Einleitung
»Ich frage mich vieles, vor allem das eine: Wie ist es möglich, daß 800 Millionen Christen diese Welt so wenig zu verändern vermögen, eine Welt des Terrors, der Unterdrückung, der Angst […]. Ich spüre, sehe und höre, merke so wenig davon, daß die Christen die Welt überwunden, von der Angst befreit hätten.« Heinrich Böll schrieb das im Jahr 1957.
Von unveränderter Aktualität sind diese Zeilen. Dies umso mehr, als die Zahl der »Anhänger der christlichen Religion« heute mit 2,2 Milliarden angegeben wird.
Einfach resignieren mochte Böll aber nicht, vielmehr schrieb er weiter: »Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, und hin und wieder gibt es sie: Christen, und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. 800 Millionen Menschen auf dieser Welt haben die Möglichkeit, die Welt in Erstaunen zu setzen. Vielleicht machen einige von dieser Möglichkeit Gebrauch, einige, die sich aus dem Labyrinth der Taktiken zu befreien vermögen, so, wie es Gläubige anderer Religionen der Gewaltlosigkeit gab und gibt, die sich aus dem Labyrinth der Taktiken befreiten und die Welt in Erstaunen versetzten.«
In der Tat, es hat sie auch in den letzten hundert Jahren gegeben: weit herausragende Persönlichkeiten, die in charismatischer Weise humane Werte von übergeordneter Bedeutung und religiöser Dimension gewaltfrei verkörpert haben. Aus Situationen schwerster Unterdrückung sind sie hervorgegangen: Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und andere. Mit Leiden haben sie ihre Wahrheiten beglaubigt und weite Teile der Welt verändert. Aber niemand sagt ihnen nach, dass sie einer anderen Welt entstammten, göttlich gezeugt seien, weshalb ihre Mütter sie jungfräulich zur Welt gebracht hätten. Und niemand wird ihnen das jemals nachsagen. Denn wer das ernsthaft wollte, würde in der aufgeklärten Welt wissenschaftlicher Erkenntnisse, in der wir leben, nicht nur sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben. Er würde zugleich auch die Würde und Bedeutung solcher Vorbilder der Menschheit realsatirisch beeinträchtigen.
Dem charismatischen Propheten, Heiler und Lehrer religiöser Wahrheit Jesus aus Nazareth – Vorbild nicht weniger Menschheitsvorbilder – blieb und bleibt das jedoch nicht erspart. Seine Bedeutung wurde und wird dem Zeitgeist einer antiken Welt dargebracht, indem er zum Mensch gewordenen »wahren Gott« erhöht wird. Wie selbstverständlich wird sie von den Kirchen bis heute als zu glaubend propagiert, wenn jemand Christ sein will. Als habe es die großen geistesgeschichtlichen Umwälzungen nie gegeben, die seit dem 18. Jahrhundert Aufklärung genannt werden. Vielmehr gibt man sich in den Kirchen und weiten Bereichen der Theologie einer Illusion hin. Sie besteht darin, »Aufklärung« lediglich als Bezeichnung einer vergangenen philosophiegeschichtlichen Epoche anzusehen. Aufklärung bezeichnet aber keineswegs nur eine historische Episode, sondern ist eine irreversible, anhaltend bewusstseinsprägende Entwicklung. Dies zu ignorieren lässt Kirchen und Theologie zunehmend Merkmale fundamentalistischer Sekten annehmen.
Zur Zeit seines Vorsitzes im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat Wolfgang Huber diese Problematik im ökumenischen Kontext zur Sprache gebracht. In Heft 2/2007 der evangelischen Monatszeitschrift zeitzeichen war nachzulesen, dass Huber im Rundfunksender NDR zur damaligen Annäherung Roms und der orthodoxen Kirchen geäußert habe, es gebe bei beiden eine unterschiedlich stark ausgeprägte Tendenz, eine Gestalt des christlichen Glaubens zu leben, »die mit der Aufklärung nichts zu tun hat«. Er sehe ein großes Risiko darin, dass es »eine Annäherung vor der Aufklärung sein könnte«. Darauf kam es zu einer heftigen Reaktion des seinerzeitigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, über die nachzulesen war, dass Lehmann es für »absoluten Unsinn« erklärt habe, die Ökumene zwischen Katholiken und Protestanten gegen die zwischen Rom und der Orthodoxie auszuspielen.
Wie hat man diese schroffe, an Beleidigung grenzende Reaktion des sonst so diplomatischen Karl Lehmann zu verstehen? Offenbar hatte das Anschneiden des Themas Kirche und Aufklärung etwas von einem Stich ins Wespennest. Stets hat es ja auch einen deutlichen Zusammenhang mit dieser Thematik, wenn theologische Hochschullehrer von den Kirchen ins Abseits gestellt werden, wofür auf katholischer Seite Hans Küng und Eugen Drewermann, auf evangelischer Gerd Lüdemann die bekanntesten Namen sind. Dabei maßgeblich ist aber nicht nur, dass Theologie mit aufgeklärtem Menschenverstand konfrontiert wird. Vielmehr steht unverkennbar Immanuel Kants berühmte Bestimmung von Aufklärung im Hinter- bzw. Vordergrund, die besagt, Aufklärung sei die Maxime, »jederzeit selbst zu denken«, sich seines Verstandes zu bedienen »ohne Leitung eines anderen«. Auf staatlichen wie kirchlichen autoritären Anspruch zielte das im 18. Jahrhundert. Und es trifft die Kirchen bis heute: Dass der vom kirchlichen »Lehramt« festgelegte »Glaube der Kirche« als der allein wahre christliche Glaube zu glauben sei, ist unverändert der Anspruch. In der römischen Kirche ist er rechtlich unabänderlich festgezurrt. In der evangelischen wird er als »Bekenntnistreue« faktisch praktiziert, wenn auch nicht unter dem Unfehlbarkeitsanspruch, den Klaus Harpprecht einmal bezeichnet hat als die »hochmütigste Dummheit, die jemals zum Dogma erhoben wurde« (in: Die Zeit 22/2009).
