Zweites Kapitel. Der heidnische Orient
Inhaltsverzeichnis
Betrachten wir den Aberglauben, auf dem der Wahn der Magie und der Hexerei beruht – ein Wahn, dem wir noch am heutigen Tag bei allen christlichen Völkern, namentlich in den niederen Volksschichten begegnen, – und verfolgen wir dessen Geschichte rückwärts von Jahrhundert zu Jahrhundert, so will es uns doch nicht gelingen, irgendwo in der Geschichte der abendländischen Welt eine Stelle aufzufinden, wo er sich zuerst gestaltet und von wo aus er sich unter den Völkern verbreitet habe. Denn die grausige Zeit des siebzehnten Jahrhunderts, in dem fast alle Lande Europas von den die Opfer heidnischen Aberglaubens verzehrenden Flammen der Scheiterhaufen widerleuchteten, weist uns zurück über die Reformation hinaus in das Mittelalter hinein, wo man hin und wieder auch »weidlich gebrannt« hat, und von da in die Zeit der Kirchenväter, die denselben Aberglauben vertreten, den das römische und den schon früher das griechische Heidentum gepflegt und den dieses aus den Landen am Euphrat und Tigris fast unverändert überkommen hat, wo wir das Bestehen der dämonischen Magie bis hinauf zum Anfange der eigentlichen Geschichte und der lebendigen Erinnerungen des Menschengeschlechts verfolgen können. Wo aber diese aufhören, da führen uns die Hieroglyphen der Pyramiden Ägyptens und die Keilschriften-Literatur der Lande am Euphrat in eine graue Vorzeit ein und zeigen, daß schon in ihr, schon wenigstens ein Jahrtausend vor dem Beginne der eigentlichen Geschichte hindurch, im wesentlichen derselbe Aberglaube bestand, den wir in der Geschichte aller Völker Europas zu allen Zeiten nachweisen können, daß daher seine Spuren gerade so weit hinaufreichen wie die Spuren der Menschheit selbst.
Erst in neuer Zeit ist es der Wissenschaft gelungen, die Geheimnisse, die der Bibliotheksaal im Palaste der Könige zu Ninive in sich barg, zu erschließen. Henry Rawlinson teilte im Jahr 1866 im zweiten Bande der Cuneiform inscriptions of Western Asia (Taf. 17 und 18) eine größere Tafel mit achtundzwanzig Zaubersprüchen mit. Er fand ferner in der Bibliothek des alten Königspalastes unter Tausenden von Bruchstücken tönerner Täfelchen die Fragmente eines umfangreichen Werkes magischen Inhalts, das in seiner Vollständigkeit nicht weniger als zweihundert Tafeln umfaßte. Diese unschätzbaren Urkunden sind wie alle auf Magie sich beziehenden Dokumente Chaldäas in akkadischer d. h. in der den finnischen und tatarischen Idiomen verwandten turanischen Sprache abgefaßt, die der ursprünglichen, vorgeschichtlichen Bevölkerung der Ebenen des unteren Euphrat (Chaldäas) eigen war. Der assyrische König Assurbanipal (884-860 v. Chr.) ließ sie zusammen mit der assyrischen Interlinearversion, mit der sie überliefert waren, abschreiben und seiner Palastbibliothek einverleiben. Diese Hinterlassenschaft der Akkader – die wohl selbst wieder auf älteren allmählich zu einem Ganzen zusammengestellten Überlieferungen beruhen mag – weist daher hoch hinauf auf eine Zeit, in der unter den Akkadern wie unter den Ägyptern der Glaube an die Einheit und reine Geistigkeit des göttlichen Wesens – trotz des aufgewucherten Kultus der Naturgewalten – noch nicht ganz erloschen war. Die Masse der Urkunden zeugt, wie Lenormant S. 23 sagt, »von der Existenz einer so künstlichen und zahlreichen Dämonologie bei den Chaldäern, wie sie sich ein Jakob Sprenger, Joh. Bodin, Weier oder Pierre de Lancre wohl nimmer vorgestellt hätten. Es erschließt sich uns darin eine ganze Welt von bösen Geistern, deren Rangordnung mit vieler Gelehrsamkeit festgestellt, deren Persönlichkeiten sorgfältig unterschieden und deren besondere Eigenschaften scharf präzisiert sind«.
Zu oberst werden zwei Klassen von Wesen gestellt, die als Genien oder Halbgötter erscheinen. Unter ihnen stehen die guten Geister und die Dämonen, von denen die letzteren (akkadisch: utuq) gewöhnlich an wüsten Stätten hausen. Die mächtigsten und gefürchtetsten von ihnen sind diejenigen, deren Macht sich über die Ordnung der Natur erstreckt, in die sie oft zum Nachteil des Menschen störend eingreifen, während die Tätigkeit der übrigen unmittelbarer auf den Menschen gerichtet ist, dem sie unablässig Unheil und Schaden bereiten. Von allen Einwirkungen der Dämonen auf den Menschen ist die Besessenheit die gefürchtetste. Zur Bannung dieser Krankheit hatte man daher vielerlei Formeln. Waren aber die Dämonen aus dem Körper eines Besessenen vertrieben, so gab es nur ein sicheres Schutzmittel gegen ihre Wiederkehr: es mußte durch Anwendung anderer Formeln dahin gewirkt werden, daß sich nun gute Geister des von den Dämonen befreiten Menschen bemächtigten.
