I. Die Gesellschaft zur Zeit Karls des Großen
1. Wie groß war das Frankenreich Karls, und wie viele Menschen lebten darin? Diese scheinbar einfache Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zwar können wir sagen, dass die Fläche des Reiches ungefähr 1 Million qkm umfasste; dabei muss man aber bedenken, dass es neben den vollständig ins Reich integrierten Gebieten andere, meist sehr dünn besiedelte Landstriche gab, in denen die Franken nur eine Art Oberherrschaft ausübten. Festzuhalten ist, dass Karl die Ausdehnung des Frankenreichs ungefähr verdoppelt hat. Wenn man sich eine Vorstellung von den Entfernungen im Frankenreich machen möchte, so sollte man sich die Distanzen zwischen weit auseinanderliegenden Orten des Herrschaftsraums vergegenwärtigen: Die Strecke von Hamburg bis Rom misst ca. 1600 km, und ebenso weit ist es von Wien bis Barcelona. Dabei ist zu bedenken, dass ein Bote zu Fuß maximal 40 km und als Reiter mit einem guten Pferd kaum mehr als 60 km am Tag zurücklegen konnte.
Absolute Zahlenangaben zur Bevölkerung des gesamten Reiches zu machen, ist unmöglich. Nur für einige Bezirke sind Angaben über die Bevölkerungsdichte möglich, weil es aus dem Gebiet westlich des Rheins einige Güterverzeichnisse von Klöstern gibt, die auch darüber informieren, wie viele Männer, Frauen und Kinder auf dem Besitz dieser Abteien lebten. Auf dieser Grundlage ist errechnet worden, dass auf dem Besitz des Klosters Saint-Germain (heute in Paris) eine Bevölkerung von 34 bis 39 Einwohnern pro qkm gelebt hat (die entsprechende Zahl im heutigen Deutschland beträgt 225, die in Frankreich 97). Freilich darf man auf dieser für die damalige Zeit sicher sehr hohen Zahl keine Hochrechnung aufmachen, denn die Bevölkerungsdichte in der Île de France war zweifellos höher als in den meisten übrigen Regionen des Frankenreichs. Die Bevölkerung verteilte sich sehr unterschiedlich: neben einigen Regionen mit vielleicht ca. 30 Menschen pro qkm, gab es andere mit weniger als zwei Einwohnern. Das Gebiet östlich des Rheins war zum großen Teil sehr dünn besiedelt.
Auch absolute Angaben über die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen aus der Zeit um 800 sind schwierig. Zweifellos war die Sterblichkeit bei Säuglingen und Kleinkindern äußerst hoch, und auch viele Mütter starben während oder bald nach einer Entbindung. Die Lebenszeit der Männer wurde infolge der zahlreichen Kriege und gewaltsamen Auseinandersetzungen verkürzt. Hinzu kamen Hungersnöte und Seuchen als demographisch wirksame Faktoren.
Man kann auch nicht generell sagen, dass Personen aus der Oberschicht größere Chancen auf ein langes Leben hatten als solche aus der Unterschicht. Bei einigen Angehörigen der karolingischen Familie können wir jedoch genaue Aussagen über ihr Lebensalter machen: Karl der Große starb wahrscheinlich in seinem 66. Lebensjahr; sein Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme wurde 62, aber dessen Brüder wurden nur 33 (Pippin) bzw. 39 (Karl der Jüngere); Pippin der Bucklige starb mit 41 Jahren. Von den Söhnen Ludwigs des Frommen erreichte Ludwig der Deutsche das höchste Alter, er wurde ca. 70, während Lothar I. mit 60 und Pippin mit ca. 40 Jahren verstarb; Karl der Kahle wurde 54 Jahre.
Keine der Karolingerinnen (Königinnen oder Königstöchter) wurde älter als 65; viele von ihnen sind im Alter zwischen 30 und 44 Jahren gestorben, die meisten wahrscheinlich bei der Geburt eines Kindes. Königinnen in der Merowingerzeit erreichten dagegen mitunter ein hohes Alter: Chrodechilde, Ingoberga und Radegunde wurden ca. 70, Arnegunde, Brunichild, Ultrogotho und Balthild über 60 Jahre alt.
Da die Bußbücher – Sündenverzeichnisse, die gleich die Höhe und die Art der erforderlichen Buße nennen – Bestimmungen enthalten, die sich gegen Abtreibung oder Empfängnisverhütung richten, dürfen wir annehmen, dass dergleichen öfter vorkam; Zahlenangaben sind natürlich nicht möglich.
Insgesamt können wir wohl davon ausgehen, dass die Bevölkerung des Frankenreichs zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert ein wenig zugenommen hat. Dies war einmal die Folge des damals für die Landwirtschaft günstigen Klimas, das warme Sommer und nicht so strenge Winter brachte. Zum andern dürfte aber auch die Schaffung des karolingischen Großreichs durch Karl den Großen die innere Sicherheit erhöht haben, so dass die Menschen seltener unter Überfällen feindlicher Nachbarn und Versorgungsengpässen leiden mussten (siehe auch Frage 78).
