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E-Book

Gebrauchsanweisung für das Baltikum

4. aktualisierte Auflage 2019

AutorSabine Herre
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492966283
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Was ist das Baltikum? Eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist und der Sabine Herre auf den Grund geht. Dabei öffnet sie uns die Augen für das weitläufige Litauen, wo die meisten Störche leben, das lebhafte Lettland, welches als die »östlichste« der baltischen Nationen gilt, und das stolze Estland, das sich mit den Finnen die Melodie der Nationalhymne teilt. Und sie durchstreift genussvoll ihre Hauptstädte: die Barockmetropole Vilnius, die das geografische Zentrum Europas markiert, die Jugendstilhochburg Riga, in der Szenebars in verfallenen Altbauten locken, und das mittelalterliche Tallinn, das zugleich ein Hotspot modernster Technik ist. Am Ende versteht man, warum kulturell so einzigartige Länder nur gemeinsam ihre Unabhängigkeit erlangen konnten.

Sabine Herre, 1962 geboren, studierte Osteuropäische Geschichte und arbeitete als Korrespondentin in Prag, bevor sie ab 1992 als Osteuroparedakteurin für die taz in Berlin schrieb. Seit einigen Jahren verbringt die mittlerweile freie Autorin die Sommermonate im Baltikum und leitet Reisen in diese Region. Sie veröffentlichte mehrere Reiseführer.

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Leseprobe
Ankunft Freitag Nachmittag in Vilnius Was Straßencafés über die Lage des Baltikums in Europa aussagen Bevor das Flugzeug auf dem Vilniaus oro uostas, dem Flughafen von Vilnius, landet, fliegt es in einem weiten Bogen über die Stadt. Die Maschine ist dabei schon ziemlich niedrig, und so sind die Kirchtürme der Hauptstadt zum Greifen nahe. Wie lange Finger, die immer schlanker werden, scheinen sie an den Wolken zu kratzen. Ein Bild, das der litauische Maler Ludomir Slendzinski in seinem »?Oratorium?« festgehalten hat. Auf ihm bilden graue Wolkenmassen die Fortsetzung der weißen und rosafarbenen Kirchen - ein barocker Himmel über barocken Türmen. Wenn Sie jedoch genau hinsehen, dann zeigt sich auf diesem wohl bedeutendstem Gemälde von Vilnius noch etwas anderes, Überraschendes?: Von den Spitzen der Kirchen wachsen helle Strahlen in den Himmel. Strahlen, die zu Kreuzen werden oder zu Sonnen. Ganz hinten, über Sankt Katharina, der Lieblingskirche so vieler Hauptstädter, bringen sie den grauen Himmel zum Leuchten. Das Kreuz mit dem Strahlenkranz der Sonne, es wird Ihnen auf dieser Reise ins Baltikum immer wieder begegnen. Fast ist es so etwas wie die kulturgeschichtliche Einführung in die Seele der Balten. In die heidnische Seele der Balten. Besonders die Litauer, aber auch Esten und Letten verehrten Bäume, Schlangen, Steine. Und das auch dann noch, als der Rest Europas schon lange christianisiert war. Eine besondere Position in ihrem hundertköpfigen Olymp nahmen die Götter ein, die für das Wetter verantwortlich waren?: der Donnergott Perkunas oder eben Saule, die wärmende Sonne. Bis heute werden Mädchen in Litauen auf diesen Namen getauft. Zwar gilt das Land seit dem 15. Jahrhundert als christianisiert. Doch als nach der Wende Algirdas Brazauskas 1993 in sein Amt als litauischer Staatspräsident eingeführt wurde, da fand die Inauguration nicht nur in der Kathedrale von Vilnius statt, sondern mit einem heidnischen Ritual auch auf dem Hügel, auf dem die Stadt zu heidnischen Zeiten gegründet worden war. Dies stieß im Rest Europas verständlicherweise auf Befremden - und wurde nicht wiederholt. Die Bedeutung jedoch, die die Sonne bis heute für alle Balten hat, die können Sie live miterleben?: im Juni bei der Sommersonnenwende. Ein größeres Fest gibt es nicht. Und auch keines, das zugleich so fröhlich und so melancholisch ist. Wer zum ersten Mal ins Baltikum reist und diese Reise in Vilnius beginnt, fühlt sich noch nicht ganz in der Fremde. Vor allem den Süddeutschen, den Katholiken, den Liebhabern des Barock ist hier vieles vertraut. Nicht umsonst wird Vilnius auch Baby Prague oder Little Rome genannt. Wissenschaftler haben ausgerechnet im Jahr des Mauerfalls festgestellt, dass der geografische Mittelpunkt Europas nicht etwa in Deutschland, sondern genau hier, 25 Kilometer nördlich von Vilnius, liegt. Bestätigt fühlen konnten sich so all jene mitteleuropäischen Schriftsteller und Philosophen, die wie der Tscheche Milan Kundera das Zentrum Europas schon lange vor der Wende »?in dem Raum zwischen Russland und Deutschland?