Dass Kant zu einem der kirchlich meistangefeindeten Denker der Philosophiegeschichte geworden ist, kann also nicht verwundern. Denn mit seiner Perspektive erfasst der Blick auf die Kirchen eine so gut wie vollständige Strukturierung der Erkenntnis- und Wahrheitsfrage als Machtfrage. Eine durch Selbstermächtigung zur Herrschaft gelangte Hierarchie von kirchlichen Amtsträgern hat ein dogmatisches Lehrgebäude errichtet, innerhalb dessen sie selbst als der »geistliche Stand« der Ausgesonderten eine für Heil und Wohl der Menschheit prinzipiell unentbehrliche Position einnimmt. Schon früh in der Geschichte des Christentums wurde eine vertikale Spaltung der Kirche etabliert, die für die Beziehung zu Gott eine qualitative Zweiteilung vornimmt in Priester und »Laien«, Geweihte und gewöhnliche Christen, bildlich: Hirten und Schafe.
Die einen als »die Kirche« stehen den anderen als den »Gläubigen« an Gottes statt und als verbindlich für ihn handelnd gegenüber. Die Beziehung ist ein reines Abhängigkeitsverhältnis.
Der Beantwortung von Wahrheits- und Heilsfragen liegt also eine ganz bestimmte Klärung der Machtfrage zugrunde. Die kirchliche Aufklärungsfeindlichkeit ist damit strukturell bedingt. Sie zu überwinden ist somit gleichbedeutend mit der Herausforderung des Systems zu seiner Selbstaufgabe und alternativen Neustrukturierung. Da die Begründer und Überlieferer des Systems jedoch zugleich als die Machtträger seine größten Profiteure sind, ist das nicht zu erwarten. Was aber nicht folgenlos bleibt. Denn zutreffend stellt Frido Mann fest: »Die gegenwärtigen Massenaustritte aus allen christlichen Kirchen vor allem in Europa sind vor allem auf das Bedürfnis des Menschen zurückzuführen, sich aus religiöser Engstirnigkeit und Bevormundung zu befreien« (Mann 2013, S. 50).
Der junge Martin Luther hat zu seiner Zeit mit seinen Publikationen des Jahres 1520 solchem Bedürfnis folgenreich entsprochen. In seinen Schriften »An den christlichen Adel deutscher Nation …« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« nimmt er mit biblischer Begründung nichts Geringeres vor als eine radikale Bestreitung der Notwendigkeit einer machtvollen Priesterhierarchie für die Kirche. Aus der Unmittelbarkeit jedes Menschen zu Gott im allein ihn rechtfertigenden, vertrauenden Glauben ergibt sich vielmehr ein »allgemeines Priestertum« aller Getauften. Damit wird der Begriff des Priestertums als solcher ad absurdum geführt. Eines exklusiven Weihepriestertums bedarf es nicht, die vertikale Spaltung der Kirche in Laien und Priester ist aufgehoben.
Luther hat damit die damaligen Landesherren und Verantwortlichen der freien Städte als bisher abhängige »Laien« theologisch legitimiert, die Dinge der Kirche in die eigenen Hände zu nehmen. Die Reformationsgeschichte hat daraus ihren entscheidenden Impuls bezogen. Rom aber – den Kaiser auf seiner Seite – hielt entschlossen und dauerhaft an der inneren, qualitativen Kirchenspaltung fest, auf die seine ganze Macht gegründet war. Die Folge davon war und ist die bis heute bestehende äußere Spaltung der Kirche.
Die katholische Priesterweihe und die Ordination eines evangelischen Pfarrers sind zwei grundverschiedene Vorgänge. Der Sinn der Ordination ist ein rein funktionaler, weil die Kirche als Organisation nicht ohne eine Ordnung auskommt, die Aufgaben zuweist und die dafür nötigen Voraussetzungen festlegt. Evangelisch ist »Pastor« Berufsbezeichnung, nicht Benennung eines herausgehobenen Status. »Nennt man mich einen ›Geistlichen‹«, hat der evangelische Pfarrer Klaus Beckmann ausgeführt, »so ist das ein fahrlässiger Sprachgebrauch – zumindest, wenn es auf den Unterschied zu den Nicht-Ordinierten abhebt« (zeitzeichen 7/2006). Denn in ihrer Stellung vor Gott sind alle Getauften gleich. Die in den Kirchen der Reformation noch immer nicht ausgestorbene Redeweise von »Geistlichen« und »Laien« ist unevangelisch. Genau genommen skandalös war deshalb die bis vor wenigen Jahren in der Verfassung der größten »lutherischen« Kirche in Deutschland formulierte Unterscheidung zwischen »geistlichen« und »nichtgeistlichen« Mitgliedern ihrer Synode.
Unüberbrückbar ist an dieser Stelle der Gegensatz der Konfessionen. Was sich gegenwärtig besonders darin widerspiegelt, dass es sorgsam gemieden wird,...