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E-Book

Besser denken

AutorHartwig Hanser
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783864155659
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
In diesem Buch versammelt Hartwig Hanser, Chefredakteur des Magazins Gehirn & Geist, Texte zum Thema Denken. Namhafte Autoren wie Vera F. Birkenbihl, Gregor Staub, Manfred Lorenz, Maja Storch und Jürg Mehlhorn, um nur einige zu nennen, haben ebenso spannende wie fundierte Texte zum Thema beigesteuert. Entstanden ist eine beeindruckende Sammlung zum Thema 'Gehirn & Geist'.

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Leseprobe

MNEMOTECHNIK 1
Bilder hinter Tempelsäulen


Am besten können wir uns Dinge einprägen, wenn wir sie uns als Gegenstände in einem imaginären Raum vorstellen

VON MICHAEL SPANG

Das Unglück geschah aus heiterem Himmel. Gerade war der Hauptgang des Menüs aufgetragen worden, als plötzlich die Decke des Festsaals einstürzte und die Gäste unter sich begrub. Außer dem Dichter Simonides, der kurz zuvor das Haus verlassen hatte, überlebte keiner der Geladenen den Einsturz. Viele der Opfer waren so stark entstellt, dass ihre Identifizierung schwer fiel. Doch Simonides wusste Rat: Im Geiste schritt er noch einmal die Festtafel ab und konnte so die Sitzordnung der Gäste komplett rekonstruieren. Von der Position der Verschütteten unter den Trümmern ließ sich wiederum auf ihre Identität schließen.


Die Gedächtnisstrategien antiker Denker


Diese Geschichte erzählt der römische Rhetoriker Cicero (106–43 v. Chr.) in einem seiner Lehrbücher. Ob sich die Episode tatsächlich so zugetragen hat, ist ungewiss – zu Ciceros Lebzeiten war Simonides schließlich bereits mehr als vierhundert Jahre tot. Doch zumindest der Legende nach veranlasste der tragische Dacheinsturz den griechischen Dichter, eine Merktechnik zu entwickeln, die sich vor allem für professionelle Redner als nützlich erweisen sollte. Denn in der Antike galten Politiker und Rechtsanwälte, die ihre Reden oder Plädoyers vom Blatt ablasen, als Stümper. Wer nicht im Kopf hatte, was er sagen wollte, stand wohl kaum mit voller Überzeugung dahinter – so die gängige Meinung. Umso wichtiger war es für griechische und römische Rhetoriker, über eine Methode zu verfügen, mit der sie sich einen komplexen Argumentationsstrang einprägen und bei Bedarf wieder abrufen konnten.

Worin bestand nun der Gedächtniskniff, den Simonides entdeckte? Dem Dichter war aufgefallen, mit welcher Leichtigkeit er im Geiste den in Wirklichkeit gar nicht mehr existierenden Festsaal auf und ab spazieren und sich dabei die Sitzordnung der Gäste in Erinnerung rufen konnte. Hätte Simonides nur eine nummerierte Liste mit den Namen der Anwesenden zur Verfügung gehabt, hätte er sich die Abfolge der Personen am Tisch wohl nicht so präzise eingeprägt. Offensichtlich kommt es der Funktionsweise unseres Gedächtnisses sehr entgegen, wenn wir Namen, Dinge oder Begriffe, die wir uns merken wollen, visuell räumlich anordnen.

Wer schon einmal Memory gespielt hat, weiß: Nur weil die Kärtchen räumlich vor uns ausgebreitet liegen, finden wir eine bestimmte Bildkarte oft intuitiv, ohne zu überlegen. Wüssten wir bloß die abstrakten Koordinaten der einzelnen Motive – etwa „zweite Spalte, fünfte Karte“ –, könnten wir uns kaum die vielen verschiedenen Positionen einprägen. Diese Besonderheit unseres Gedächtnisses haben auch schon Generationen von Schülern bei Vokabeltests erfahren: Sie können sich partout nicht an die Bedeutung der abgefragten Wörter entsinnen – wissen aber noch ganz genau, dass der betreffende Begriff in der vorletzten Zeile der vierten Seite im Vokabelheft steht!


Wie bei Memory


Auch die Gedächtnistheoretiker des Altertums kannten schon diese Eigenheit unseres Erinnerungsvermögens und entwickelten auf ihrer Grundlage eine spezielle Mnemotechnik. Sie beruht im Wesentlichen auf denselben zwei Elementen, auf die es auch beim Memory-Spielen ankommt: Es gilt, im Geiste Bilder (imagines) an bestimmten Orten (loci) abzulegen, die man danach wieder in einer zuvor festgelegten Reihenfolge abschreiten kann. Dazu muss jeder für sich selbst ein individuelles Ortssystem entwickeln, in dem er Begriffe, Stichworte oder Gedanken deponieren und nach Bedarf wieder abrufen kann.

Die antiken Lehrbücher empfahlen öffentliche Bauwerke wie Tempel oder Versammlungsgebäude als räumliche Erinnerungsstützen. Hinter Säulen, neben Statuen oder in Nischen gab es zahlreiche Möglichkeiten, Gedächtnisbilder mental zu deponieren und beim gedanklichen Abschreiten des Gebäudes wieder aufzugreifen. Allerdings sollte man sich dazu in diesen Räumlichkeiten sehr gut auskennen. Als nahe liegendes und persönliches Ortssystem eignet sich daher zunächst einmal die eigene Wohnung.