« verortet hatten. Kundera lobte in seinem Essay »?Die Tragödie Mitteleuropas?« die um ihre Identität kämpfenden »?kleinen?« Nationen, allerdings meinte er damit allein Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen. Indem er die baltischen Staaten vergaß, machte er den gleichen Fehler, den er dem »?Westen?« vorwarf. Er schlug sie einer »?östlichen Zivilisation?« zu, die geprägt sei von Orthodoxie und Despotismus. Dabei muss man gar nicht zu so großen Begriffen greifen. Dass es einen Unterschied zwischen westlicher und östlicher Zivilisation gibt, das erfuhr ich bei meiner ersten Reise in die Region bereits in den kleinen Dingen des Alltags. Auf der Hauptstraße von Sankt Petersburg, dem berühmten Newskiprospekt, war es Mitte der Achtzigerjahre unmöglich, auch nur ein einziges Kaffeehaus zu finden. Wer etwas trinken wollte, musste sich mit warmer Milch an einem Stehtisch in einem Schnellrestaurant begnügen. In Vilnius, Riga und Tallinn dagegen saßen Einheimische und Touristen bei einem Cappuccino in einem der vielen Straßen­cafés in der Sonne. Hier hätten auch Sie sich (?fast?) wie zu Hause gefühlt. 1200 Kilometer nach Ihrem Abflug aus Deutschland sind Sie nun also in der Mitte Europas angekommen. 600 Kilometer weiter nördlich jedoch wird Sie vieles an Hamburg oder Bremen erinnern. Oder an Skandinavien. In Tallinn, jahrhundertelang wichtiger Hafen der deutschen Hanse, sind Helsinki und die finnische Küste nur noch 80 Kilometer entfernt. Schon zu Sowjetzeiten haben die Esten die Fernseh- und Radioprogramme ihres nördlichen Nachbarn empfangen. Was ganz unterschiedliche Konsequenzen hatte. Einerseits lieferten die westlichen Werbespots die Vorlage für die Schnittmuster, nach denen die Hauptstädterinnen ihre Kleider und Jeans nähten. Zum anderen aber hörten die Esten zu Sendeschluss im finnischen Rundfunk ihre von den Kommunisten verbotene Nationalhymne. Eigentlich war es natürlich die finnische Hymne, doch deren Melodie ist mit der estnischen identisch. Dass die Esten sie nie vergessen haben, ist auch Radio Helsinki zu verdanken. Wenn Ihre Reise in Vilnius beginnt und in Tallinn endet, dann werden Sie etwa zur Halbzeit Riga erreichen. Und hier in der Hauptstadt Lettlands könnten Sie zum ersten Mal das Gefühl haben, im Osten Europas, in der »?östlichen Form?« der europäischen Zivilisation, angekommen zu sein. Zumindest haben Teilnehmer meiner Reisegruppen mir das immer wieder gesagt. Jenseits des neuen Hauptbahnhofs, in einem Viertel, das seit der Zarenzeit »?Moskauer Vorstadt?« heißt, scheint in der Tat eine andere Welt zu beginnen. Eine ländliche Welt mit heruntergekommenen Holzhäusern in verwilderten Gärten. Eine ärmere Welt, wo Rentnerinnen in Straßenunterführungen gebrauchte Kleider verkaufen und aus altersschwachen Kassettenrekordern russische Schlager tönen. In der Mitte aber erhebt sich unübersehbar das Gebäude der Akademie der Wissenschaften in stalinistischem Zuckerbäckerstil. Tatsächlich ist es Moskau gelungen, während der sowjetischen Herrschaft in der lettischen Hauptstadt so viele Russen anzusiedeln, dass sie dort heute 40 Prozent der Bevölkerung stellen. 2009 wurde sogar ein Russe zum Bürgermeister von Riga gewählt, auch wenn er natürlich fließend Lettisch spricht. Doch zur östlichen Zivilisation später mehr. Welch Veränderung. