Eiseskälte im Sommer
Das erste Mal starb ich mit siebzehn.
Ein heißer Spätnachmittag. Die Sonne brannte mit einer derartigen Intensität, dass sich alles, was Beine hatte, einen Schattenplatz suchte. Normalerweise herrschte im Nudistencamp La Chiappa an der Ostküste Korsikas um diese Zeit Hochbetrieb, doch jetzt war der felsige Badestrand genauso leer gefegt wie das Volleyballfeld, auf dem sich sonst die Feriengäste lautstarke Duelle lieferten. Und selbst Plastic Bertrand, dessen New-Wave-Hymne »Ça plane pour moi« stündlich aus den Radios schepperte, war verstummt. Alle hatten sich in ihre kleinen Steinbungalows zurückgezogen und hielten Siesta. Sogar Carlos, der Hund des Campbesitzers, hatte sich verzogen und kam nicht wie sonst wedelnd auf mich zu, als ich das Häuschen verließ, das ich mit meinen Gasteltern teilte, die ebenfalls ein Mittagsschläfchen hielten.
Ich war jetzt seit genau einer Woche auf Korsika. Barbara und Felix, Bekannte meiner Eltern, hatten mich eingeladen, um ihrer Teenagertochter Désirée, natürlich ein Einzelkind, Gesellschaft zu leisten. Dési und ich konnten uns auf den ersten Blick nicht ausstehen. Zwischen uns lagen zwar nur drei Jahre, aber diese drei Jahre waren eine halbe Ewigkeit. Für mich war sie eine verwöhnte Göre, die noch mit Barbies spielte, für sie war ich eine eingebildete Tussi.
Unsere einzige Gemeinsamkeit war die Liebe zu Nutella. Da wir beide Fisch hassten und es nicht viel anderes zu essen gab, war dies unser Hauptnahrungsmittel, und wir beäugten argwöhnisch, wie viel die andere jeweils verzehrte. Denn ein Nutella-Glas, das hatte Barbara so bestimmt, musste für drei Tage reichen. Verflixt wenig für zwei Teenager.
Das Wäldchen lag nur ein paar Schritte entfernt, aber schon diese kurze Strecke genügte, dass ich schweißnass wurde. Umso mehr genoss ich die Kühle, die mich augenblicklich umgab, als ich zwischen den schattenspendenden Bäumen mein Badetuch auf den Boden legte und es mir darauf bequem machte. Es herrschte eine solche Stille, dass ich für den Moment das Gefühl hatte, ich sei allein auf der Welt. Prompt blitzte ein unangenehmes Gefühl auf, das ich aber verscheuchte wie eine lästige Fliege.
War das Leben nicht wundervoll? Ich war in diesem Sommer das erste Mal ohne meine Eltern verreist. Diese Tatsache war für mich äußerst aufregend. Barbara und Felix hatten sich mächtig ins Zeug gelegt, um meine Eltern davon zu überzeugen, dass in einem Nudistencamp kein Sodom und Gomorra herrscht und Nudisten keine Perverslinge sind, sondern naturliebende Menschen, die sich ohne Kleider einfach wohler fühlen als mit.
Ich hatte mich allerdings noch nicht so ganz an die Textilfreiheit gewöhnt und schaute meist verschämt zur Seite, wenn sich Felix in ganzer Größe vor mir aufbaute. Ich trug auch Tag und Nacht einen kurzen, kirschroten Baumwollkimono, weil ich meine Blöße bedecken wollte. Bei den Volleyball-Matches war ich die Einzige auf dem Feld, die einen Faden auf dem Leib trug. Felix foppte mich deswegen gern. Als ich mich einmal beklagte, ich würde mich nur mit BH wohlfühlen, lachte er etwas anzüglich und meinte: »Als ob so ein super Busen Halt brauchen würde.«
Nun ja, Nudisten waren für ihre naturnahe Art bekannt. Aber sie konnten auch feiern. Jeden Abend war Disco im Gemeinschaftsraum, da wurde zu den neuesten französischen Hits gesungen und getanzt. Am liebsten tanzte ich mit François, einem waschechten Pariser, der genau so aussah, wie ich mir einen Franzosen vorstellte. Er war sicher schon zwanzig Jahre alt, hatte braunes lockiges Haar, blaue Augen und nannte mich immer »ma petite Sylvie«. Tagsüber lieferten wir uns im Pool Wasserschlachten, und abends tanzten wir ausgelassen zu Laurent Voulzys »Rockollection«. Und der Höhepunkt der ersten Ferienwoche war, als François mir an einem Abend ins Ohr flüsterte: »Tu viens me visiter à Paris?«
Zum ersten Mal fühlte ich mich wie eine Frau und nicht mehr wie ein Mädchen. Ein attraktiver Franzose hatte mich nach Paris eingeladen! Das Leben hätte nicht schöner sein können. Aus lauter Euphorie überließ ich Désirée sogar das Nutella-Glas. Sollte sie sich doch mit Schokolade vollstopfen! Darauf konnte ich verzichten und beschloss, fortan von Luft und Liebe zu leben. Und am nächsten Tag würde ich meinen Kimono ablegen. Schließlich musste ich mich wegen meiner Figur nicht schämen.
