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E-Book

Gesundheit und Krankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung

AutorMeindert Haveman, Reinhilde Stöppler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl408 Seiten
ISBN9783170239159
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Die gesunde Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung an der Gesellschaft kann nur gelingen, wenn die beteiligten Disziplinen Pädagogik, Medizin und Psychologie eng kooperieren. Über ein gemeinsames Fachvokabular hinaus ist dafür ein praxisnaher gemeinsamer Wissensbestand zum Thema Krankheit und Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung notwendig. Gerade auf diesem Themenfeld entwickelte sich in den letzten Jahren ein neues Verständnis körperlicher und psychischer Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung und der Möglichkeiten ihrer medizinisch-pädagogischen Begleitung sowie gesellschaftlichen Teilhabe. Der Band liefert über die Grundbegriffe und Grundkonzepte des Umgangs mit Krankheit und Gesundheit hinaus das Basiswissen hinsichtlich der Entwicklung, der Erkrankung, der Diagnostik, Prophylaxe, Gesundheitsförderung und Prävention.

Prof. Dr. Meindert Haveman und Prof. Dr. Reinhilde Stöppler lehren an den Universitäten Dortmund bzw. Gießen.

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Leseprobe

1          Einführung in die Thematik


 

»Gesunder = Ein Mensch, der nicht oder noch nicht gründlich genug untersucht wurde«

(Autor unbekannt)

»Gesundheit« und »Krankheit« sind Faktoren, die unser subjektives Wohlbefinden stark beeinflussen, nämlich in der Form von Erwartungen, Hoffnungen, Glück, Kompetenzen, Unsicherheiten, Ängsten, Einsamkeit und Konflikten. Gesundheit ist gleichzeitig die wichtigste Bedingung für Lebensqualität. Man könnte es auch so formulieren: Wenn der Mensch an heftigen Schmerzen leidet oder durch Krankheit stirbt, ist Lebensqualität ein irrelevantes Thema. Die Medizin gibt Grenzen an und schafft gleichzeitig Freiräume für Entscheidungen über Leben und Tod sowohl am Anfang als am Ende des Lebens, nämlich bei der Schwangerschaft und bei terminalen Erkrankungen. Die wesentliche Funktion der Medizin sollte jedoch sein: die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von »Gesundheit« und die Steigerung der Lebenserwartung und der Lebensqualität. Sowohl für den Arzt als auch für den Pädagogen ist vor allem das Erreichen einer optimalen Lebensqualität des Menschen ein zentrales Konzept für die Begleitung. Dies gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen.

In ihrer Publikation zu Gesundheit und Behinderung formulieren die vier deutschen Bundesverbände der Behindertenhilfe die Beziehung der medizinischen Hilfen zur Lebensqualität wie folgt:

»Gesundheit ist stets und für alle Menschen ein wichtiges Element von Lebensqualität, ein wichtiger Einflussfaktor auf Lebensqualität und eine wesentliche Voraussetzung für möglichst uneingeschränkte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Deshalb sind gesundheitsbezogene Hilfen und Leistungen ein wichtiges, integratives Element der umfassenden Förderung von behinderten Menschen zur Überwindung von Behinderungsfolgen und zur Partizipation. Umfassende gesundheitsbezogene Leistungen sind mehr als die bloße Erfüllung eines gegebenen Anspruchs auf Vorbeugung, Linderung oder Beseitigung von Gesundheitsstörungen, Krankheiten usw.; vielmehr sind umfassende gesundheitsbezogene Leistungen wesentliche Voraussetzung für das Wirksamwerden aller übrigen Hilfen und Unterstützungen zur Partizipation.« (BEB, 2001, 7)

Für Menschen mit geistiger, insbesondere aber mehrfacher Behinderung sind Gesundheitsleistungen und pädagogische Hilfen oft Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, dazu gehören beispielsweise Kommunikationssysteme oder Mobilitätshilfen.

1.1       Enthospitalisierung und inklusive medizinische Begleitung


Zu lange wurde bei somatischen und psychiatrischen Problemen über die Köpfe der Patienten entschieden, welche Therapien und Behandlungen für sie wichtig waren. Es wurde kaum Zeit darauf verwendet, sie über Gesundheitsprobleme zu informieren, nachzufragen, ob die Informationen verstanden und verarbeitet wurden, und vielfach wurde auch versäumt, sie um Zustimmung für eingreifende Formen der Diagnostik und Behandlung zu fragen. Dies galt nicht nur für Kinder, sondern auch für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung.

Viele von ihnen verblieben in großen Wohneinrichtungen. In den meisten westlichen Gesellschaften werden oder wurden diese Anstalten und Großeinrichtungen im Zuge der Enthospitalisierung geschlossen. In diesem Kontext wird auch der Begriff »Deinstitutionalisierung« gebraucht. Der Begriff der Deinstitutionalisierung ist der treffendere, da mit diesem Begriff der Kultur- und Religionssoziologie der allmähliche Verfall von bestehenden gesellschaftlichen Werten aufgezeigt wird. Enthospitalisierung, die Verkleinerung und Aufhebung der Großeinrichtungen, ist eher eine der Konsequenzen einer umfassenden Werteverschiebung (Deinstitutionalisierung) in unserer Gesellschaft hinsichtlich der Position des behinderten Menschen. Der Begriff »Enthospitalisierung« verweist dabei auf sowohl die Loslösung des behinderten Menschen aus einem medizinischen Modell, das alle Lebensbereiche umfasste, als auch auf die Implementation von gemeindeintegrierten Wohnalternativen.