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren es die Deutschen, die in Riga die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. In der Richard Wagner Hitlers Lieblingsoper »?Rienzi?« schrieb und Heinz Erhardt als Sohn eines deutsch-baltischen Kapellmeisters geboren wurde. Heute jedoch scheint das Baltikum für viele Deutsche weiter entfernt zu sein als Ägypten oder die Kanarischen Inseln. »?Brauchen Sie für eine Reise nach Vilnius kein Visum???«, wurde ich am Abfertigungsschalter der Lufthansa am Flughafen Berlin-Tegel gefragt. Das war nicht etwa in den Achtzigerjahren, sondern 2010, sechs Jahre nachdem Litauen ebenso wie Estland und Lettland in die Europäische Union aufgenommen worden war. Drei Jahre nach ihrem Beitritt zum Schengener Abkommen. Für die Einreise ins Baltikum ist daher heute nicht einmal mehr ein Personalausweis nötig. Den braucht man nur bei der Abfertigung der Lufthansa. Doch nicht nur die Angestellte in Tegel, auch Freunde kommen ins Grübeln. Kaum hat man ihnen zehn Minuten lang von der bevorstehenden Reise erzählt, da trauen sie sich schließlich, schüchtern zu fragen?: »?Das Baltikum, wo liegt das eigentlich?? Hat das irgendetwas mit Balkan zu tun???« Welch Überraschung, dass zumindest der Taxifahrer, der mich zum Flughafen brachte, wusste, wohin die Reise ging. Doch dieser war, wie sich schnell herausstellte, aus Polen. Und die Polen betrachten Vilnius, Wilno, wie sie es nennen, ja noch immer als polnische Stadt. Tatsächlich gibt es fast keine direkten Flüge von der deutschen in die litauische Hauptstadt. Wenn Sie dorthin wollen, müssen Sie einen Stopp in Warschau, Riga oder gar Helsinki einlegen. Meist fliegt man jedoch über Frankfurt, wo sich zweimal am Tag Litauenreisende aus ganz Europa am Abfertigungsschalter treffen. Nicht nur die Deutschen, sondern auch Franzosen haben das Baltikum als neues Reiseziel entdeckt. Nach dem Beitritt zur EU stiegen die Besucherzahlen fast jedes Jahr um mehr als zehn Prozent. Nach Estland reisen jedes Jahr etwa so viele Touristen, wie das Land Einwohner hat, gut eine Million. Was sich jedoch weniger in den Weiten des Landes, sondern vielmehr in der Hauptstadt Tallinn bemerkbar macht. Da der Tourismus sich auf die wenigen Sommermonate Juni bis August konzentriert, müssen Sie aufpassen, Ihren Guide hier nicht zu verlieren und sich plötzlich zwischen Japanern oder Russen wiederzufinden. Letztere machen rund 40 Prozent der ausländischen Gäste im Baltikum aus, die Deutschen liegen bei knapp 25 Prozent. Abwechselnd haben die Sowjets und die Deutschen im letzten Jahrhundert die baltischen Staaten mit ihren Armeen erobert und besetzt. Nun kommen sie als Besucher wieder. Allerdings gibt es selbst unter denjenigen, die sich für einen Urlaub im Baltikum entschieden haben, einige Unsicherheit, wohin sie da eigentlich reisen. Wer sind die Balten, und woher kommt der Name Baltikum - Fragen, die gar nicht so einfach zu beantworten sind. Und durchaus vertreten auch viele Balten - oder besser viele Litauer, Letten und Esten - die Ansicht, dass die Bezeichnung ihren Nationen und deren unterschiedlicher Kultur nicht unbedingt gerecht wird. Die Unterschiede werden auch Ihnen auffallen. In Tallinn wird ständig irgendwo gesungen, in Riga dagegen spielen Mädchen an jeder Straßenecke Geige. In Vilnius sind die Frauen - glaubt man den Französinnen - am besten gekleidet, was die »?Pariserinnen des Ostens?«, die Lettinnen, natürlich gar nicht gern hören. In Litauen gibt es die besten Kuchen, sagen die Österreicher, und die müssen es ja wissen. Mit über 11 000 Paaren hat das Land außerdem die meisten Störche weltweit. Das sagt die Statistik. Die Menschen in Lettland gelten als laut und fröhlich. Die Esten dagegen als stolz und schüchtern - weil sie die kleinste der drei Nationen sind. Das sagen zumindest die größeren Nationen, die doppelt (?Lettland?: 2 Millionen?) oder dreimal so viele Menschen (?Litauen?: knapp 3 Millionen?) zählen. Die Litauer glauben katholisch, Esten und Letten dagegen protestantisch. Sofern sie keine Atheisten