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E-Book

Die Essensfälscher

Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen

AutorThilo Bode
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104007403
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
»Bio«, »Wellness«, »Tradition«: Wie uns die Lebensmittelindustrie nach Strich und Faden belügt und was wir dagegen tun können Noch nie waren Lebensmittel so gut wie heute? Von wegen! Thilo Bode, Gründer der Verbraucherorganisation foodwatch, seziert die ausgebufften Strategien der Lebensmittelkonzerne. 'Fitness'-Produkte? Machen nicht fit, sondern fett. - Der traditionell und regional hergestellte Schwarzwälder Schinken? Stammt tatsächlich aus Massentierhaltung und kommt aus ganz Europa. - 'Gesunde' Kinderprodukte? Versteckte Zuckerbomben. - Bio-Apfelgetränke? Haben noch nie einen Apfel gesehen... Diese haarsträubenden Täuschungsmanöver haben System. Die Nahrungsmittelkonzerne sind an die Grenzen ihrer Wachstumsmöglichkeiten gestoßen. Also drehen sie uns mit milliardenschweren Werbe-Etats nur vermeintlich neue und bessere Produkte an. Diese gaukeln jedoch Qualität lediglich vor und gefährden zudem oft genug unsere Gesundheit. Bode nimmt Artikel ins Visier, die wir alle kennen - und er nennt Ross und Reiter. Somit dient dieses Buch auch als Anleitung, die unlauteren Praktiken der Nahrungsmittelkonzerne zu boykottieren.

Thilo Bode, geboren 1947, studierte Soziologie und Volkswirtschaft in München und Regensburg. 1989 wurde er Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, 1995 von Greenpeace International. 2002 gründete er die Verbraucherrechtsorganisation foodwatch, um Täuschung und Gesundheitsgefährdung im Lebensmittelmarkt zu dokumentieren sowie die Schwachstellen in der Gesetzgebung aufzudecken. Bei S. FISCHER erschienen seine Sachbücher »Die Diktatur der Konzerne. Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören« (2021), »Die Essensfälscher. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen« (2010) und »Abgespeist. Wie wir beim Essen betrogen werden und was wir dagegen tun können« (2007). Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

2 Traumfabrik Essen –
Wellness, Gesundheit,
Schönheit, Schlankheit


Übers flache Land in Mecklenburg-Vorpommern zwischen Lübeck und Wismar fährt ein Landarzt zu seinen Patienten. Er macht das schon seit mehr als drei Jahrzehnten und erinnert sich mit einem Schmunzeln an jene Zeit vor 15, 20 Jahren, als es in manchen Häusern üblich war, morgens einen Schnaps zu trinken, in den Knoblauch und allerlei anderes Gewächs eingelegt waren. »Jeden Morgen zwei Zentiliter auf nüchternen Magen – das galt als sehr gesund«, erzählt der Landarzt. Heutzutage mache das keiner mehr, heute gebe es »andere Rituale«.

Heute trifft der Doktor bei seinen Hausbesuchen immer wieder auf Patienten, deren morgendliches Ritual darin besteht, ein Plastikfläschchen des Trinkjoghurts »Actimel« des französischen Lebensmittelmultis Danone zu leeren –, und zwar so gewissenhaft wie andere Leute morgens in der Bibel lesen oder nach dem Betablocker oder Blutverdünner in ihrer Pillenschachtel greifen. Etwa jener ältere, allein lebende Mann, der dem Doktor gegenüber gerne betont, er mache das wirklich jeden Morgen, ganz eisern. »Damit will er mir sagen, dass er nun wirklich nicht mehr tun kann für seine Gesundheit, als täglich mindestens ein, wenn nicht zwei oder drei Fläschchen Actimel zur Stärkung seiner Abwehrkräfte zu trinken«, erzählt der Arzt. Manche ältere Frauen sind, wenn der Doktor bei ihnen erhöhte Blutfettwerte diagnostiziert hat, völlig überrascht: »Ich kann mir das gar nicht erklären, Herr Doktor«, sagen sie dann, »ich streiche doch seit Jahren Becel auf mein Brot« – so heißt die cholesterinsenkende Margarine des niederländisch-britischen Konsumgüterkonzerns Unilever. Und wenn die Patientinnen den Landarzt dann ratlos fragen, »Wie kann das sein, Herr Doktor? Becel ist doch viel teurer als andere Margarinen, dann muss die doch auch was nützen!«, bleibt ihm meistens nicht viel mehr übrig als freundlich zu antworten, dass das mit dem Cholesterin schon ein bisschen komplizierter sei.

