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Der Zug zur Börse
„Im Grunde agieren wir bereits wie ein börsennotiertes Unternehmen, wir sind es nur noch nicht.
Diesen Schritt gilt es nun zu tun. Man muss sich an den Erfolgreichen orientieren.“
Hartmut Mehdorn – die Lokomotive
Der Mann hat es eilig. Es geht um seinen Traum. Mit kurzen, schnellen Schritten durchquert er die Eingangshalle, die Rolltreppe lässt er links liegen, hastet die Treppe hinauf, dann nach rechts durch die Glastür. Alles scheint hier aus Glas zu sein. Blickt er hinaus, sieht er in seinen Bahnhof. Hell, modern, effizient, sauber, kein Obdachloser weit und breit. Nicht einmal ein Zug. Nur Geschäfte und Boutiquen. So mag er es. Eigentlich ist die „Austernbar“ hier ein schöner Platz für eine Feier mit ein paar Kollegen aus dem Vorstand; man könnte in kleiner Runde auf die Aktie „B“ anstoßen, auf das erfolgreiche Börsendebüt der Deutschen Bahn. Ein Börsengang ist so etwas wie die Krönung für einen Manager, der Ritterschlag der Welt des Kapitals.
Es ist November und es ist kurz vor 9 Uhr morgens. Morgens feiert man nicht. Für Träume ist es schon ein bisschen spät und um seinen steht es ohnehin schlecht. Hartmut Mehdorn ist jetzt 64 Jahr alt. Er setzt sich mit dem Rücken zu den Boutiquen und blickt in die Gesichter seiner gut 25 Gäste. Fast alle Journalisten sind gekommen, und er weiß, warum: Weil das Projekt Börsengang zu scheitern droht, weil sie darauf lauern, dass er in wenigen Minuten von seinem Traum Abschied nimmt. Viele glauben, Hartmut Mehdorn geht gleich mit.
Niemand wird ihm vorwerfen, er habe nicht alles getan. Sieben Jahre hat er gerackert, sein Job gilt als der härteste in der deutschen Wirtschaft. Die Deutsche Bahn, ein Staatsunternehmen und Milliardengrab, angeblich unsanierbar mit zehntausenden Beamten. Regelmäßig landet er bei Umfragen zu Deutschlands Topmanagern ganz unten. Und doch hat er getan, was ein Mann in dieser Position tun muss: Er hat Zehntausende von Arbeitsplätzen gestrichen, hat sich von Kunden, Gewerkschaften und Mitarbeitern beschimpfen lassen. Er hat Manager gefeuert und fast alle Vorstandskollegen ausgetauscht. Er hat Verräter aufgespürt, angeprangert und gefeuert.
Aber er hat noch mehr getan als das, was andere auch machen: Er hat Machtkämpfe mit seinem Chefkontrolleur aus dem Aufsichtsrat gewonnen und seine Kunden ermahnt, ihren Müll gefälligst nicht in seinen Zügen liegen zu lassen. Er hat den Verkehrsminister entmachtet und sich mit den Schwestern der Bahnhofsmission verkracht. Er hat eine Bundesministerin öffentlich als unfähig bezeichnet und eine Ausstellung über jüdische Kinder auf dem Weg ins KZ vorerst verhindert.
Er hat in sieben Jahren wenige Worte der Entschuldigung verloren und viele Feinde gewonnen.
Sicher, er muss viel einstecken in Deutschland, „wo die Menschen als erste Fremdsprache das Meckern lernen“: Die Züge spät, langsam oder zu teuer, die Schaffner muffelig oder die Bahn ist ein arroganter Monopolist. Und schuld daran ist natürlich sein Börsengang. Dann wird zurück gerempelt, gerauft, geschubst und geschimpft. Eine Lok unter Volldampf, der Kessel glüht und das Ventil muss auf.
Wohl nur solch ein Mann kann etwas so Schwerfälliges wie ein Staatsunternehmen mit 230.000 Beschäftigen, mächtigen Gewerkschaften und Politikern als Bremsklötzen voranbringen. Dahin, wo die Freiheit für das Unternehmen nach Überzeugung des Flugzeugingenieurs fast grenzenlos ist: Auf den weltweiten Logistikmarkt, mit milliardenschweren Investoren im Rücken, Asien und Amerika vor Augen und keine Politiker mehr im Weg, für die er seine ICE-Züge in Horb oder Siegburg zum Halten bringen muss, wie ein Kaufmann den Wagen im Mittelalter an jeder Zollstation. Wie er sie verachtet, diese sogenannten Verkehrsexperten, die überall mitreden wollen und am Ende doch nur seine Modellbahn im Maßstab 1:1 kaputt machen.
Er ist kein Nadelstreifenjurist, er ist Ingenieur und Hobbyschmied mit schwieligen Händen, fühlt sich im Lokschuppen wohler als im runden Saal des Verkehrsausschusses, wo doch eigentlich über den Börsengang entschieden werden soll.