In diesem „Merkraum“ definieren wir auf einer festgelegten Route eine bestimmte Reihenfolge von Orten: erst das Tischchen im Flur, dann der Spiegel an der Wand, der Wohnzimmertisch, das Sofa, das schwarze Regal über dem Fernseher und so fort. Wichtig ist, immer die gleiche Abfolge im Geiste beizubehalten. Nur so können wir uns ein fixes Ordnungssystem einprägen, das wir dann mit immer neuen Inhalten füllen können. Hat man eine Weile mit einem einfachen Parcours – etwa zehn Orte in drei Räumen – gearbeitet, lassen sich weitere Zimmer hinzufügen, was den Erinnerungsspeicher vergrößert. Ganz wesentlich für die Entwicklung eines solchen Ortsgedächtnisses ist regelmäßiges Training. „Ohne dauernde Übung“, ermahnt auch das anonyme römische Rhetoriklehrbuch Ad Herennium seine Leser, „bleiben die Regeln nahezu wirkungslos. Du musst dafür sorgen, dass du möglichst viele, nach den Regeln ausgedachte Orte zur Verfügung hast. Und das Anbringen der Bilder muss täglich trainiert werden.“ Antike Rhetoriklehrbücher schildern mit Vorliebe phänomenale Gedächtnisleistungen, wie sie auch heute noch manchmal den spektakulären Mittelpunkt von Samstagabend-Fernsehshows bilden. Da ist von Leuten die Rede, die sich eine bloße Aufzählung von zweitausend Namen merken und anschließend fehlerfrei herunterspulen. Andere können Gedichte nach einmaligem Hören vollständig wiedergeben – mit umgekehrter Reihenfolge der Verse! Denn hat man sich einmal eine feste Abfolge von Gedächtnisorten zugelegt, kann man sich vorwärts wie rückwärts daran entlanghangeln. Die Reihenfolge der Worte, die man sich eingeprägt hat, lässt sich dann auch ohne weiteres umdrehen.

Während also das Ortssystem bis auf Erweiterungen möglichst unverändert bleiben soll, gilt bei den zu merkenden Objekten das Gegenteil: Jedes muss anders und möglichst unverwechselbar eingespeichert werden. Denn während wir uns an den Gang durch unsere Wohnung deshalb so gut erinnern, weil er uns so vertraut ist, müssen wir die wechselnden Gedächtnisinhalte höchst kreativ in eindrucksvolle und vielleicht sogar skurrile Bilder packen – eine Kartoffel etwa als Meteor im Sturzflug oder als Haus für Käfer, komplett mit Fenstern und Türen.

Das Lehrbuch Ad Herennium erklärt das mit einer einfachen, alltagspsychologischen Einsicht: An „unbedeutende, gewöhnliche und banale Dinge können wir uns in der Regel nicht erinnern“. Wenn wir jedoch „etwas Gemeines, Niederträchtiges, Ungewöhnliches, Großes, Unglaubwürdiges oder Lächerliches sehen oder hören, werden wir daran wahrscheinlich lange denken“. Auf- und Untergang der Sonne seien alltäglich, Sonnen- und Mondfinsternisse hingegen würde man nicht so leicht vergessen. Entscheidend ist deshalb, Bilder auszuwählen, die uns emotional in irgendeiner Weise ansprechen.


Steffi wird zum Tennisschläger – Außergewöhnliches prägt sich ein


Antike Gedächtnistrainer hatten dafür zwei Strategien parat, die auf dem Wort- und dem Sachgedächtnis basierten. Beide stehen uns zur Verfügung, wenn wir zum Beispiel eine Liste von Namen auswendig lernen wollen, ohne dass wir uns – wie damals Simonides – an eine tatsächliche Sitzordnung bei Tisch erinnern. Das Wortgedächtnis benutzt ähnlich klingende Worte als Eselsbrücken: Markus können wir uns als Markstück vorstellen, Horst als Adlerhorst oder Peter als Pater. Das Sachgedächtnis hingegen verknüpft Namen und Dinge inhaltlich. Wer weiß, dass Friedrich der Große die Kartoffel in Deutschland heimisch gemacht hat, kann einen neuen Bekannten namens Fritz mit einer Kartoffel assoziieren. Genauso kann man sich auch den frisch eingezogenen Nachbarn Karl als Riesen vorstellen („Karl der Große“) und seine Frau Steffi – als Tennisschläger!

Schließlich müssen die Bilder auf die eingeübten Orte verteilt werden – und das möglichst originell: Dümpelt die Kartoffel im Wohnzimmer-Aquarium und schmilzt der Tennisschläger auf dem Küchenherd, können sie beim Gang durch die Wohnung leicht wieder in Erinnerung gerufen werden.


Die skurrile Einkaufsliste


Ein Beispiel aus dem Alltag: Wir wollen einkaufen gehen und uns eine Liste mit neun Artikeln einprägen: Eier, Käse, Spaghetti, Fisch, Brot, Seife, Butter, Salami und Schokoriegel. Es kommt nun darauf an, aus diesen Begriffen ungewöhnliche Bilder zu konstruieren und diese in einem Ortssystem abzulegen. Dazu stellen wir uns drei Räume einer Wohnung vor, in denen wir jeweils drei Artikel von unserer Einkaufsliste deponieren – und das möglichst bildhaft. Wir betreten also den Flur durch die Wohnungstür...

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