3. Porträt Jesu als junger Mann
Nur anderthalb Wegstunden sind es vom Herodeion nach Betlehem, etwa sechs Kilometer. »Brothausen« würde der Ort auf Deutsch heißen, und Lukas braucht nur etwas nachzuhelfen, schon sehen wir dieses Betlehem vor uns: ein lebhaftes Hirten- und Bauernstädtchen an einer Durchgangsstraße inmitten von sprießendem Korn und saftigen Weiden, grasende Schaf- und Ziegenherden ringsumher und am Ortseingang eine Karawanserei, die schon überfüllt ist, als die hochschwangere Maria und Joseph dort müde eintreffen. Daher der Stall, daher die Krippe, daher die anbetenden und lobpreisenden Hirten, und über allem ein himmlischer Glanz, Sternengeglitzer, Engelschöre. Schön ist das, wie eine Geschichte nur schön sein kann. Zu schön, um wahr zu sein?
Schön genug jedenfalls, um der Fantasie reichliche Nahrung zu bieten. Denn nicht einmal Lukas, der Jesu Geburt als Einziger in dieser Weise schildert, erwähnt einen Stall oder Ochs oder Esel oder Heu und Stroh. Einzig von einer Futterkrippe ist bei ihm die Rede, und die gibt es in vielen Häusern Betlehems, wo die einfachen Leute mit ihren paar Ziegen oder Schafen unter einem Dach zusammenleben. Warum sollten sich Maria und Joseph nicht durchgefragt haben, nachdem die Karawanserei keinen Platz mehr bot? Leute, die einem für wenig Geld ein Nachtlager in ihrem Haus anbieten, findet man immer – und dort obendrein Frauen, die bei der Geburt helfen. Aber – mag man sich das so vorstellen? Maria und Joseph in der Heiligen Nacht in einem gewöhnlichen Raum voller Menschen, von denen einige dicht zusammengedrängt auf Matten am Boden zu schlafen versuchen, während andere sich um die gebärende Maria kümmern? So ähnlich könnte sich Lukas das in der Tat gedacht haben. Aber vielleicht deuten die anbetenden Hirten doch auf eine Stallhöhle am Ortsrand von Betlehem hin, die für gute Augen von den nächtlichen Feldern aus am Schein einer Öllampe zu erkennen ist. Und stimmungsvoller ist unsere ausgeschmückte Weihnachtsgeschichte allemal. Nur – stimmt sie auch? Hat Lukas denn recht mit Betlehem? Ist Jesus wirklich in der bedrohlichen Nachbarschaft des alternden Herodes zur Welt gekommen? Was sagen die anderen Evangelisten?
Durchaus Unterschiedliches. Markus äußert sich gar nicht dazu. Johannes ebenso wenig. Beide befassen sich mit Jesus erst von dem Tag an, an dem er vierunddreißig Jahre später das erste öffentliche Aufsehen erregt. Als seinen Heimatort geben sie Nazaret an, ein Dorf 170 Kilometer nördlich von Betlehem in Galiläa. Und der vierte Evangelist, Matthäus? Der nimmt Jesu Geburt zwar in seine Erzählung auf, verlegt sie auch ebenfalls nach Betlehem, spricht aber lediglich von einem Haus als Schauplatz der Niederkunft und lässt im Übrigen durchblicken, dass Maria und Joseph dort eben wohnen. Betlehem wäre demnach ihre Heimatstadt, und Jesus käme ganz einfach in seinem Elternhaus zur Welt. Davon nun wiederum weiß Lukas nichts. Für ihn sind Joseph und Maria Reisende, die Betlehem nur gezwungenermaßen aufsuchen, weil sie sich dort in eine Steuerliste eintragen müssen. Was den eigentlichen Heimatort von Jesu Eltern angeht, ist sich Lukas mit Markus und Johannes völlig einig: Das ist Nazaret. Etliches ist da unvereinbar, und man könnte sich fragen: Was stimmt denn nun? Betlehem oder Nazaret? Stall oder Haus?
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Die Geburt Jesu in Betlehem – von einem äthiopischen Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts (Marienkirche in Gorgora, Äthiopien) dargestellt. Auffallend ist, dass Ochse und Esel auch für den afrikanischen Maler dazugehören. Erstaunliche Übereinstimmungen mit europäischen Darstellungen lassen sich auch in der Körpersprache von Maria und Joseph finden: Hier wie dort hat Maria die Hände zum Gebet zusammengelegt, schmiegt Joseph seinen Kopf grübelnd in seine Hand.
Doch diese Frage stellt sich für die Evangelisten nicht. Nicht so jedenfalls. Nicht als Frage nach den Fakten. Sie gehen nämlich davon aus, dass historische Tatsachen allenfalls die halbe Wahrheit verraten, weil dieser rätselhafte Jesus sich anhand von Tatsachen allein gar nicht beschreiben lässt. Sie versuchen, diese Gestalt viel gründlicher zu verstehen. Sie wollen bis zum eigentlichen Wesen dieses Menschen vorstoßen. Und deshalb greifen sie nach passenden Bildern und Assoziationen, um das Ergebnis ihrer Studien in ihre Geschichten einfließen zu lassen.
