Psychisches Trauma ist das Leid der Ohnmächtigen. Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystem und Sinn gibt.[179]
Folgendes Kapitel ist dem Phänomen des Traumas gewidmet, um die Protagonistin des Romans aus psychoanalytischer Sicht interpretieren und ihre Traumata offen legen zu können. Der Begriffsbestimmung des Phänomens folgen psychoanalytische Theorien, worunter Freuds Theorien und die Objektbeziehungstheorie zu subsumieren ist. Diese sind ausschlaggebend für die Analyse der Erzählerin und Protagonistin. Marcela hat einige Traumata integriert, wie die Instrumentalisierung ihres Körpers, der Verlust der Eltern, der Heimatverlust, welche sich beispielsweise in ihrer Sexualität, ihrer Bindungsangst und ihrer Unfähigkeit ein Lebens im Jetzt zu führen, äußern.
Laplanche und Pontalis definieren im Vokabular der Psychoanalyse das Trauma folgendermaßen.
Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts, adäquat darauf zu antworten, die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Ordnung hervorruft.
Ökonomisch ausgedrückt, ist das Trauma gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit, diese Reize psychisch zu bemeistern und zu bearbeiten, exzessiv sind.[180]
Der Begriff des Traumas kommt aus dem Griechischen und bedeutet 'Wunde'.[181]
Schon aus dem Zitat von Laplanche und Pontalis wird sichtbar, vor allem durch das Adjektiv 'pathogen', dass die Psychoanalyse an einer Heilung des Traumas interessiert ist. Das Trauma als kulturelles Deutungsmuster hingegen hat sich die Bestimmung der Funktion des Traumas zur Aufgabe gemacht. Demgemäß ist die Integration und Verarbeitung des Traumas für den Psychoanalytiker von Bedeutung, während der Kulturwissenschaftler nicht auf seine Präsenz verzichten kann und somit alles daran setzt, die Unheilbarkeit des Traumas zu beweisen.[182]
Die Unschärfe des Begriffs Trauma ist auf die ihm inhärente doppelte Bezogenheit zurückzuführen: „Das Trauma ist ein Konzept, das ein äußeres Ereignis mit dessen spezifischen Folgen für die innere psychische Realität verknüpft.“[183] Bohleber scheint es deshalb vorteilhaft, das Verhältnis dieser beiden Pole genauer zu definieren. In seiner Ausführung schließt er sich A. Freud, Fürst, Krystal, Cooper u.a. an:
Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, daß diese droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation.[184]
Für Bohleber ist ein Wesentliches an dieser Definition das Plötzliche, Disruptive und das sich der Kontrolle Entziehende des traumatischen Erlebnisses und die Erfahrung eines Zuviel, welches sich im hilflosen Gefühl erschöpft. Dies bedeutet, dass die Reaktionen des Ichs zu spät kommen. Statt als Antwort auf die drohende Gefahr zu erfolgen, tun sie dies, nachdem diese Realität geworden ist: Das Ich war ihr passiv ausgeliefert.[185]
Über die doppelte Bezogenheit des Trauma-Begriffs hinaus bricht im Trauma eine haltende grundlegende Objektbeziehung zusammen, weshalb er erst recht nur als relationaler Begriff zu fassen ist. Das Urvertrauen wird maßgeblich und anhaltend gestört. Dem Ich ist es nicht möglich, das traumatische Ereignis seelisch zu integrieren. Durch das Unerwartete kann keine Bedeutungszuschreibung erfolgen, weil keine vorgängigen Bedeutungsstrukturen vorhanden waren, an die es angeknüpft werden hätte können.[186] Nach dieser kurzen Konturierung des Begriffs des Trauma, erfolgt eine theoretische Heranführung von den Anfängen bei Sigmund Freud bis zu den aktuellen psychotraumatologischen Theorien.
