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Lebenswelten jugendlicher Migranten

in literarisch-soziokultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung in Deutschland und Frankreich

AutorSimon Klippert
VerlagHirnkost
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl50 Seiten
ISBN9783943774603
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts (B.A.) im Fach Französisch. Idee und Konzeption der Arbeit: Die Idee zu dieser Arbeit entstand aus den Erfahrungen und Begegnungen innerhalb meiner eigenen Lebenswelt. Ich lebe in Berlin-Neukölln und arbeite sowohl an einer Neuköllner Schule als auch im deutsch-französischen Jugendaustausch mit jugendlichen Migranten. Im Rahmen meines Studiums stieß ich immer wieder auf Literatur im Zusammenhang mit den Themen Jugend und Migration und belegte gezielt Seminare, die sich mit der Thematik auseinandersetzten. Vier ausgewählte, da repräsentative Werke, die an geeigneter Stelle durch unterstützende oder grundlegende Zitate weiterer Autoren ergänzt werden, legen den Grundstein für diese Analyse jugendlicher Lebenswelten. Nicht zuletzt ist die aktuelle gesellschaftliche Diskussion ein Ausgangspunkt für diese Arbeit, schlägt doch sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Integrationsdebatte politisch hohe Wellen, begleitet von einer überwiegend negativen Berichterstattung der Medien, die oftmals im schroffen Kontrast zu den von mir erlebten Lebensrealitäten der Jugendlichen stehen. Diesen Eindruck zu bestätigen oder zu widerlegen ist ein Anliegen dieser Arbeit. Darüber hinaus wird sie einen Einblick in jugendlich- migrantische Lebenswelten geben, indem in ihr verschiedene Perspektiven, nämlich die Darstellung in Deutschland vs. die Darstellung in Frankreich und andererseits die Fremd- vs. die Selbstwahrnehmung der jugendlichen Lebenswelten verschränkend analysiert werden.

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Leseprobe

3. Lebenswelten jugendlicher Migranten in literarisch-soziokultureller Fremd- und Selbstwahrnehmung in Deutschland und Frankreich


3.1 Verankerung der Lebenswelten im Raum – Banlieue, Kiez und Heimat


Die Darstellung und Wahrnehmung des Raumes, wie er den Jugendlichen umgibt, soll als erstes Gegenstand dieser Untersuchung werden, stellen diese doch die Grundlage für jegliches lebensweltliches Handeln dar. Bedingt durch die Siedlungs- und Stadtpolitik von Seiten des (deutschen und französischen) Staates und dem bereits zuvor in der Einwanderungsgesellschaft Nordamerikas beobachtetem Phänomen ethnisch oder kulturell ausgesprochen homogen zusammengesetzter Stadtviertel stellen sich in dieser Analyse zwei Prototypen des durch Migration und Migranten bestimmten Wohnraums heraus, die beide durch sozialräumliche Nachteile gekennzeichnet sind: In Deutschland wird hier auf das viel zitierte Beispiel Berlin-Neukölln eingegangen, ein Viertel, das sich zur Zeit des starken Migrationsstromes in den Nachkriegsjahren durch unsanierte Altbauten und die unmittelbare Nähe zur Berliner Mauer auszeichnete. Die französische Entsprechung des typischen Migrantenviertels sind die so genannten banlieues. Die in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichteten Betonsiedlungen rund um die französischen Großstädte schossen in Zeiten der akuten Wohnungsnot wie Pilze aus dem Boden und stehen bis heute symbolisch sowohl für die Geschichte als auch für die Probleme der französischen Migrationspolitik. Adelheid Schumann nennt diese banlieues auf Grund der hohen Zahl von arabischstämmigen Bewohnern „pays beur“.32

Banlieue und Kiez als Heimat


Eine simple, jedoch auf Grund der Fokussierung auf die Probleme der banlieue oder anderer Migrantenviertel oftmals vergessene Realität soll hier vorangestellt werden: Jugendliche, die in ihren Vierteln aufwachsen, haben ihr gesamtes (bisheriges) Leben in genau diesem räumlichen Bezugssystem verbracht. Die Räume, in denen sie sich bewegen, sind „également des lieux de naissance, d’enfance et de souvenirs, objets de fantasmes et d’imaginaire“.33 Jugendliche sind fest mit dem unmittelbaren Boden ihrer Herkunft verwurzelt und bewegen sich in einem ihnen selbstverständlich erscheinenden Raum, eben auf jenem Schützschen „unbefragten Boden der natürlichen Weltanschauung“34; sie sind – mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe - „profondément inscrits dans les lieux pour y avoir passé l’essentiel de leur existence“.35 Zudem besteht bei Jugendlichen, die eine Schule innerhalb dieses ihnen bekannten Raumes besuchen – anders als bei berufstätigen Erwachsenen – kein Unterschied zwischen einem möglichen „espace résidentiel“ und einem „espace professionnel“,36 ihr gesamtes Leben spielt sich in ihrem quartier bzw. ihrem Kiez ab.