Das alles darf er in der „Austernbar“ jetzt nicht sagen, jedenfalls nicht so offen: Stattdessen spricht er von einem hervorragenden Bahnjahr, dass das Unternehmen gut unterwegs ist, im Jahr 2006 richtig gutes Geld verdient habe und – natürlich – für die Zukunft „gut aufgestellt ist“. Diese Botschaft geht ihm leicht von den Lippen.
Aber dann muss er etwas sagen, das ihm – so hat es den Anschein – offenbar vorher aufgeschrieben wurde. Dass er nicht wisse, ob die Politik die Kraft für eine Entscheidung zum Börsengang habe. Und auf Nachfrage, ob es das dann gewesen sei mit seinem Projekt, entfährt ihm ein Satz, den er sich scheinbar selbst verboten hatte. „Das ist möglicherweise das Wahrscheinlichste“, sagt er. „Es wäre für uns sehr misslich, wenn wir fünf Meter vor dem Ziel abgewunken würden.“ Und er selbst? Aufgabe, Rücktritt, mit Frau ins Haus nach Südfrankreich?
Die Antwort: Zunächst ein leichtes Wippen der Füße, das setzt sich in den beiden kurzen Beinen fort, überträgt sich auf die kräftigen Arme, bis die erstaunlich breiten Hände mit der Handkante auf den Tisch donnern. Warum werde er das immer gefragt, gebe es da nicht andere? „Ich bin kein Handtuchwerfer!“, ruft er mit gepresster Stimme, als ob je jemand daran gezweifelt hätte.
Er hat gesagt, was er sagen musste.
Hartmut Mehdorn ist jetzt wieder ruhiger. Schweift sein Blick durch die Scheiben von „Austernbar“ und Bahnhofsfassade, bleibt er am Kanzleramt hängen. Dort wird jedes seiner Worte registriert, gespeichert, analysiert. Er hat zwar in den vergangenen Jahren schon viel getan, zuletzt aber hat er alles versucht: Er hat Angela Merkel einen Brief geschrieben, einen sehr langen Brief. Abgeschickt vor einer Woche. Der Bahnchef schreibt gern. Dieser an die „Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin“ klingt nicht so, wie er sich gewöhnlich ausdrückt. Deutlich ist er trotzdem: „Der politische Diskussionsprozess hat sich von dem Ziel, dem Unternehmen DB AG den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu bereiten, entkoppelt.“ Besonders das Verhalten der Union mache ihm in der Frage der Bahnprivatisierung Sorge, schreibt er der CDU-Vorsitzenden. Mit deren Verhandlungsführern habe er kürzlich erneut sprechen müssen. Solche Positionen „sollten nicht ernsthaft von einem verantwortungsbewussten Eigentümer vertreten werden“, hat er die Kanzlerin belehrt. „Ich habe inzwischen große Zweifel, ob am Ende des politischen Prozesses überhaupt eine umsetzbare Privatisierungsentscheidung stehen wird.“
Zwei Milliarden Euro brauche die Bahn dann statt des Börsengeldes erstmal aus der Staatskasse. „Ich bitte um Verständnis, dass ich mich in Sorge um unseren erfolgreich arbeitenden Konzern so klar und direkt an Sie wende...“, hat er geschrieben. Die Bahn als gefräßiges Monster des Staatshaushaltes – das muss doch wirken, das ist doch seit Jahrzehnten der Schrecken aller deutschen Politiker.
Mehdorn gibt dem ZDF vor der „Austernbar“ noch ein Interview. Dann steckt er die starken Hände in die Taschen, auf dem Weg zurück nimmt er die Rolltreppe.
Die Koalition der Unwilligen
Wenige Wochen vorher, am 21. September 2006, rollte an eben diesem Berliner Hauptbahnhof ein Zug ein, den der Bahnchef wohl gern gestrichen hätte: Unter rot-weißen und mit DB-Logo bemalten Bettlaken stoppt eine Truppe von Bahnfans auf dem Vorplatz, um anschließend von „Investoren“ ausgeschlachtet zu werden. Versteigert mit einem überdimensionalen Papphammer gehen Filetstücke von Zug und Bahn scheibchenweise weg. Aus dem Streckennetz der DB, aufgemalt auf einem Transparent, werden die attraktivsten Trassen herausgeschnitten. Zum Beispiel die Hochgeschwindigkeitsstrecke Frankfurt – Köln, mit Milliarden vornehmlich aus Steuergeld gebaut. Junge Männer mit Haaren voller Gel stecken sie sich gierig ein – ganz offenkundig Heuschrecken in schwarzen Anzügen.
Das Happening der Globalisierungskritiker um „attac“ bleibt keine Einzelaktion. Wenig später treffen sich die Privatisierungsgegner zum Kongress in Berlin, mehrere Hundert füllten einen Kinosaal zur Premiere des Films „Bahn unterm Hammer“ – eines Plädoyers gegen den Verkauf und für die Staats-...