Im vergangenen Jahrhundert waren es drei Formen psychischer Traumata, die ins öffentliche Bewusstsein gelangen: Die Hysterie, traumatische Kriegsneurosen und die Neurose des Geschlechterkampfes, d.h. Frauen im zivilen Leben, die von posttraumatischen Störungen aufgrund von Gewalt im sexuellen und familiären Bereich heimgesucht wurden. In jedem der drei Bereiche förderte die Verbindung mit einer bestimmten politischen Richtung die Erforschung des jeweiligen Traumas.[187]
Ende des 19. Jahrhunderts widmete man sich als erstes der Hysterie, „der archetypischen psychischen Störung der Frau.“[188] Die Entwicklung dieses Forschungsgebiets vollzog sich im republikanisch und antiklerikal geprägten Frankreich.[189] Die zweite Form, die Erforschung der Schützengraben- oder Kriegsneurose, begann nach dem Ersten Weltkrieg in England und den USA und gipfelte in der Zeit nach dem Vietnamkrieg. Das politische Umfeld, in welchem die Forschungen stattfanden, war „der Zusammenbruch des Kriegskultes und die Entstehung einer Antikriegsbewegung.“[190] Die dritte Form psychischer Traumata, die in den Blick der Forscher geriet, ist im politischen Zusammenhang der Frauenbewegung in Westeuropa und Nordamerika zu situieren. Das derzeitige Verständnis psychischer Traumata basiert auf einer Synthese dieser drei Forschungsrichtungen.[191]
Jean Martin Charcot bestimmte maßgeblich das Bild der Hysterie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Salpetriere in Paris, durch welche er große Aufmerksamkeit erlangte, wurde zum Schauplatz für Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Politiker, die die sogenannten Dienstags-Vorlesungen besuchten. Die Krankheit der Hysterie wurde von dem französischen Psychologen öffentlich inszeniert, und diese Inszenierung fand oft unter Hypnosezuständen der Patientinnen statt. Auch Guy de Maupassant besuchte die Vorlesungen an der Salpetriere, was sich in seinen Romanen bemerkbar macht.[192]
Sigmund Freud, ein Rivale von Pierre Janet, wollte das Werk Charcots vervollständigen und kam zu der Überzeugung, dass es nicht ausreichte, die Frauen schlichtweg nur zu beobachten, sondern man müsste mit ihnen sprechen. Mit Hilfe vieler Fallstudien kamen Pierre Janet in Frankreich, Sigmund Freud und sein Kollege Josef Breuer unabhängig voneinander zu demselben Ergebnis: „Hysterie ist ein Zustand, der durch ein psychisches Trauma verursacht wird.“[193] Hysterische Symptome würden durch Bewusstseinsveränderungen, die durch unerträgliche Gefühlsreaktionen auf traumatische Ereignisse verursacht werden, hervorgerufen.[194] Weiterhin stellten sie fest, dass durch psychische Traumata und durch Hypnose meist dieselben Bewusstseinsveränderungen evoziert würden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen die Forscher zu einem Ergebnis: Die hysterischen Symptome gingen zurück, „wenn der Patient die traumatischen Erinnerungen und die damit verbundenen intensiven Gefühle wiederentdecken und in Worte fassen konnte.“[195] Diese Methode wurde die Basis moderner Psychotherapie.
Freud stieß bald auf den Zusammenhang zwischen Hysterie und weiblicher Sexualität.[196] 1896 glaubte Freud, die Ursache für hysterische Anfälle gefunden zu haben: Er führt diese in seinem Bericht über achtzehn Fallstudien unter dem Titel Zur Ätiologie der Hysterie auf sexuelle Übergriffe und Misshandlungen der Patienten in der Kindheit oder der frühen Jugend zurück.[197] Die genitale Stimulation des Kindes durch den Erwachsenen, welche das Kind jedoch nicht sexuell erleben konnte, tritt durch assoziative Verknüpfung, d.h. bei neu eintretenden ähnliche Situationen, wieder zum Vorschein:
Durch assoziative Verknüpfung mit dem akuten Erleben und durch die einsetzende Reizüberflutung erhält dieses erste Erlebnis seine traumatische Kraft, was die Abwehr der Erinnerung erzwingt und es unbewusst macht. Misslingt dieser Abwehrvorgang, eröffnet sich als Ausweg eine hysterische Symptombildung.[198]
Unbewußte Reminiszenzen an sexuelle Traumatisierungen in der frühen Kindheit und die pathogene Auswirkung eines Traumas seien der Ursprung der Neurose. Die Disposition für die Neurose wiederum wurde durch die Wirkung des Traumas, die Mobilisierung des Affekts eines zurückliegenden und verdrängten Kindheitstraumas geschaffen.[199] Das Ende dieses Forschungsansatzes wurde jedoch mit der Veröffentlichung von Zur Ätiologie der Hysterie markiert. Freud verwarf circa ein Jahr später (1897) seine Theorie vom Trauma als Ursache der Hysterie.[200] Der Wendepunkt markiert der sogenannte Fall Dora: Sie wurde von ihrem Vater seinen Freunden als sexuelles Spielzeug angeboten. Freud erkannte...