Der Raum in der Fremdperspektive


Viel ist geschrieben worden über die Probleme der banlieues, die spätestens seit den emeutes aus dem Jahre 2005 (bzw. weniger mediatisiert im Jahre 2007) auch der deutschen Öffentlichkeit ein Begriff sind. Anonymität, Hoffnungslosigkeit und eine latent gewaltvolle Grundstimmung sind die ersten in den Medien dargestellten Assoziationen. An dieses Bild anschließend folgt an dieser Stelle zunächst ein fremdperspektivischer Einblick in die Beschreibung des Raumes in den hier zu Grunde liegenden Texten: „Du béton, des bagnoles en long, en large, en travers, de l’urine et des crottes des chiens. Des bâtiments hauts, longs, sans coeur ni âme. Sans joie ni rires, que des plaintes, du malheur.“37

So beginnt Mehdi Charef seine Darstellung in Le thé au harem d’Archi Achmed, und offenbar hat sich – zumindest in der literarischen Darstellung des Raumes – in den immerhin über 20 Jahren, die zwischen dem Erscheinen seines Klassikers und Faiza Guènes Kiffe kiffe demain nichts Grundsätzliches geändert. Sie beginnt ihre Schilderung des Raumes wie folgt: „Dehors, il faisait gris comme le béton des immeubles et il pleuvoit à très fines gouttes, comme si Dieu nous crachait dessus”.38

Tristesse, Hoffnungslosigkeit und die Abwesenheit von jeglicher Lebensfreude sind hier die stimmungsvoll aufgeladenen Elemente. Auch in anderen Werken finden sich diese Leitmotive in der atmosphärischen Beschreibung der überwiegend von Migranten bewohnten französischen Vorstädte wieder. Ein weiteres und auf den Umgang der Menschen mit diesem Raum bezogenes Motiv ist die - teilweise offen zur Schau gestellte - Gleichgültigkeit zu ihrer Umgebung:

„Dans l’ascenseur y avait de la pisse et des mollards, ça sentait mauvais mais on était quand même contentes que ça marche. Heureusement qu’on connaît l’emplacement des bouttons par rapport aux étages, parce que la plaquette est grattée et ça a fondu. On a du les brûler au briquet.”39

Bemerkenswert ist hier, dass die jugendliche Protagonistin Doria den Zustand der Gebäude offenbar auf ebenso gleichgültige Art und Weise beschreibt, wie die Menschen mit eben jenen umgehen. Sie scheint keinerlei Verantwortung für den von ihr täglich benutzten Fahrstuhl erkennen zu lassen, vielmehr die Situation als normal zu empfinden, sie hat sich gar mit ihr arrangiert. Die weitergehenden Beschreibungen Dorias lassen jedoch auch auf die unterschiedliche Herkunft ihrer Bewohner mitsamt ihrer mitgebrachten Weltanschauungen schließen, sie beinhalten auch erstmal die Erwähnung von menschlichem Gestaltungswillen in der sonst grauen und als unabänderlich dargestellten Vorstadttristesse:

„Sur la façade du coté de la cité, y a plein de tags, des dessins et des affiches de concerts et soirées orientales diverses, des graffitis à la gloire de Saddam Hussein ou de Che Guevara, de marques des patriotismes, „Viva Tunesia“, „Sénégal représente“ et mêmes des phrases extraites de chansons de rap à coloration philosophique.”40

Aus Lepoutres Beobachtungen lässt sich ein darüber hinaus gehendes Motiv herausarbeiten, nämlich neben der bereits geschilderten Gleichgültigkeit eine ganz bewusste Vernachlässigung des Ortes, begleitet von mangelnder Sauberkeit. Man tritt dem Raum mit einer geradezu verachtenden Attitüde entgegen, in dem man ihn beschmutzt: „En fin de week-end, après deux jour sans nettoyage, les abords du bâtiment sont toujours jonchés de détritus et d’immondices de tout genre.”41

Lepoutre berichtet ausführlich von Verhaltensweisen, die jeglichen Respekts gegenüber dem Ort entsagen, was sich etwa durch das Entsorgen des Mülls und anderer Objekte auf direktem Weg durch das Fenster auf die Straße festmachen lässt. Eine Praxis, die von den Jugendlichen selbst mit geradezu lässigem Unterton kommentiert wird: „C’est rien, avant ils jetaient des télévisions“.42

Wie ist dieses Verhalten, das das Ablehnen jeglicher Verantwortung gegenüber dem Ort impliziert, zu erklären? Mit Pierre Bourdieu folgendermaßen: Abwertendes Verhalten gegenüber dem Raum, dem man sozial zugeordnet wird (bzw. dem man sich sozial zuordnet43), ist ein einfacher, sich gegenseitig immer weiter herabstufender Prozess: „Le quartier stigmatisé dégrade symboliquement ceux qui l’habitent et qui, en retour, le dégradent symboliquement.“44 Die Entfremdung vom Raum steht somit stellvertretend für die Entfremdung von der bzw. fehlgeschlagene Integration in die Gesellschaft. Lepoutre nennt diesen Prozess dramatisierend, jedoch in logischer Weiterführung passend „désocialisation“.45

Auf deutscher Seite weist die Beschreibung des sogenannten Araberhauses, einem heruntergekommenen Altbau in Berlin-Neukölln, in dem der Protagonist Rashid in Arabboy mit seiner Familie aufwächst und das den Flüchtlingsfamilien von der Senatsverwaltung zur Verfügung gestellt worden war, – zumindest in der vermittelten Stimmung - erstaunliche Parallelen mit der Beschreibung der französischen banlieues auf, selbst wenn sich diese aus rein architektonischer Sicht grundlegend unterscheiden: Auch in Arabboy ist von „verdreckte[n] Scheiben“46 und „beschmierte[n] Wände“47 die Rede, das Araberhaus ist ein „Irrgarten aus Beton, Glas und Stahl, durchzogen von dem aufdringlichen Geruch von angekohltem Linoleum“.48

Demarkationslinien - räumliche Trennung


In anderen Werken wird der psychologische und physiologische Zustand der Migrantenviertel (und ihrer Bewohner) symbolisch für die Stellung in der...

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