2. Sprachen die Franken französisch? In der Zeit um 800 bildeten die Franken sprachlich wahrscheinlich keine Einheit mehr. Die meisten der in Gallien wohnenden Franken hatten die Sprache der sie umgebenden Romanen angenommen; sie sprachen also eine Art Altfranzösisch, wobei sich die Sprache im Norden sehr stark von der im Süden unterschied. Die weiter östlich wohnenden Franken sprachen die germanische Sprache ihrer Vorfahren. Dies galt auch für die Alemannen, die Baiern, die Thüringer, die Sachsen und die Friesen, deren Sprachen sich aber stark voneinander unterschieden; vor allem Sachsen und Friesen dürften von den südlicher wohnenden Völkern kaum verstanden worden sein. Aber auch im Gebiet des späteren Deutschland gab es noch eine romanischsprachige Restbevölkerung, so etwa im Moselgebiet oder auch im Alpenraum.
Schriftliche Zeugnisse des Altfranzösischen besitzen wir erst aus dem 9. Jahrhundert. Das älteste Zeugnis ist jener Eid, den Ludwig der Deutsche im Jahr 842 vor Straßburg in romanischer Sprache geschworen hat, damit das Heer Karls des Kahlen – seit 840 westfränkischer König und seit 875 römischer Kaiser (†877) – ihn verstehen konnte. Karl hingegen leistete seinen Eid in deutscher (teudisca) Sprache, um vom Heer Ludwigs verstanden zu werden.
Das sogenannte Althochdeutsche oder Theodiske ist bereits in einigen Zeugnissen aus dem ausgehenden 8. Jahrhundert schriftlich bezeugt. Das älteste erhaltene Zeugnis ist ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch (es wird nach dem ersten Wort «Abrogans» genannt), das uns eine Handschrift aus St. Gallen überliefert. Dieses Wörterbuch wurde in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts geschrieben und enthält über 3000 althochdeutsche Wörter.
Anlässlich einer Kirchenversammlung im Jahr 786 ist davon die Rede, dass eine Vorschrift sowohl auf Latein (latine) als auch in der Volkssprache (theodisce) verlesen werden soll.
Karl der Große hat sich um die volkssprachige Dichtung und auch um die bessere Pflege und Vereinheitlichung der Volkssprache gekümmert; er ließ eine Sammlung von volkssprachigen Liedern über die Taten und Kriege der alten Könige anlegen und soll damit begonnen haben, eine Grammatik der Volkssprache ausarbeiten zu lassen. Einhard berichtet auch, dass er den Monaten einheitlich fränkische Namen gegeben habe; auch die Winde seien von ihm mit volkssprachigen Namen versehen worden.
3. Wie war die fränkische Gesellschaft zur Zeit Karls aufgebaut? Berühmt ist das Wort Karls des Großen aus den Jahren nach 800: Es gibt nur Freie und Knechte. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus, denn es gab zahlreiche Formen von Freiheit und Unfreiheit: Es gab Freigelassene und Sklaven, Halbfreie und Vollfreie und vor allem – es gab auch eine über den Freien stehende Gruppe, den Adel. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht hing mit der Abstammung und mit dem Besitz an Grund und Boden zusammen.
Die Adligen waren meist Großgrundbesitzer; manche von ihnen besaßen in verschiedenen Regionen des Reiches ausgedehnte Ländereien, die sie durch Heirat, Erbgang und königliche Schenkungen erhalten hatten und zu mehren suchten.
Die Freien besaßen meist eine eigene Hofstelle, die ihre Familie ernährte; es gab aber auch Freie, die eine Hofstelle bearbeiteten, die einem Großgrundbesitzer gehörte.
Die Unfreien hingegen arbeiteten zum Teil auf dem zentralen Hof ihres Herrn; manche von ihnen waren aber auch mit einem von ihrem Herrn abhängigen kleinen Bauerngut ausgestattet. Sie mussten neben der Arbeit auf dieser Bauernstelle, für deren Nutzung sie Abgaben in Form von Naturalien zu leisten hatten, auch noch drei Tage in der Woche auf dem zentralen Gut des Herrn Fronarbeit verrichten. Nicht nur weltliche Herren, sondern auch die Kirche verfügte über Unfreie. In jedem Fall waren Unfreie persönliches Eigentum ihrer Herren. Im Fall eines Delikts übten diese richterliche Gewalt über ihre Unfreien aus; die fränkischen Rechtsbücher suchten allerdings zu verhindern, dass ein Herr seinen Knecht mit dem Tod bestrafte. Da im Frankenreich eher ein Mangel an Menschen herrschte, lag es auch nicht im Interesse der großen Grundherren, die Zahl ihrer unfreien Arbeiter durch Todesurteile zu mindern. Alle Unfreien konnten freigelassen werden; ob ihr Los dann tatsächlich besser war als vorher, ist nicht sicher.
Die Freien unterschieden sich vor allem darin von den Knechten, dass sie zur Gerichtspflicht und zur Wehrpflicht herangezogen wurden. Gerichtspflicht bedeutet, dass sie an den mehrfach im Jahr zusammentretenden Gerichtsversammlungen teilnehmen...