Eine andere Klasse der Dämonen sind diejenigen Geister, die, ohne unmittelbar verderbliche Handlungen zu verrichten, in schreckenerregenden Erscheinungen hervortreten. Solcher Art sind z. B. der »innin« und der »gewaltige uruku«, die beide zu den Nachtgeistern und Gespenstern zählen. Die drei hervorragendsten Wesen dieser Klasse sind das »Schreckgespenst« oder »Schattenbild« (akkad. dimme, assyr. lamastuw), das »Gespenst« (akkad. dimmea, assyr. labasu) und der »Vampir« (akkad. dimmekhab, assyr. abharu). Von diesen dreien erschrecken die beiden ersteren nur durch ihre Erscheinung, wogegen der Vampir »den Menschen anfällt«. Der Glaube, daß die Toten als Vampire aus dem Grabe steigen und Menschen anfallen, war überhaupt in Babylonien und Chaldäa ganz allgemein – Eine besondere Gruppe bilden ferner die »Dämonen der nächtlichen Samenergüsse«, die bald als Nachtmännchen (akkad. lillal, assyr. lilu), bald als Nachtweibchen (akkad. kiel-lillal, assyr. lilituv) erscheinen, und deren Umarmungen sich weder Männer noch Frauen im Schlafe zu erwehren vermögen. – Allgemein herrschend war außerdem die Furcht vor dem »bösen Blick« sowie vor dem »bösen Wort« oder »bösen Mund«, d. h. vor der unheilvollen Wirkung gewisser Worte.
Zur Abwehr und Bekämpfung dieses dämonischen Zaubers gebrauchte man vor allem Beschwörungsformeln, und wie jene Vorstellungen von den Dämonen und deren verderblicher Wirksamkeit sich bei Griechen und Römern und im Mittelalter wieder finden, so zeigt sich auch zwischen jenen Beschwörungen und z. B. der ???????????? des Theokrit und der achten Ekloge des Vergilius die auffallendste Ähnlichkeit.
Als die ältesten mit der monotheistischen (oder wohl richtiger: monolatrischen) Gottesidee im Zusammenhange stehenden Beschwörungsformeln stellen sich diejenigen dar, in denen »der große Name,« »der höchste Name«, den Êa allein kennt, gebraucht wird. Vor diesem Namen beugt sich alles im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt; selbst den Göttern legt dieser Name Fesseln an und zwingt sie, ihm Untertan zu sein. Aber nur Êa kennt diesen Namen.
Die Masse der Beschwörungsformeln ist indessen anderer Art. Zuerst werden in ihnen die zu beschwörenden Dämonen genannt, ihre Machtsphäre wird angegeben und ihre Wirkung geschildert. Es folgt hierauf der Wunsch, daß sie vertrieben werden und daß man vor ihren Nachstellungen bewahrt bleiben möge, was häufig in geradezu kategorischer Form verlangt wird. Eine dieser Formeln lautet:
Die Pest und das Fieber, die das Land verheeren,
die Seuche, die Auszehrung, die das Land verwüsten,
schädlich dem Körper, verderblich den Eingeweiden,
der böse Dämon, der böse alal, der böse gigim,
der boshafte Mensch, der böse Blick, der böse Mund, die böse Zunge,
daß sie des Menschen, Sohn seines Gottes, Körper verlassen mögen,
daß sie seine Eingeweide verlassen mögen.
Meinem Körper werden sie nimmer anhaften,
vor mir werden sie nimmer Böses stiften,
in meinem Gefolge werden sie nimmer einherschreiten,
in mein Haus werden sie nimmermehr eintreten,
mein Zimmerwerk werden sie nimmer durchschreiten,
in das Haus meiner Wohnstätte werden sie nimmermehr einkehren
Außerdem gebrauchte man zur Abwehr dämonischer Zauberei Zaubertränke, Zauberknoten oder Schleifen, Talismane von allerlei Art, auch zum Tragen am Halse eingerichtet und mit akkadischen Inschriften versehen, und insbesondere Zauberstäbe, die Cicero virgulae divinae nennt.
Dieses war die gute, die göttliche Magie, die in den Priesterschulen der Akkader gelehrt wurde. Neben dieser gab es aber auch eine dämonische, teuflische Magie, die verboten war und verfolgt wurde, die natürlich in den offiziellen Urkunden nicht beschrieben ist, aber doch aus ihnen erkannt werden kann. Es gab in Akkad, wie man aus den gegen die dämonische Zauberei aufgestellten Beschwörungen ersieht, eine Menge Zauberer und Zauberinnen, die als »Bösewichte«, »boshafte Menschen« bezeichnet werden, deren Tun und Treiben man aber nur in sehr verschleierter Weise anzudeuten wagte, weil die Furcht vor ihnen die Gemüter aller beunruhigte. Indirekt bekommen wir aber mannigfache Aufklärungen über die Zauberei, weil die Priester natürlich ihr ebensowohl wie allen andern schädlichen Einflüssen entgegentreten mußten. Die Beschwörungen bestehen nämlich größtenteils aus sehr ausführlichen Beschreibungen sowohl der Wirkung der Zauberei als der Mittel, durch die sie ausgeübt wird. Es heißt z. B.: »Weil die Zauberin mich bezaubert hat, die Hexe mich gebannt hat, schreit mein Gott und meine Göttin über mich. Wegen meiner Krankheit bin ich schmerzlich geplagt, ich stehe aufrecht, lege mich nicht nieder, weder nachts noch am Tage. Mit Schnüren haben sie meinen Mund gefüllt, mit Upuntakraut haben sie meinen Mund gestopft. Das Wasser meines Getränks haben sie gering gemacht; mein Jubel ist Jammer, meine Freude ist...