Auf die Übersendung der Urne wir nicht bestanden
Otto Theodor Schulze – ein Fall in der deutschen Geschichte, 1920–1927
Fünf Akten des Dreifachmörders O. T. Schulze zeigen neben Täter, Opfer und Polizeiarbeit auch Spuren der deutschen Geschichte. Sehr persönlich: In einem der Hefter finden sich in einem brüchigen Papiertütchen Hosenträger: Hellbraun. Festes Gewebe. Unten zweigeteilt mit Löchern für die Knöpfe am Hosenbund. In einem andren Umschlag: Gewebeproben eines teuren Anzugstoffs. Im weiteren Ordner zwischen Berichten, Protokollen und Gutachten: ein kleines grünes Heft. Darin in krakeliger Handschrift Erinnerungen, Gedanken, Wutausbrüche. Gereimt und ungereimt von Oteschu. So nennt sich deren Verfasser: Otto Theodor Schulze – im Jahre 1920 tötete Oteschu in Knauthain Hermann und Karoline Panzer und den Gemeindekassierer Woldemar Bergmann auf brutale Weise. Jahrzehnte beschäftigte dieser Fall Justiz- und Polizeibehörden. Oteschu – das Foto zeigt einen jungen Mann mit breitem Kiefer und tiefliegenden Augen. Sein Blick bleibt im Dunklen. Die Wangen eingefallen. Haare kurz. Es ist kein Fahndungsfoto, wahrscheinlich ließ sich Oteschu für Ausweis oder Paß portraitieren. Andere Fotos in den Akten zeigen nicht ihn, sie zeigen seine Taten. Blut und Hammer. Blut und Leichen. Mordhaus und zerstörtes Mobiliar. Die Akten berichten vom Kriminalfall, doch sie dokumentieren weit mehr.
I. Ausbildung – Chemnitz, 1919
Otto Theodor Schulze »wurde am 30.9.1902 in Leipzig geboren, wo seine Eltern eine größere Gastwirtschaft (»Friedenfels«) besaßen. Bis zu seinem 14. Lebensjahr ging er in Leipzig in die damalige 5. (am Schletterplatz), später 9. Bürgerschule (Reudnitz) und wurde Ostern 1917 entlassen. Er erlernte dann auf Wunsch seines Vaters den Kellnerberuf und befand sich zu diesem Zwecke von Ostern 1917 bis Ostern 1920 in Chemnitz im Hotel Continental.«
Das Continental war in der Stadt erste Adresse. Der Vater hatte seine Kontakte spielen lassen, um seinen Sohn Otto Theodor in diesem guten Haus die Ausbildung zu ermöglichen. Das Gebäude steht noch immer in Chemnitz, Bahnhofstraße 6. »Das ehemalige fünfgeschossige Hotel Continental wurde Mitte der 90er Jahre in ein Geschäftshaus umgebaut und vollständig saniert. Im Kellergeschoß befinden sich Archivflächen und die Tiefgarage. Erschlossen wird das Gebäude durch einen Aufzug und ein Treppenhaus«, wirbt der Vermieter. Das nunmehrige »Bürohaus befindet sich am Bahnhof im citynahen Rand von Chemnitz. In unmittelbarer Nähe befinden sich die Technische Universität, das Opernhaus sowie Hotels und gastronomische Einrichtungen. Öffentliche Verkehrsmittel befinden sich direkt vor dem Objekt. Das Stadtzentrum ist nach ca. 2 km und die Autobahnen A4 sowie A72 sind nach ca. 7 km zu erreichen.« Gingen einst Gäste und Gesellschaft im Hause ein und aus, speiste, trank und amüsierte sich, änderte sich das Besucherklientel in den Kriegsjahren. 1918 war der Kampf beendet, doch kam Sachsen nicht zur Ruhe. Die Soldaten kehrten zurück. Die Revolution wird ausgerufen, die kommunistische Partei gegründet. Die Republik hat es in ihrer Geburtstunde schwer. Die Menschen haben andere Sorgen und demonstrieren. »Der Fahne nach wälzten sich müde Haufen, regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen. Der Hunger schien sie ausgehöhlt zu haben. Sie sangen aus ihren dunklen, zerfransten Umschlagtüchern heraus mit scheppernden Stimmen ein Lied, dessen Rhythmus nicht zu der zögernden Schwere ihres Ganges paßte. Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen zermürbten Gesichtern, in denen ein Schimmer dumpfer Entschlossenheit stand, und nichts weiter als das, fielen immer wieder in den Gleichschritt und bemühten sich dann, wie ertappt, die Füße enger oder weiter zu setzen. Viele trugen ihr Blechkännchen mit sich, und der nassen, vom Regen mit dunklen Flecken getünchten roten Fahnen beulten sich Regenschirme über dem Zug.« In Dresden stürmen die Versehrten das Kriegsministerium: Der Sold soll ihnen gekürzt werden. Die neue Regierung steht vor dem Bankrott. Die aufgebrachten Massen stürzen den Minister in die Fluten der Elbe und schießen ihn tot. Der Belagerungszustand wird ausgerufen, die Reichswehr sorgt fortan für Ruh’ und Ordnung.
