Im Rahmen der oben beschriebenen systemtheoretischen Konzepte werden Psyche und Körper der Organisationsmitglieder als notwendige (relevante) Umwelten für das soziale System Organisation betrachtet. Psychisches, physisches und soziales System sind aufgrund ihrer Entwicklungsgeschichte strukturell gekoppelt. Das Individuum kommt in der Organisation als Person vor, eine „fiktive Einheit, die in der Kommunikation konstruiert wird“ (Simon, 2007, S. 41). „Der Begriff Person soll uns [...] dazu dienen, sowohl Autor, als auch Adresse, als auch ein Thema in Kommunikationssystemen zu bezeichnen“ (Luhmann, 2000a, S. 89). Damit wird in der Kommunikation „die Einheit von Individuum und Person als operative Fiktion“ (ebd., S. 90) unterstellt und es ist möglich der Person charakteristische Eigenarten, Merkmale, Erwartungen und Befugnisse zuzuschreiben. Das damit verbundene Bündel an Verhaltenserwartungen und -befugnissen wird als Rolle bezeichnet (Linton, 1936). „Durch Konstanz der Rollen können Verhaltensmuster über der Zeit reproduziert und soziale Strukturen stabil erhalten werden, auch wenn die konkreten Akteure (Personen) ausgetauscht werden [...]. Ein autonomes Individuum verzichtet in gewissen Bereichen des eigenen Lebens darauf, seinen theoretisch gegebenen Freiraum zu nutzen“ (Simon, 2007, S. 44) und verhält sich eher erwartbar und berechenbar. Grundlage dessen, was als erwartet angenommen wird, ist nach Weick (1985) ein „Regelsystem, um die Handlungen der ‚vielen einzelnen‘ in vorhersagbarer Weise miteinander zu verbinden und zu koordinieren“ (Schettgen,1991, S. 308). Abgebildet und generiert wird dieses Regelsystem im Rahmen der oben beschriebenen Konzepte wiederum durch Subjektive (Führungs-)Theorien.
Unterscheidet man nun als zwei wichtige Rollen (Erwartungs- und Befugnisbündel) in Organisationen, die Rolle der Führenden und die Rolle der Geführten, dann wird interessant, welche Erwartungen und Ursache-Wirkungszusammenhänge diesen Rollen im Rahmen von Führungsprozessen zugeschrieben werden, und wie die Beteiligten fremdes Handeln damit abgleichen sowie eigenes Handeln daran orientieren. Staehle (1994) unterscheidet je nachdem ob Führender oder Geführter als Objekt oder Subjekt des Erklärungsmodells betrachtet werden vier Attributionen in Führungsprozessen: 1) Attribution des eigenen Führungsverhaltens durch die Führenden (Führender als Subjekt und Objekt), 2) Führung mittels durch die Geführten den Führenden zugeschriebene (attribuierte) Eigenschaft (Geführter als Subjekt, Führender als Objekt), 3) Führung als Reaktion der Führenden auf das attribuierte Geführtenverhalten (Führender als Subjekt, Geführter als Objekt), 4) Attribution des eigenen Geführtenverhaltens durch die Geführten (Geführter als Subjekt und Objekt).
Für die vorliegende Studie soll die Perspektive der Führungskraft eingenommen werden und somit sind die unter 1) und 3) genannten Attributionen interessant. Neben diesen Attributionen sind jedoch noch weitere, für das Führungsverhalten relevante Einflussgrößen zu betrachten, wie z. B. Annahmen über die konkrete Situation des Führungsgeschehens (u. a. Normalbetrieb/Routine vs. Wandel/Unsicherheit) und den Kontext (u. a. spezifische kulturelle Muster der Organisation).
Aus systemtheoretischer Sicht beschreiben diese Konzepte, welche Wahrnehmungs-Beschreibungs-Erklärungs-Bewertungs-Handlungsmuster der Person der Führungskraft zugeschrieben werden können. Es sollen im folgenden zunächst vier Blickrichtungen unterschieden werden: Subjektive Theorien über erfolgsrelevante Eigenschaften einer guten Führungskraft, Subjektive Theorien über die Antezedenzen von Führung, Subjektive Theorien über Mitarbeiter und Subjektive Theorien über erfolgreiches Führungsverhalten (vgl. Aretz, 2007, S. 104).
Subjektive Theorien über erfolgsrelevante Eigenschaften einer guten Führungskraft
Zahlreiche Studien befassen sich mit den eigenschaftsorientierten Führungstheorien. Der Einfluss der Persönlichkeitseigenschaften der Führenden auf den Führungserfolg wird dabei kritisch gesehen (s. o.). Jedoch zeigt sich in aktuellen Untersuchungen, „dass die vielfach kritisierte Eigenschaftstheorie der Führung ihren Fortbestand ‚in den Köpfen von Führungskräften hat‘, auch wenn der Bedeutung einzelner Persönlichkeitsmerkmale eine unterschiedliche Gewichtung beigemessen wird“ (Aretz, 2007, S. 110). Damit werden diese Konstrukte hier mit folgender Frage interessant: welche subjektiv-theoretischen Annahmen nennen Führungskräfte über erfolgsrelevante Führungseigenschaften, korrelieren diese mit ihrem Handeln und welche Wirkungen schreiben sie dem zu?