sind und überhaupt nichts mehr glauben - was vor allem auf das Internetland Estland zutrifft. Vielleicht hängt beides ja miteinander zusammen. Litauisch und Lettisch sind uralte baltische Sprachen, die wie Deutsch oder Russisch zur indogermanischen Sprachfamilie gehören. Das Estnische ist dagegen eine finnougrische Sprache, auch deshalb können die Esten so gut das finnische Fernsehprogramm verstehen. Das Ungarische ist dagegen schon etwas weiter entfernt. Die unterschiedlichen Sprachen sind im Übrigen der Grund, warum die drei Nationen sich nicht verstehen. Sprachlich gesehen. Um sich zu verständigen, benutzte man früher Russisch, heute immer öfter Englisch. Was auch Ihnen hilft, die Balten zu verstehen. Neben den Unterschieden gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten. Die wichtigste?: Gemeinsam erkämpften Letten, Esten und Litauer ihre Unabhängigkeit von Moskau. Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, bildeten zwei Millionen Balten eine Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn. Gute 600 Kilometer war sie lang und führte oft durch menschenleere Gegenden. Jeder vierte Einwohner war damals auf der Straße und sang »?Das Baltikum erwacht?«. Eine größere Menschenkette hat es auf der ganzen Welt nie gegeben. Und vielleicht auch keine wichtigere. Zum ersten Mal erwähnt wurde der Name Baltia von dem römischen Geschichtsschreiber Plinius zu Beginn unserer Zeitrechnung. Doch bezeichnete er damit wohl eine große Insel mit reichem Bernsteinvorkommen. Ganz so genau weiß man das nicht. Ebenso wenig endgültig geklärt ist, woher das Wort balt etymologisch stammt. Manche leiten es von dem dänischen Begriff für Meerenge, bælt ab. In den baltischen Sprachen, im Litauischen und Lettischen, bedeutet der Wortstamm balt dagegen »?weiß?«. Weiß ist ja auch die Ostsee, wenn der Sturm über sie peitscht - weshalb sie in vielen Sprachen »?Baltisches Meer?« heißt. Im Flugzeug von Frankfurt nach Vilnius ertönen die Ansagen der Stewardessen nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch auf Litauisch. Dabei ist das eigentlich überflüssig, denn Sie werden selten einen Einheimischen treffen, der nicht zumindest eine europäische Sprache beherrscht. Meist sind es sogar mehrere. So wie bei jener jungen Frau, die aus Brüssel kam und sich mit den Passagieren, die neben, vor und hinter ihr saßen, auf Deutsch, Französisch und Englisch unterhielt und dabei noch an einem sonnengelben  Schal strickte. Die Litauerin hatte wegen eines gut bezahlten Jobs in den Neunzigerjahren ihre Heimat verlassen. Nun hieß ihr Ziel Kurische Nehrung, auf der sie mit ihren Eltern wie jedes Jahr eine Woche Urlaub verbringen wollte. Die Kurische Nehrung ist eine von hohen Sanddünen geprägte schmale Landzunge an der Ostsee zwischen Königsberg und Memel. In Reiseführern wird sie gern als Sehnsuchtslandschaft der Deutschen beschrieben. Als magisches Bild eines Deutschen Reiches, eines Ostpreußen, das es nicht mehr gibt. Thomas Mann hatte hier ein Sommerhaus gebaut, deutsche Expressionisten wie Lovis Corinth oder Karl Schmidt-Rottluff haben sich von den Farben der über dem Haff untergehenden Sonne beeinflussen lassen. 1944 flohen die Deutschen, und nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Sowjetführung an der Memelmündung gewaltige fischverarbeitende Betriebe. In der völlig zerstörten Stadt Memel aber, die auf Litauisch Klaipeda heißt, ließ sie Menschen aus vielen anderen Teilen ihres Reiches ansiedeln. Doch schon vor dem Zerfall der Sowjetunion erinnerten sich die neuen Bewohner Klaipedas an die alten deutschen Traditionen ihrer Heimatstadt. Das im Krieg verschwundene Denkmal für den Dichter Simon Dach und sein »?Ännchen von Tharau?