Nehmen wir Matthäus. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Jesus mit Mose vergleichbar ist, dem Begründer der jüdischen Religion, dem Gesetzgeber und Befreier seines Volkes, der die Israeliten vor Zeiten aus Ägypten durch die Wüste ins Gelobte Land geführt hat. Deshalb lässt Matthäus – und kein Evangelist sonst – auf die Geburt in Betlehem die Flucht vor Herodes nach Ägypten folgen. Hinterher, nach seiner Rückkehr, hat Jesus dann das Herkunftsland und den Wanderweg mit Mose gemeinsam, der Vergleich mit dem Befreier Israels drängt sich jetzt auf, und der Leser seines Evangeliums ist um die Erkenntnis reicher: Was Mose in früher Vergangenheit für sein Volk geleistet hat, das leistet Jesus für die Gegenwart. Oder nehmen wir Lukas. Der will mit seiner Weihnachtsgeschichte die noch brisantere Entdeckung zur Sprache bringen, dass Gott selbst in Jesus Mensch geworden ist – und zwar nicht, um sich zu amüsieren, wie es griechische Götter bisweilen tun, ganz im Gegenteil. Das Leben dieses Mensch gewordenen Gottes wird glanzlos verlaufen und schrecklich enden, darum schon hier, gleich zu Anfang seines Evangeliums, die ärmlichen Verhältnisse, der Viehgeruch, das Provisorium der zufälligen Unterkunft.
Auf Betlehem nun verfallen beide, Matthäus wie Lukas, weil sie in den Schriften der Propheten eine Weissagung gefunden haben: Genau aus dieser Stadt Betlehem soll einst ein König kommen, der sein Volk wie ein guter Hirte regieren wird, fürsorglich und milde. »Und du, Betlehem, bist keineswegs die geringste unter den Fürstenstädten Judas; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der mein Volk Israel weiden wird«, heißt es bei Micha und Samuel. Damit ist viel über Jesus gesagt, jedoch kaum etwas über Betlehem. Denn hier geht es um viel Entscheidenderes als historische Genauigkeit. Hier geht es um einen Wechsel von der menschlichen zur göttlichen Perspektive, und der gelingt Matthäus und Lukas mit ihrer Methode tatsächlich: Gleichgültig, wie irdisch, verletzlich, schwach oder bemitleidenswert Jesus ihren Lesern im weiteren Verlauf der Geschichte vorkommen wird – nach diesem Anfang hat man verstanden, dass einer eine Lichtgestalt wie Mose sein und gleichzeitig als Verbrecher am Kreuz hängen kann. Dass einer der Sohn Gottes und gleichzeitig eine gehetzte Kreatur sein kann. Mit anderen Worten: dass Gott sich nicht in einer Machtdemonstration, sondern in einer Ohnmachtsdemonstration offenbaren kann. Und offenbaren will.
Der Arme ist reich, der Reiche arm, das Hohe niedrig, das Niedrige hoch, die Hure der Seligkeit näher als ehrbare Frauen und ein Kind klüger als alle Erwachsenen – solche Paradoxien durchziehen sämtliche Evangelien. Auf sie laufen viele Gleichnisse und Aussprüche Jesu hinaus. Sie bilden den Schlüssel zum Verständnis seines Lebens. Jesus stellt alles auf den Kopf, oder vom Kopf zurück auf die Füße. Und wenn ihre Leser das verstehen, ist für Matthäus und Lukas viel mehr gewonnen als mit einer historisch korrekten Ortsangabe. Wenn wir von der Wahrheit des Neuen Testaments sprechen, müssen wir also immer bedenken, dass es für seine Autoren neben der Wahrheit der Fakten noch eine höhere Wahrheit gibt. Im Übrigen darf man nicht von einem Evangelium allein die ganze Wahrheit erwarten. Jeder Evangelist geht anders an seinen Stoff heran, jeder findet eine eigene Beziehung zu seiner Hauptfigur, und ein Urteil über wahrscheinlich oder unwahrscheinlich kann man erst fällen, nachdem man den Plädoyers aller vier Autoren aufmerksam zugehört hat. Je sorgfältiger man ihre Texte vergleicht, desto realer werden Jesus und seine Welt. In diesem Fall spricht vieles dafür, dass Jesu Heimatort Nazaret ist und dass er dort auch zur Welt kommt. Als Kind einer Jungfrau? Der Apostel Paulus, ein Spezialist für Machtworte, äußert sich über die Umstände von Jesu Erscheinen in dieser Welt kurz und trocken. »... vom Weibe geboren«, schreibt er. (Gal 4,4) Und mehr kann man nicht wissen.
Sehr wahrscheinlich aber ist, dass der schwerkranke Herodes noch lebt, als Jesus zur Welt kommt. Man nimmt das Jahr 6 oder 7 vor Christus als sein Geburtsjahr an, sodass Jesus zwei oder drei Jahre zählt, als Herodes auf einer goldenen Bahre seinen letzten Weg in Richtung Herodeion antritt. Historisch gesichert ist, dass der Herodessohn Archelaos sein Nachfolger in Judäa wird – Matthäus erwähnt ihn als Grund dafür, dass Jesu Eltern es in Betlehem nicht länger aushalten und nach Nazaret umziehen, wo sie außerhalb seiner Reichweite sind. Denn gut bezeugt ist auch, dass dieser Archelaos eine regelrecht abstoßende Figur ist, eine lächerliche und grausame Parodie seines Vaters. Fest steht, dass das Land weiterhin nicht zu Ruhe kommt.
Die Söhne des Herodes teilen sich nun die Herrschaft. Zwei davon sollen uns interessieren: Archelaos, der Judäa erhält, und Antipas, dem Galiläa zufällt. Beide sind gleichermaßen unfähig und skrupellos. Archelaos ist kaum an der Macht, da lässt er sein Militär, Infanterie und Reiterei, gegen die Festpilger in Jerusalem vorgehen und dreitausend von ihnen abschlachten. Als die Herodessöhne kurz darauf nach Rom reisen, um sich den Segen der Weltmacht zu holen, brechen im ganzen Land Aufstände aus. Sie werden vom Statthalter Roms in Syrien, Quinctilius Varus, brutal niedergeschlagen – demselben Varus...