1. Was ist Liebe?
1.1 Vom Wesen der Liebe
Das Phänomen der Liebe beschäftigt uns ständig. Wir machen uns Gedanken über unsere Beziehungen und merken schnell, wenn Liebe im Spiel ist oder wenn sie fehlt. Wir sehnen uns nach liebevoller Nähe und stellen wer weiß was an, um anderen liebenswert zu erscheinen. Nichts kann uns tiefer verletzen als eine lieblose Behandlung, die wir von anderen erfahren. Nichts kann unser Gewissen mehr belasten als die lieblose Behandlung, die wir anderen zukommen lassen. Liebe regt seit jeher die Künstler in jeder erdenklichen Weise an, und niemand könnte die Geschichten und Gedichte zählen, die dazu entstanden sind. Liebe ist als Thema allgegenwärtig.
Aber wenn uns jemand bitten würde, Liebe zu definieren, würde uns das vermutlich schwer fallen. Zu vielfältig sind die Ausdrucksformen der Liebe, zu persönlich das damit verbundene Erleben. Es gibt kein Rezept für das Lieben. Liebe kann jeder nur durch und für sich selbst erfahren.
Die Liebe, die Sie mit Ihrem Kind verbindet, ist einzigartig. Kein anderer Mensch auf der Welt empfindet für sein Kind ganz genau so wie Sie, kein anderer bringt seine Liebe auf exakt dieselbe Weise zum Ausdruck.
Liebe ist ein existenzielles Erleben, so viel ist immerhin klar. Es geht nicht ohne Liebe. Was der Sauerstoff für den Körper ist, das ist die Liebe für die Seele. Was der Sauerstoff im Körper bewirkt, weiß man inzwischen und kann es erklären. Aber warum ist Liebe so wichtig?
Erich Fromm hat dafür eine einfache und einleuchtende Erklärung: Die Liebe macht es uns möglich, die Getrenntheit zu überwinden. Liebe ist der Schlüssel, der den Kerker unserer Einsamkeit aufschließt. Unsere Liebe zu unseren Kindern macht das besonders deutlich: Wenn eine Frau ein Kind in sich trägt, sind die beiden auf engste Weise miteinander verbunden. Ist die Schwangerschaft beendet, endet auch diese Verbundenheit. Die einzige Möglichkeit, wie eine Mutter ihre Verbundenheit mit dem Kind aufrechterhalten kann, ist ihre Liebe zu ihm.
Wer liebt und geliebt wird, ist nicht mehr allein: er erfährt die tröstliche Nähe des anderen, seine bereichernde Gegenwart, die rettende Vereinigung. Wir lieben und streben nach Geliebt-werden, um der Angst zu entgehen: der Angst vor Isolation und Einsamkeit, die den Tod der Seele bedeuten würden. Ein Kind, das keine Liebe erfährt, keine zärtlichen Worte hört, keine liebevolle Berührung spürt, ist nicht lebensfähig. Fromm sieht im Überwinden des Getrenntseins sogar das grundlegendste Verlangen des Menschen. Wird es nicht befriedigt, so drohen Wahnsinn oder Vernichtung. Das wissen all jene, die Gefangene durch Einzelhaft brechen wollen, ganz genau. Es kann uns den Verstand und die psychische Gesundheit kosten, von der Welt getrennt zu sein. Wir brauchen die anderen und die gefühlsmäßige Nähe zu ihnen. Wer nicht genug Liebe erfährt, kann gefährlich werden – für sich und/oder für andere. Er kann in Selbsthass verfallen oder die Welt hassen. Amokläufer zum Beispiel sind niemals Menschen, die sich in der Gemeinschaft aufgehoben fühlen und durch die liebende Nähe der anderen genährt werden. Es sind immer Menschen, die sich als isoliert wahrnehmen.
Interessanterweise geht es den meisten von uns vor allem darum, Liebe zu erhalten. Wir wollen geliebt werden. Die eigene Fähigkeit zu lieben tritt hingegen in den Hintergrund. Die Frage, wie wir unsere Liebe zum Ausdruck bringen können, scheint uns weniger zu beschäftigen. Dabei weist schon die Bibel darauf hin, dass Geben seliger als Nehmen ist. Liebe ist in erster Linie ein Geben, ein Geschenk, das man anderen macht. Das Empfangen ist zweitrangig. Geben verschafft dem Liebenden mehr Freude, denn in der Handlung des Liebens, in der Gestaltung der eigenen Liebe zum anderen, wird die eigene Lebenskraft spürbar. Wir geben uns lustvoll liebevollem Tun hin.