Viele der ehemaligen Bewohner dieser großen Einrichtungen sind heute Teil der Gesellschaft und erhalten medizinische Dienstleistungen zusammen mit anderen Bürgern. Menschen mit geistiger Behinderung fallen in den meisten Fällen bei medizinischen Fragen nicht mehr in den Verantwortungsbereich des institutionellen Personals, sondern in die Zuständigkeit der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Dies gilt nicht nur für Menschen mit Formen leichter oder mäßiger geistiger Behinderung, sondern immer mehr auch für Menschen mit Schwerstbehinderungen und komplexer medizinischer Problematik. Die Einrichtungen für Menschen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen hatten die Merkmale, dass sie groß und institutionell ausgerichtet waren, eher losgelöst von der Gesellschaft standen und medizinisch-pflegerisch ausgerichtet waren. Das Prinzip der medizinischen Verwaltung aller Lebensbereiche in Anstalten voriger Jahrzehnte, wobei Fremdbestimmung und abgeschiedenes Gruppendasein eine wichtige Rolle spielten, wird heutzutage eingetauscht gegen das Prinzip des dezentralen und selbständigen Wohnens in der Gesellschaft. Selbstbestimmung spielt dabei eine große Rolle, aber auch eine Trennung der Lebensbereiche des Wohnens, der Arbeit, der Freizeit und der medizinischen Begleitung. Im traditionellen Modell wurde der Akzent der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung auf Verbleib an einem Ort, Gruppendenken, Stabilität des Verhaltens, Sicherheit und Sondererziehung und -behandlung gelegt. Bei der heutigen Begleitung wird dies oder soll dies verlagert werden auf neue Akzente der Mobilität, Förderung der Individualität und des Selbstbewusstseins, Toleranz der Variabilität von Verhaltensweisen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Rollen, Mut zum Risiko und Erkundung von Neuem sowie Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten und Institutionen – also auf ein Leben, wie es jedem anderen Bürger freisteht zu führen.

Der Auszug aus dem Schonraum der Institutionen hat positive Konsequenzen für die Rechtsposition, Gesundheit und die Qualität des Lebens, impliziert aber auch einige neue Gesundheitsrisiken. Die großen Wohnzentren bemühten sich vor einigen Jahrzehnten wenig um die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit, Aktivitäten in der Gemeinschaft und die Entwicklung sozialer Beziehungen ihrer Bewohner. Auch hatten die Bewohner im Vergleich mit anderen Bürgern weniger Zugang zu Maßnahmen der Früherkennung von Krebs, kardiovaskulären Erkrankungen, Anämie, Grippeschutzimpfung, Hörgeräten und Brillen (Kerr et al., 2003). Für Menschen mit komplexen gesundheitlichen Bedürfnissen, die gemeindenah betreut werden, besteht heutzutage bei Begleitern und im sozialen Umfeld mehr Interesse für soziale Aspekte wie Erwachsenenbildung, Selbstbestimmung und soziale Integration.

Auch soll nach Vorbildern des Auslands die Infrastruktur der medizinischen Dienste und Unterstützung so entwickelt und angepasst werden, dass es auch Menschen mit geistiger Behinderung und komplexen Gesundheitsproblemen ermöglicht wird, in kleineren und gemeindenahen Wohnungen zu leben. Bei den meisten Modellen im Ausland wird dabei in der Pflege und Begleitung durch ein Team von Medizinern und verbundenen medizinischen Fachkräften eng mit der Familie und der Person mit der Behinderung kooperiert. Diese Dienste bieten entweder direkt oder sorgen für die Bereitstellung …

•  … von hochindividuellen Support-Teams, wobei eine Schlüsselkraft für den Kontakt mit den Klienten und der Familie eingesetzt wird zur Koordinierung der Pflege einschließlich:

–  Bereitstellung von Technologie, um das Leben in der Gemeinschaft zu unterstützen

–  Hausbesuche für Diagnostik und Folgeabsprachen/-konsultationen

–  Absprachen mit Ärzten, Fachärzten, Krankenschwestern und anderen medizinischen Fachkräften

–  Entwicklung der medizinischen Versorgungspläne und Notfall-Protokolle

–  Unterstützung und Klientenzentrierte Fürsprache bei Krankenhausaufenthalten

•  … flexibler individueller Unterstützung einschließlich:

–  der Fähigkeit, einen individuell passenden Satz von Ressourcen und Unterstützung für jeden Einzelnen zu finden oder zu entwickeln

–  der Ausbildung der Person mit Behinderung in Gesundheitsfragen, ihrer Familie, Freunden und der Mitarbeiter (AIID, 2006, 42).

Der Exodus der Menschen mit Behinderungen aus den großen Wohneinrichtungen hat ihre Krankheiten mehr sichtbar gemacht, ist aber auch Anlass zur Sorge. Es ist heute sichtbar und deutlich, dass die Gesundheit von...

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