Überall in Deutschland ereignen sich täglich ähnliche Szenen – in Supermärkten, in Gesprächen zwischen Eltern und Kindern, auf Schulhöfen. Der Lebensmittelbranche ist es gelungen, durch permanentes Behaupten in vielen Köpfen die Botschaft zu verankern, durch den Verzehr ganz bestimmter Lebensmittel könne man weit mehr erreichen als nur seinen Hunger zu stillen und dabei im besten Fall auch zu genießen. »Becel«-Margarine gegen zu hohe Cholesterinwerte und probiotische »Actimel«-Joghurts zur Stärkung der Abwehrkräfte, vergleichbar der Grippeimpfung im Herbst, sind nur die prominentesten Beispiele für den alarmierenden Trend zu jenen Lebensmitteln und Möchtegern-Medikamenten aus der Laborküche, die durch die Anreicherung mit Vitaminen, Mineral- und anderen Stoffen einen Zusatznutzen behaupten. Die Versprechen sind mannigfach: Die Produkte sollen den Menschen, der sie isst, nicht nur gesünder machen und gegen Krankheit wappnen, sie sollen ihn auch schöner, geistig leistungsfähiger, glücklicher werden lassen; angeblich verfügen sie über die Fähigkeit, gegen Knochenschwund vorzubeugen, nach einer Chemotherapie zu helfen, die Magenschleimhaut zu regenerieren, den Stoffwechsel anzukurbeln, Eisenmangel zu bekämpfen, die Haut zu straffen, das natürliche Sättigungsgefühl zu verstärken und so das Abnehmen kinderleicht zu machen. Im Windschatten so bekannter Marken und Konzerne wie Nestlé und Danone segeln auch Produkte, die man nur noch als arglistige Täuschung und Verhöhnung der Verbraucher einstufen kann: Kaugummi soll gegen Schweißgeruch helfen, Schokolade gegen Akne und Anti-Falten-Marmelade gegen Hautalterung; angeblich hilft sogenanntes »Brain Food« gegen Alzheimer. Das Einzige jedoch, was dieses sogenannte Functional Food unter Garantie leisten kann, ist, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen und die Profite der Hersteller zu mehren. Eine heimtückische Methode, denn wer kann schon von sich sagen, gänzlich unempfänglich gegen diese mit kolossalem Aufwand inszenierten Versprechungen zu sein?

Und so gerät eine simple Wahrheit leicht in Vergessenheit: Wer krank ist, sollte zum Arzt gehen und sich die verschriebenen Medikamente vom Apotheker geben lassen; wer Hunger hat und Lust auf Essen, ist im Restaurant und in der eigenen Küche richtig und sollte im Supermarkt die Lebensmittel aus dem Grenzbereich zwischen Pharmazie und Hokuspokus links liegen lassen. Kein Mensch braucht Functional Food, um sich gesund zu ernähren. Was unser Körper an Vitaminen, Enzymen und anderen Nährstoffen benötigt, kann er ebenso gut und billiger aus einer ausgewogenen, abwechslungsreichen Ernährung schöpfen. Noch nie in der Menschheitsgeschichte war das Angebot an herkömmlichen Nahrungsmitteln so gut und so reichhaltig wie heute – was die Aufrüstung zu Funktions-Essen umso überflüssiger macht. Der amerikanische Publizist und Ernährungsvorreiter Michael Pollan hat das in ein paar einfache und einleuchtende Merksätze übersetzt. Einer lautet »Man sollte nichts essen, was die eigene Großmutter nicht als Essen erkannt hätte«. Der andere besagt: »Früchte isst man am besten so, wie man sie in der Natur findet«; dann müsse die Industrie nicht angeblich gesunde Stoffe wie Antioxidantien in Junk Food platzieren. Eine dritte Erkenntnis des Kritikers lautet: »Man sollte nichts kaufen, was mehr als fünf Inhaltsstoffe hat. Und kein Produkt, das Stoffe enthält, die ein normaler Mensch nicht im Küchenschrank hat.«