Ich schaute in den Himmel oder, besser gesagt, auf die blauen Fetzen, die zwischen den Baumwipfeln durchschienen. Die Hitze machte mich müde, meine Augendeckel waren bleischwer. Doch kurz vor dem Einschlafen durchfuhr mich wieder diese seltsame Empfindung, die ich nicht einordnen konnte. Dieses Mal aber ließ sie sich nicht verscheuchen. Ich dachte an François und seine blauen Augen, die genau die gleiche Farbe hatten wie der Himmel. Statt eines wohligen Gefühls bekam ich jedoch Herzklopfen. Aber dieses Herzklopfen fühlte sich anders an, als wenn ich ihn jeweils sah: Keine freudige Erregung, sondern eine unbestimmte Furcht stieg in mir hoch und raubte mir den Atem.
Was, um Himmels willen, geschah mit mir? Die Farben des Himmels und der Bäume erschienen mir unerträglich grell, die Grillen zirpten nicht mehr melodisch, sie kreischten richtiggehend. Der Waldboden, der eben noch so gut nach Moos gerochen hatte, stank plötzlich nach Moder. Ich nahm alles wie durch einen Filter wahr, einen Filter, der die Umgebung nicht in ein angenehmes, weiches Licht tauchte, sondern die Bilder verzerrte. Eine Kälte, wie ich sie vorher nicht kannte, erfasste mich. Noch vor fünf Minuten war mir der Schweiß in Strömen heruntergelaufen, und jetzt hatte ich das Gefühl, in einem Eisblock zu stecken. Für einen Moment schien mein Herz stehen zu bleiben, doch dann begann es noch wilder zu rasen. Meine Gedanken taten dasselbe: Ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war und, noch schlimmer, wer ich war.
Ich fühlte mich wie in einem schwerelosen Raum. Es schien mir unmöglich aufzustehen. Alles um mich herum drehte sich. Der lauschige Spätnachmittag hatte sich in einen Horrorfilm verwandelt. Und ich spielte darin die Hauptrolle.
Schließlich schaffte ich es doch, mich aufzurappeln. Die Panik, die mich erfüllte, ließ mich losrennen. Nur weg von diesem Ort! Meine Flipflops hatte ich liegen gelassen, doch ich nahm den brennenden Sand unter meinen Fußsohlen gar nicht wahr. Ich rannte wie eine Verrückte. Mir war kotzübel. In meinen Ohren dröhnte es. Mein ganzes Sein war von Todesangst erfüllt. Diese ließ auch nicht nach, als ich Felix entdeckte, der es sich nach dem Mittagsschlaf in seinem roten Gummiboot, das vor dem Bungalow lag, gemütlich gemacht hatte und in einem Buch blätterte.
»Felix«, schrie ich, »ich sterbe!«
Er schaute mich entgeistert an. Klar, ich sah äußerlich ja völlig intakt aus. Ich war so außer mir, dass ich nicht einmal bemerkt hatte, dass sich der Gürtel meines Kimonos geöffnet hatte und ich halb nackt dastand. Felix war inzwischen aufgestanden und fragte verständnislos: »Was ist denn passiert? Hattest du einen Unfall?«
»Nein, nein«, presste ich atemlos heraus, »es ist nichts passiert, es ist hier drinnen«, und schlug mir auf die Brust.
Das verwirrte Felix noch mehr. »Setz dich«, sagte er streng und zog einen Campingstuhl neben das Gummiboot. »Du hast sicher einen Sonnenstich, eine Siebzehnjährige kann noch keinen Herzinfarkt haben.«
»Ich habe solche Angst«, wimmerte ich, »bitte nimm mich in den Arm!«
Felix zögerte, er wusste, dass es irgendwie heikel sein könnte, mich im Adamskostüm zu umarmen. Aber mir war das egal. Ich brauchte Halt. Jemand musste aufpassen, dass ich nicht davonflog. Ich hatte jede Bodenhaftung verloren und schwebte quasi außerhalb meines Körpers.
Aber Felix, das spürte ich, konnte mir nicht helfen. Wie sollte er auch? Für ihn war ich ein hysterischer Teenager, der zu viel Sonne abbekommen hatte. Viele Jahre später würde er mir seine Zurückhaltung damit erklären, dass er dachte, ich hätte nur eine Riesenshow abgezogen, weil ich in ihn verliebt gewesen sei und ihm so hätte näherkommen wollen. Gereizt hätte ich ihn natürlich schon, gestand er mir, aber da war ja seine Barbara. Männer! Gerne hätte ich ihm eine gescheuert, aber seine Enttäuschung, als ich ihm sagte, er sei doch schon damals ein alter Mann gewesen, war für den eingebildeten Fatzke wohl Strafe genug.
Kaltes Wasser musste her! Es würde mir helfen, wieder klar zu denken und zu fühlen. Doch die Panik blieb selbst unter der eiskalten Dusche.
Was passierte nur mit mir? Woher kam diese grauenvolle Angst? Und vor allem: Wovor hatte ich Angst?
Ich begann zu weinen, zuerst leise, dann immer lauter. Barbara kam, drehte das Wasser ab und wickelte mich in ein flauschiges Badetuch. Felix hatte ihr von meinem, wie er es nannte, »hysterischen...