Subjektive Theorien über die Antezedenzen von Führung
Die Antezedenzen von Führung beschreiben die prägenden Faktoren, die „Führungskräfte zu dem machen, was sie sind“ (Aretz, 2007, S. 104) und die „Bedingungen, die als einwirkend auf die Erfüllung von Führungsaufgaben bzw. das Führungsverhalten wahrgenommen und seitens der Befragten als Konzepte genutzt werden, um die Verschiedenartigkeit von Führung im Unternehmen zu erklären“ (ebd. S. 236). Diese subjektiven Konstrukte wirken sich auf Wahrnehmung und Handeln aus und können somit als relevante Einflussfaktoren für eine erfolgreiche oder weniger Erfolgreiche Führungsarbeit gesehen werden. Schilling (2001, S. 178 und S. 138) ordnet in seiner Studie über subjektive Führungstheorien diese Prägefaktoren drei Oberkategorien zu, je nachdem welcher Quelle die jeweiligen Antezedenz zugeschrieben wird: prägende Faktoren aus der Person des Führenden (internale Ursachen- und Wirkungszuschreibung: z. B. Alter beim Einstig in die Führungsaufgabe, Ziele und Bedürfnisse, äußere Merkmale, Erfahrungen als Führungskraft und als Geführter, Persönlichkeit, Menschenbild, Wissen), aus der Umwelt (externale Ursachen- und Wirkungszuschreibung: Kontextfaktoren) und aus der Interaktion (sowohl internal als auch externale Ursachen- und Wirkungszuschreibung: z. B. zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, vertrauensvolle Beziehung). Dabei stellt Schilling fest, dass den subjektiv-theoretischen Annahmen über die Umweltfaktoren die größte Bedeutung zugemessen wird. Er ordnet diese Kontextfaktoren, welche auf die Führungskraft und ihr Führungshandeln einwirken acht Kategorien zu: Mitarbeiter, Vorgesetzter, Soziales Umfeld, Aufgaben/Tätigkeitsumfeld/Rolle, Prozesse/Strukturen/Ressourcen, Ziele/Kultur/Werte, Kollegen und Unternehmensumfeld (vgl. Schilling, 2001, S. 118). Führung wird nach diesen subjektiv-theoretischen Annahmen der Führenden also „in starkem Maße von äußeren Faktoren bestimmt“ (Aretz, 2007, S. 125).
Für diese Studie ist interessant, welche subjektiv theoretischen Annahmen eine Führungskraft über die sie prägenden und ihr Führungshandeln beeinflussenden Faktoren nennt und wie dies handlungswirksam erlebt wird. Dabei sind auch solche Einflussgrößen interessant, welche durch Wandelprozesse Unsicherheit auslösen (siehe Studie von Harding, 2012, Topmanagement und Angst) und welchen Elementen die Führungskräfte ihre Wandlungskompetenz zuschreiben (vgl. Krummaker, 2007).
Subjektive Theorien über Mitarbeiter
Die Studien von Neubauer (1982 und 1986, zitiert nach Aretz, 2007, S. 115) zeigen, dass die Vorstellungen, die Führungskräfte über Mitarbeiter haben, die kognitive Auswahl ihrer Führungsstrategien beeinflussen. Je nach subjektivem Mitarbeiterbild und konkreter Erwartung an den Mitarbeiter nennen die Führenden unterschiedliche Handlungsstrategien. Die Untersuchung zeigt, dass Führungskräfte bei Mitarbeitern, denen sie in ihrem Mitarbeiterbild erwartungsgemäßes Handeln zuschreiben, ein nahezu konträres Führungshandeln als geeignet ansehen, als bei Mitarbeitern, bei denen sie nicht erwartungsgemäßes Handeln annehmen. Für erwartungsgemäß handelnde Mitarbeiter wurden als geeignete Führungsstrategien genannt, ihnen Entscheidungsspielräume bei verminderter Kontrolle einzuräumen, sie zur verantwortlichen Mitarbeit bei Führungsaufgaben einzubinden bis hin zum Angebot einer freundschaftlichen Beziehung informeller Art. Nicht erwartungsgemäß handelnden Mitarbeitern dagegen wird begegnet mit enger Kontrolle bei Betonung der Statusunterschiede, bewusster Ablehnung persönlicher Kontakte bis hin zur Beschränkung auf bedeutungslose Tätigkeiten (vgl. Aretz, 2007, S. 115).
Diese subjektiv-theoretischen Annahmen einer Führungskraft über legitime Erwartbarkeit, Erfüllung dieser Erwartbarkeit durch den Mitarbeiter und entsprechend erfolgversprechendem Führungshandeln ist hier interessant, da insbesondere im Rahmen von Prozessen des Wandels auch die bisher passenden Erwartungen einem Wandel unterworfen sind und es für die Führenden eine Herausforderung darstellt, woran sie ihr Führungshandeln dann orientieren.
Subjektive Theorien über erfolgreiches Führungsverhalten
Geht man nun über die eben beschrieben statisch-merkmalsorientierten Konzepte hinaus und betrachtet die subjektiv-theoretischen Annahmen von Führungskräften aus dynamisch-prozessorientierter Sicht, dann stellt sich die Frage: was verstehen Führende unter erfolgreichem Führungsverhalten. So nennt Schilling (2001, S. 214 u. S. 144) zwei Kategorien die in seiner Studie besonders hervorgetreten...