer Abwesenheit so alles anstellt.«
Hans P. war wenig begeistert von meinem Plan. Es fiel ihm schwer, Karlchen allein zu lassen.
Ich versuchte, die angespannte Situation ein wenig zu entschärfen: »Wenn Sie jetzt nicht gehen, habe ich ja gar keine Gelegenheit, Ihre Kreditkarten und Ähnliches zu klauen!«
Damit hatte ich ihn; er lachte und zog nun doch davon.
Mit einem lauten ›Klack‹ fiel die Wohnungstür ins Schloss. Hans P. befand sich nicht mehr in Karlchens Kontrollbereich und es trat ein, was ich geahnt hatte: Karlchen tobte. Er knurrte, sprang an die Wohnungstür, biss in die Fußleisten, rannte knurrend zum Fenster, sprang auf die Sofalehne, biss ins Kissen, sprang wieder hinunter. Er rannte in die Küche, schleppte den Futternapf durch den Flur, knurrte den Napf an, riss die Tagesdecke vom Bett, knurrte den Kleiderschrank an und biss zu guter Letzt in die holländischen Pantinen.
Ich ging zum Fenster und rief Hans P. zu, doch wieder in die Wohnung zu kommen. Ich suchte nach Worten und begann zu erklären, was mir aufgefallen war. Es würde schwierig werden für Hans P., das war mir klar. Ich begann damit, dass ich ihm genau beschrieb, wie ich seinen Hund erlebt hatte.
»Also, ganz eindeutig: Karlchen hatte keine Angst, alleine zu bleiben. Ein Hund, der große Angst hat, würde hecheln, hätte vergrößerte Pupillen, würde stark zittern und seine Rute einklemmen. Winseln oder Weinen wäre auch typisch für solch eine Angstsymptomatik. Aber ich habe nichts dergleichen bei Karlchen...