Im Continental lernt Otto Theodor das Servieren. »Gabel links, Messer und Löffel rechts eindecken, jeweils 1–2 cm von der Tischkante entfernt. Weingläser über die Messerspitze, Wasserglas rechts davon etwas nach unten …« Und nicht nur das: Auch sexuell wird der Lehrjunge reifer. Es kommt zu ersten homosexuellen Kontakten. »Ein älterer Kollege belehrte« den jungen Mann. Otto Theodor lebt seine Neigung aus.
Wie das Land ist auch der Hotelbetrieb aus den Fugen. Im Continental residiert der Chemnitzer Arbeiter- und Soldatenrat. »Vom Matrosenaufstand Anfang November 1918 ausgehend, bildeten sich zu Beginn der Revolution von 1918/19 in nahezu sämtlichen deutschen Städten Räte von revolutionär gesinnten Arbeitern und Soldaten. In einer spontanen Volkserhebung übernahmen sie von der als nicht mehr legitimiert angesehenen lokalen Macht die politische Gewalt. Wichtigste Aufgabe der lokalen Räte waren die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit sowie die Bewältigung der katastrophalen Lebensmittelversorgung. Obwohl sie untereinander kein einheitliches Programm verband, traten nahezu alle Räte für die Beseitigung des monarchischen Obrigkeitsstaats und für eine Republik auf parlamentarischer Grundlage ein.«
Die Räte versuchen, die Stadt zu führen, ordnen an, erlassen Maßnahmen, um Sicherheit und Leben zu ermöglichen. Soldaten patrouillieren im Vestibül des Continental. Sie sind bewaffnet. In der Halle war ein Maschinengewehr aufgestellt, »eine vollautomatische Schußwaffe, die für das Verschießen von Gewehrmunition eingerichtet ist. Maschinengewehre feuern bei Betätigung des Abzugs so lange Projektile ab, bis der Abzug wieder gelöst, die Munitionszufuhr unterbrochen wird oder eine Störung auftritt. Der Mechanismus des automatischen Ladens wird (damals) durch den Druck der sich entspannenden Pulvergase realisiert.« Natürlich beeindruckt ein Maschinengewehr einen Jungen in der Nachkriegszeit, davon hat er viel gehört. So auch Otto Theodor: »Da ich mich lebhaft für die Beschaffenheit desselben interessierte, erklärte mir der diensthabende Posten, das Gewehr und seine Handhabungen. Bei dieser Gelegenheit kam eine im Gewehr sitzende Patrone zur Entladung und tötete einen Menschen.« Ein Unbeteiligter, der das Vestibül durchschritt, starb an dieser Schußverletzung. Die Polizei ermittelt. Es kommt zum Prozeß. Der Lehrjunge wird freigesprochen.
Und doch belastet Otto Theodor Schulze das Geschehene. »Über den Chemnitzer Vorfall habe ich mir Gedanken gemacht, weil ich in gewissem Sinne doch die Schuld hatte. Dieses Bewußtsein bin ich nie losgeworden, auch später nicht, als ich mein etwas bewegtes Leben zu führen anfing. Ich bin der Ansicht, daß gerade die Chemnitzer Sache die Ursache dazu mit gewesen ist.«
2. Auslöschung – Knauthain, Vorweihnacht 1920
Nach abgeschlossener Lehre hielt es Otto Theodor Schulze nicht an einem Ort. Er begab sich zunächst »nach Knauthain, wo seine Eltern inzwischen (1919) den Gasthof am Park [Ritter-Pflugk-Str./Knuthstr., mittlerweile abgerissen; Anm.d.A.] gekauft hatten und diesen bewirtschafteten. Ende April 1920 ging er nach Wildbad als Saalkellner. Im Juni 1920 starb sein Vater, zu dessen Beerdigung er wieder nach Knauthain kam; darnach fuhr er wieder zurück nach Wildbad, von wo er wegen schlechten Geschäftsganges am 9. VIII. 1920 nach Knauthain zurückkehrte. Hier blieb er bis zum November 1921. Den Gasthof übernahm sein Schwager Däweritz 1922 von seiner Mutter pachtweise und nach deren 1924 erfolgten Tode als Inhaber. Der Angeklagte begab sich nach seinem Weggang von Knauthain zunächst nach Berlin, dann nach Hamburg, von da nach verschiedenen Städten am Rhein, in der Pfalz und nach Frankfurt a.M., kam später (1926) wieder nach Leipzig, ging nach Naunhof, dann nach Berlin, kam 1927 im August wieder nach Leipzig, fuhr aber auf Wunsch seines Schwagers nach Köln, wohin ihm dieser die Fahrkarte kaufte, ging von Köln nach Düsseldorf, dann zurück nach Köln und schließlich nach Frankfurt a.M. Er hatte in diesen Zeiten nur vorübergehend Stellungen, führte ein leichtsinniges, unstetes und teilweise unordentliches Leben, machte sich verschiedentlich wegen Betruges, Diebstahls und Untreue straffällig, weshalb er auch, teilweise nicht unerheblich, verurteilt wurde.« Als Ursache für den unsteten Lebenswandel, seine häufigen Stellungswechsel gibt Schulze an: »Ich wollte frei sein!« Er bleibt es bis zum Oktober 1927.
Da stellte sich Otto Theodor...