Regina bereitet den vierten Geburtstag ihres Sohnes vor. Sie will eine Party für ihn geben und hat sich überlegt, alles unter das Motto „Indianer“ zu stellen, denn ihr Sohn ist seit Kurzem von Indianern fasziniert. Dazu hat sie im Internet ein großes Tipi bestellt, mit dem sie ihn und seine Freunde überraschen will. In einem Bastelbuch hat sie eine Anleitung gefunden, wie man aus großen Kartons Pferde bastelt. Jetzt sitzt sie jeden Abend, wenn ihr Sohn zu Bett gegangen ist, im Wohnzimmer und bastelt Pferde. Sie überlegt, welchen Kuchen sie zum Thema passend backen könnte und dass man im Garten ein Lagerfeuer anzünden könnte. Sie möchte die Geburtstagsfeier so schön wie möglich für ihren Sohn gestalten und freut sich schon auf sein Gesicht, wenn er sieht, was sie sich alles für ihn ausgedacht hat.
Wir lieben ein Kind zunächst, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und wir genießen es, unserer Liebe zu ihm Ausdruck zu verleihen. Wir verlangen nichts dafür, haben einfach nur Freude an ihm. Aber später erwarten viele Eltern Gegenliebe, und zwar genau in der Form, die sie sich wünschen. Sie wollen etwas ganz Bestimmtes zurückbekommen. Sie stellen Bedingungen. „Wir haben nachher keine Zeit zum Kuscheln mehr, wenn du mir jetzt nicht schnell hilfst, den Tisch abzuräumen.“ – „Gibst du mir denn auch ein Küsschen dafür, wenn ich dir helfe?“ usw. Das ist dann der Punkt, an dem die Beziehung kritisch wird.
Nils findet es selbstverständlich, dass seine Töchter Verantwortung für die Familie übernehmen. Die beiden sind zwölf und vierzehn Jahre alt und sollen beim Umbau helfen. Die Eltern haben beschlossen, einiges in der Wohnung neu zu gestalten, und Nils teilt den Mädchen Aufgaben zu. Wenn sie diese nicht zu seiner Zufriedenheit erledigen oder sich über die Arbeit beklagen, fühlt er sich von den beiden im Stich gelassen und reagiert, indem er sie beschimpft und gemeinsame Freizeit streicht. Sein Argument lautet: „Wenn ihr nichts für mich tut und mir nicht helft, hab ich auch keine Zeit und Lust, mit euch ins Kino zu gehen.“ Die Mädchen sind darüber anfangs traurig. Mit der Zeit gewöhnen sie sich daran, dass ihr Vater solche Tauschgeschäfte abschließt und grob zu ihnen ist. Sie reagieren trotzig: „Dann gehst du eben nicht mit uns ins Kino, ist uns doch egal!“, und sie weigern sich, dem Vater weiterhin zu helfen.
Erich Fromm definiert Liebe als ein aktives Streben nach der Entfaltung und dem Glück der geliebten Person. Wie könnte man aber solch eine Liebe zum Kind an Bedingungen knüpfen? Wie könnte man einem Kind sagen: „Ich bin nur dann bereit, für dein Wachstum und dein Glück Sorge zu tragen, wenn du mich auch liebst und mich glücklich machst“? Damit würde der Erwachsene die Verantwortung für sein eigenes Glück, für die Eltern-Kind-Beziehung und für das kindliche Glück in die Hand des Kindes legen. Dort gehört sie aber ganz sicher nicht hin. Es ist ja gerade ein Kennzeichen der Kindheit, dass sie der Anleitung und des Schutzes durch Erwachsene bedarf. Die gesamte Verantwortung liegt allein beim Erwachsenen! Indem der Erwachsene sein Glück vom Verhalten des Kindes abhängig macht, vertauscht er die Rollen. Er wird auf diese Weise selbst zum Bedürftigen und verlangt vom Kind, genährt zu werden. Das kann nicht gut ausgehen. Wir dürfen für unsere Liebe keine Gegenleistungen verlangen und von solchen Gegenleistungen auch nicht abhängig sein.
Liebe braucht innere Stärke. Wenn Lieben Geben bedeutet, dann kann der Liebende kein Bedürftiger sein. Er muss über einen gewissen Reichtum verfügen, von dem er dem anderen abgeben kann. Was haben Sie Ihrem Kind zu geben? Humor? Interesse? Verständnis? Freude? Zuversicht? Woran würde Ihr Kind überhaupt erkennen, dass es geliebt wird? In welcher Form beweisen Sie ihm Ihre Liebe?
Wir können nur geben, was wir selbst besitzen. Dem Kind Liebe zu geben heißt, genug Liebe für sich selbst zu haben. Wenn Sie sich selber schätzen und mögen, wenn Sie sich annehmen, dann können Sie auch gut zu sich selber sein und brauchen Ihr Kind nicht zu funktionalisieren. Sie können es um seiner selbst willen lieben. Sie missbrauchen Ihr Kind nicht dazu, dass es Ihnen gibt, was Sie sich selber nicht geben können. Sie brauchen keine Bestätigung vom Kind, weil Sie sich selber bestätigen können. Sie besitzen genug Selbstvertrauen, um sicher zu sein, dass Sie sich selber alles beschaffen können, was Sie brauchen. Sie können sich auf Ihre eigenen Kräfte verlassen, weil Sie sich stark fühlen. Aus dieser Stärke heraus...