2 Das »Prinzip Fesseln«
Eine im Sinne der Markentreue und Marktetablierung erfolgreiche Verpackung für Konsumgüter muss in den drei oben genannten Kaufverhaltenssituationen (extensive Kaufentscheidung, Impulskauf und Habitualisierungskauf) kaufrelevante Impulse leisten und die Kaufentscheidung beeinflussen. Zur Analyse der Detailanforderungen an die Verpackung ist eine systematische, vereinfachte Darstellung der komplexen Vorgänge hilfreich. Das in Abbildung 2 dargestellte »Prinzip Fesseln« stellt die wichtigsten Stufen der Kauf- und Konsumvorgänge dar. Im inneren »Fesselkreis« werden links der Erstkauf, das heißt der extensive Kauf und Impulskauf, sowie rechts der Erstkonsum skizziert, im äußeren Kreis als idealisierte Folge der Weg zur Habitualisierung.
Das »Prinzip Fesseln« basiert bei den Kaufprozessen auf dem von Bleicker13 entwickelten Modell, erweitert um die in der Konsumforschung noch wenig beachteten Konsumvorgänge, die meist unter dem Begriff Nachkaufbeurteilung oder »Consumer-Experiences« zusammengefasst werden. Dabei ist gerade das Produkterlebnis beim Konsum ausschlaggebend für die nachhaltige Produktbeurteilung. Durch das direkte Erlebnis eines Produkts lernen die Konsumenten im Vergleich zur Aufnahme von Werbebotschaften mehr über die Marke und das Produkt, weil ihre Motivation und ihr Produkt- und Marken-Involvement höher und die Informationen lebendig und konkret sind. Das direkte Erleben von Produkten erzeugt eine länger anhaltende Gedächtniswirkung und bewirkt eine stärkere Verhaltensänderung. »Vor allem in der Nutzungsphase entfaltet das Design seine größte Wirkung, da hier das Produkt am längsten präsent ist und am nachhaltigsten bestimmte, positionierungsrelevante Inhalte vermitteln kann.«14 Bei den Kauf- und Konsumprozessen muss die Verpackung den Anforderungen der hohen Kontaktfrequenzen in den unterschiedlichen Einsatzbereichen gerecht werden, wie zum Beispiel bei den Kontakten vor dem Regal, an der Kasse, beim Transport, beim Ein- und Auspacken der Einkäufe, zu Hause, beim Öffnen, Verwenden und beim Entsorgen und Wegwerfen.
Neben der Unterscheidung von Kauf und Konsum zeichnet sich das »Prinzip Fesseln« durch die Berücksichtigung von Wiederholungsprozessen aus, das heißt durch Wiederholungskauf und Wiederholungskonsum. Wiederholungskäufe sind für den Erfolg von Marken und Konsumgütern von herausragender Wichtigkeit. Diese besondere Bedeutung stellte Ehrenberg 1968 früh heraus. Eine statistische Auswertung von 20 Fallbeispielen ergab, dass je nach untersuchter Marke und Warengruppe zwischen 45 und 95 Prozent aller Käufe von Wiederholungskäufern getätigt wurden. Zudem erhöhte sich mit steigendem Anteil an Wiederholungskäufen auch die durchschnittliche Anzahl an gekauften Stückzahlen.15 Darüber hinaus trägt der wiederholte, gewohnheitsmäßige Konsum oder Gebrauch eines Produkts entscheidend zur Bildung von Markentreue bei. Luh konnte in einer Studie von über 25 unterschiedlichen Strategien zum Aufbau von Markentreue nachweisen, dass der habitualisierte Konsum (»Habitual Using«) neben dem einzigartigen Gefallen des Produkts (»Unique Appealing«) die wesentliche Strategie zur Steigerung von Wiederholungskäufen und zur Bildung von Markentreue darstellt.
Das »Prinzip Fesseln« zeigt auf, dass die Verpackungsgestaltung eine Schlüsselrolle sowohl für die Aktivierung von Erstkäufen als auch für die Generierung von Wiederholungskäufen und das Schaffen von Markentreue einnimmt. Jede Stufe wirkt bei der Produktbeurteilung als Verstärker beziehungsweise als Hürde, die zum Erfolg oder Misserfolg eines Produkts beiträgt. Die Wirkungsdimensionen, die dem Schema zugrunde liegen, sind zum einen die Intensität der Markenbindung im Sinne von Fesselkraft und zum anderen die Konstanz der Markentreue, die im Idealfall dem abgebildeten Unendlichkeitszeichen entspricht. Die einzelnen Phasen müssen nicht alle notwendigerweise in zeitlicher oder räumlicher Abfolge hintereinander stattfinden, sie können sich überschneiden, gleichzeitig oder in geänderter Reihenfolge auftreten.
Abbildung 2: »Das Prinzip Fesseln« – Schema der Kauf- und Konsumvorgänge von Konsumgütern unter Berücksichtigung der Anforderung an eine Verpackung
2.1 Erstkauf
Der im Folgenden beschriebene erste Fesselkreis bezieht sich auf den Erstkauf einer bestimmten Marke und behandelt die einzelnen verhaltensbezogenen Stufen, die für einen erstmaligen Kauf erforderlich sind. Beim Erstkauf kann es sich sowohl um eine neu eingeführte beziehungsweise für den Konsumenten neu wahrgenommene Marke handeln als auch um eine Marke, die erst zu diesem Zeitpunkt für den Konsumenten in Betracht kommt.