Doch die Entwicklung geht in die entgegengesetzte Richtung. Functional Food ist eines der letzten Wachstumsfelder auf den gesättigten Lebensmittelmärkten der westlichen Industrieländer. Allein die deutschen Verbraucher geben jährlich mehr als drei Milliarden Euro für Nahrungsmittel mit vermeintlichem Gesundheitsnutzen aus, nach Meinung von Experten soll Functional Food schon bald ein Viertel des Lebensmittelmarkts ausmachen. Functional Food ist Big Business, es geht um sehr viel Geld. So machen sich die Marketing-Leute in den Unternehmen schon Gedanken, wie sie zum Beispiel probiotische Produkte wie Trinkjoghurts, die vor allem von Frauen gekauft werden, noch attraktiver für Männer machen können. Ihre Verkaufsidee: Für Männer sollte in der Werbung weniger der gesundheitliche Vorteil herausgestellt werden; das Produkt könne für sie »sexier« erscheinen, wenn man die Joghurts stattdessen als sportlichen Drink oder als Energiespender bewerbe. Wie die Grenzen zwischen Nahrungsmitteln und anderen Bereichen zerfließen, zeigt das Beispiel Nestlé. Der Weltmarktführer hält knapp 30 Prozent Anteil am Kosmetikhersteller L’Oréal und betreibt mit dem Unternehmen zwei Joint Ventures, die Akne-Mittel, Nagelpilzprodukte und Nahrungsergänzungsmittel »für die Schönheit aus der Apotheke« verkaufen. Gemeinsam mit der ETH Lausanne will das Unternehmen die »Beziehung zwischen Ernährung und Gehirn« erforschen und zahlt den Wissenschaftlern dafür über einen Zeitraum von fünf Jahren 25 Millionen Franken und finanziert dazu noch zwei Lehrstühle. Nach einer Studie der Harvard Business School konnte der Lebensmittel-Multi den Umsatz mit Produkten, die funktionelle Elemente enthalten, alleine zwischen 2004 und 2007 um jährlich mehr als 23 Prozent steigern – die gewöhnlichen Lebensmittel legten dagegen nur um 6,2 Prozent zu. Kein Wunder also, dass Nestlé bis zum Jahr 2050 mit einem Anteil von 50 Prozent des Functional Food am weltweiten Lebensmittelmarkt rechnet. »Wir lieben Lebensmittel«, so wirbt der Handelsriese Edeka, und Nestlé hat sich das Motto gegeben »Good food, good life«. Das klingt nach echtem Essen. Nach Geschmack und Genießen. Nach einem Teller Selbstgekochtem. Nach Hunger haben und sich aufs Essen freuen. Doch was Nestlé und viele andere unter dem Label Functional Food produzieren und in die Supermarkt-Regale stellen, riecht nach Chemiecocktail. Nach Arzt und Apotheke.

Einer der wichtigsten Wegbereiter dieses Wahnsinns war Nestlé mit seiner Joghurt-Marke LC1, die er Mitte der 90er Jahre auf den Markt brachte. Mit der Behauptung, die probiotischen Milchsäurebakterien wirkten sich positiv auf die Darmflora aus, entwickelte sich LC1 für Nestlé zunächst zu einem wahren »Blockbuster«; der Begriff stammt bezeichnenderweise aus der Pharmaindustrie, die ihn für Medikamente mit Milliardenumsätzen verwendet. Doch schnell verlor Nestlé den Vorsprung auf den Konkurrenten Danone, der kurz darauf mit Actimel auf den Markt stieß, allerdings mit einer ganz anderen Werbestrategie: Die Franzosen versuchten den Verbrauchern erst gar nicht zu erklären, warum sie ihre »Darmflora im Gleichgewicht« halten sollten; Danone versprach ihnen einfach in aller Vollmundigkeit, dass Actimel »die Abwehrkräfte aktiviert«. In seltener Offenheit bekannte der Nestlé-Chef später einmal: »Das ist ein ärgerliches Kapitel. Wir hatten die geniale Idee, waren als Erste auf dem Markt und haben trotzdem verloren. Das haben wir verbockt.« So wird gesprochen, wenn es ums große Geschäft, um entgangene Umsätze, Profite und Marktanteile geht. Der Nestlé-Chef sagte ja nicht: »Ich bedaure das, weil wir gerne viel mehr Menschen mit unserem Produkt zu mehr Gesundheit verholfen hätten.«

Nun ist also Danones Actimel mit einem geschätzten weltweiten Umsatz von über einer Milliarde Euro pro Jahr einer der absoluten Spitzenreiter unter den Probiotischen Joghurts, doch sein riesiger Erfolg beruht allein auf cleverem Marketing und immensen Werbeausgaben, keineswegs auf dem Nachweis geringerer Grippe- oder Erkältungsfälle unter Actimel-Trinkern. Die wissenschaftliche Basis für das Produkt ist jedenfalls so dünn und fragwürdig...

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