« wurde neu errichtet. Dies war ein ziemlich großes Zeichen einer kleinen Nation gegenüber einem jahrhundertelang übermächtigen Nachbarn. Es ist nicht ganz einfach zu erklären, aber irgendetwas rührte mich, als ich von den Urlaubsplänen der jungen Litauerin aus Brüssel hörte. Das alte Ostpreußen war so zu einem Teil des neuen Europa geworden. Und - Sie werden es bei Ihrem Besuch auf der Kurischen Nehrung erleben - es ist ein ziemlich schöner Teil. Wie klein diese Nation, wie klein dieses Land mit seinen gut drei Millionen Einwohnern ist, können Sie zum ersten Mal bei der Landung in Vilnius auf dem oro uostas erfahren. Die Ankunftshalle des Flughafens würde in den Stuttgarter Hauptbahnhof - in den alten, nicht den imaginären neuen - wohl zweimal hineinpassen. Ganze 30 Flieger starten hier am Tag, doch es gibt immerhin eine Direktverbindung ins ägyptische Scharm el-Scheich, wo auch die Litauer gern Urlaub machen. Vom Flugplatz bis ins Stadtzentrum werden Sie mit dem Bus gerade einmal 15 Minuten brauchen, und dabei haben Sie dann schon eine Stadtbesichtigung hinter sich. Erster Eindruck?: Die Menschen müssen arm sein, schaut man sich die heruntergekommenen Häuser an. Zweiter Eindruck?: Die Menschen müssen reich sein, so groß, neu und teuer sind die Autos, die vor diesen Häusern stehen. Auch in Deutschland dürfte ein leitender Angestellter dafür einen halben Jahreslohn auf den Tisch legen. Hier jedoch beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen gerade einmal 650 Euro. Mutmaßungen über die Mafia kommen auf. Oder sind die Autos auf Pump gekauft?? Tatsächlich ist auch dies eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Denn natürlich gibt es auch hier jene »?Oligarchen?«, die wie in Russland die staatseigenen Industriebetriebe zum Spottpreis erwarben und so die Grundlage für ihren immer weiter wachsenden Reichtum schufen. Doch so viele Oligarchen wie Porsche Cayenne kann es gar nicht geben. Also doch auf Pump?? Ja, sicher, doch das ist ja auch bei uns kaum anders. Und außerdem?: Ein Durchschnittseinkommen ist eben nur ein Durchschnittseinkommen. Oft hat ein Litauer ebenso wie ein Este oder Lette zwei Jobs, seine Frau verdient mit, und Obst und Gemüse kommen aus dem Garten des Wochenendhauses. Nur auf diese Weise kann man erklären, wie die Balten es schaffen, für Autos und Kleidung, aber immer öfter auch für Lebensmittel Preise zu zahlen, die nur noch wenig unter dem deutschen Niveau liegen. Natürlich gibt es auch Litauer, die das nicht können. Es sind in erster Linie Rentner, und das, obwohl auch viele von ihnen arbeiten. Doch alte Menschen sieht man kaum. Das ist der dritte Eindruck?: In Vilnius scheinen nur junge Leute zu leben. Junge Frauen und junge Männer, die an diesem Freitagnachmittag in den Straßencafés sitzen und von jungen Frauen und jungen Männern bedient werden. Nur am Morgen des nächsten Tages, da werden Sie in den Straßen von Vilnius weder alten noch jungen Menschen begegnen. Menschenleer wird die Stadt am Samstagmorgen sein. Denn am Wochenende, da wird im Baltikum gefeiert. Zumal im Sommer, wenn es eigentlich nie richtig dunkel wird, der Tag bis spät in die Nacht oder besser bis zum frühen Morgen dauert. Das Wochenende beginnt am Freitagnachmittag, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem Sie sich fragen werden, warum so viele der blonden, schlanken Frauen plötzlich bunte Abendkleider tragen. Dann, wenn Sie immer mehr dieser acht, neun, zehn Meter langen amerikanischen Stretchlimousinen sehen. Denn am Wochenende, da wird in Litauen geheiratet, und zwar mit allem Pomp, den die neue Zeit hergibt. Manche Beobachter sind sogar der Ansicht, die Scheidungsquote sei deshalb so hoch, damit die jungen Frauen und Männer ein zweites Mal heiraten können. Und so stehen ab Freitagmittag die Hochzeiter vor den Kirchen von Vilnius Schlange. Kirchen, deren barocke Türme Sie schon von oben kennen. Jung, reich, fröhlich - ist das Vilnius, Litauen, das Baltikum?? Wir werden sehen. Ab und zu, wenn die Sonne zwischen den Wolken hervorkommt, beginnen die Turmkreuze inmitten der heidnischen Sonnensymbole zu leuchten. Ankunft im Baltikum. Die Reise kann beginnen.
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