Die Verpackungsgestaltung ist für die Etablierung und den Erfolg neuer Produkte am Markt einer der entscheidenden Marketingfaktoren. So wird die Verpackungsgestaltung zum Beispiel im sogenannten »New Product Model« der Agentur N.W. Ayer & Son als eines von 14 Kriterien zur Erzielung von Wiederholungskäufen ausgewiesen.
Die ersten Stufen des Erstkaufs, vor allem die Aufmerksamkeitserzeugung, Neugieraktivierung, Interesseförderung und ästhetische Anmutung, sind primär wahrnehmungsbezogene Verhaltensprozesse, die eine positive Hinwendung zum Markenprodukt erzeugen. Die darauf folgenden Stufen sind Informationsaufnahme- und Informationsverarbeitungsprozesse, die das Verhalten beeinflussen und steuern.
Die Aufmerksamkeitsstärke ist sowohl für den Erstkauf als auch für den Folgekauf unter der Voraussetzung der Verfügbarkeit die erste Anforderung an eine Verpackung. Denn nur ein Produkt, das vom Verbraucher wahrgenommen wird, kann auch gekauft werden. Innerhalb eines jeden Kaufprozesses stellt die Bildung des sogenannten Attention-Sets die erste Phase dar. Dieses Attention- Set beinhaltet alle Produkte beziehungsweise Packungen, die der Konsument in einer Kategorie wahrnimmt.
Die Aufmerksamkeit ist eine vorübergehende Erhöhung der Aktivierung, die zur Sensibilisierung des Individuums gegenüber bestimmten Reizen führt. Die Aufmerksamkeit des Käufers bedeutet folglich, seine Bereitschaft zur Aufnahme von Reizen zu wecken. Der Konsument nimmt vor allem solche Reize wahr, die seinen Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. Wills16 betont diesen subjektiven Bezug zur Aufmerksamkeitswirkung:
»Wir sehen im Leben vielerlei Objekte, die uns von ihrer äußeren Gestalt her ›auffallen‹, aber sofort wieder aus unserem ›Bewusstsein‹ schwinden, weil die innere Beziehung zu ihnen fehlt. Unsere Aufmerksamkeit wählt gleichsam aus unserer Umwelt bewusst und unbewusst nur solche Gegebenheiten aus, die für uns in irgendeiner Form von individueller Bedeutung sind. So betrachtet, kann die Aufmerksamkeit nicht mehr nur in einer Abhängigkeit von objektiven Reizgegebenheiten gesehen werden, sondern in Abhängigkeit zur jeweiligen subjektiven Bedarfslage.«
Dies bedeutet, dass Reize, die das Gefühl stärker ansprechen, die größer und intensiver sind und starke Überraschung auslösen, über ein höheres Aktivierungspotenzial verfügen.
Neue Produkte im Regal verfügen durch ihr noch nicht gewohntes Erscheinungsbild häufig über eine gewisse Aufmerksamkeitsstärke. Ein neues Produkt weist dem alten gegenüber meist mehrfache Verbesserungen auf, das heißt, ein neues Produkt führt dazu, dass ein bisheriges Produkt automatisch als »alt« angesehen wird.
Zur Beurteilung der Aufmerksamkeitsstärke ist jedoch zu berücksichtigen, dass die grundsätzliche Aufmerksamkeit der Einkäufer in einem Geschäft, sobald sie es betreten haben, deutlich zurückgeht. Durch die Augenlidschlagfrequenz wurde festgestellt, dass die Käufer nach Betreten des Geschäfts in einen tranceähnlichen Zustand fallen. Die Lidschlagfrequenz nimmt kurz nach dem Betreten des Geschäfts ab, bleibt während des Einkaufs niedrig und steigt erst gegen Ende des Kaufs an der Kasse wieder an. Die Aussetzung von vielen Reizen hat eine Fokussierung und Selektion der Reize zur Folge. Aufmerksamkeit führt also zur Reizauswahl, bei der im Allgemeinen die starken Reize bevorzugt werden. Morgan geht davon aus, dass ein Produkt maximal eine halbe Sekunde Zeit hat, die Aufmerksamkeit des Käufers zu erlangen. In vielen Kategorien nehmen Konsumenten lediglich 50 Prozent der Marken im Regal wahr, die restlichen 50 Prozent werden erst gar nicht betrachtet. Underhill hingegen gibt einem Produkt nur 20 Prozent Wahrscheinlichkeit, überhaupt wahrgenommen zu werden. Bei der Messung der sogenannten Blickfangquote stellte er fest, dass die Regale in einem Supermarkt einen Kernbereich aufweisen, der von einem Punkt knapp über Augenhöhe bis etwa zur Kniehöhe reicht (sogenannte Griffzone) und in dem die Produkte mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Käufern gesehen werden. Höher oder niedriger platzierte Produkte (sogenannte Reck- beziehungsweise Bückzone) werden in der Regel nicht wahrgenommen, es sei denn,...