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Antisemitismus und Gesellschaft

Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt

AutorDetlev Claussen, Michael Werz, Moishe Postone, Shmuel N. Eisenstadt, Ulrich Sonnema, Zygmunt Baumann
VerlagVerlag Neue Kritik
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl173 Seiten
ISBN9783801505622
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
»Antisemitismus als Orientierungsprinzip ist tatsächlich in der europäischen Gesellschaftsgeschichte verankert. Von Europa aus hat der dynamische Kapitalismus als einziges universales Gesellschaftsmodell seinen Siegeszug angetreten und mit ihm hat sich auch der Antisemitismus weltweit verbreitet. Die Produkte der Kulturindustrie, die global kommuniziert werden, treffen auf ein gesellschaftlich präfomiertes Alltagsbewusstsein, das für diese alltagsreligiösen Interpretationsmuster empfänglich ist. Man banalisiert in der Tat das Böse, wenn man es auf menschliche Aggression reduziert. Die Frage aber, wie Gewalt sozialisiert wird, ist eine Frage nach der Gesellschaft, die Auschwitz möglich machte und die antisemitische Vorstellungen auch nach Auschwitz immer wieder hervorbringt.« Detlev Claussen

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Leseprobe

Detlev Claussen

Die Banalisierung des Bösen

Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie

 

 

»Ich bin in der Tat heute der Meinung,
dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal,
es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie.«

Hannah Arendt an Gershom Scholem

20. Juli 1963

 

»…jedoch, könnte ich gesagt haben, gebt jetzt gut acht,

denn das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare

ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.«

Imre Kertész

Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind

 

 

Auschwitz verschwindet, obwohl oder vielleicht gerade weil vom Holocaust überall und ständig die Rede ist. Unter dem Kennwort »Rettet Auschwitz!« sind fünfzig Jahre nach der Befreiung des Lagers Konten auf deutschen Banken eingerichtet worden – nicht um für eine neonazistische Bewegung zu sammeln, sondern um das größte Konzentrations- und Vernichtungslager als eine Art Kulturbesitz zu erhalten. Die massenmediale Kultur hat Auschwitz assimiliert. Das zu begreifende Unbegreifliche ist in eine triviale Banalität verwandelt worden, aus der die Menschheit Lehren ziehen soll, deren Unverbindlichkeit sich kaum verheimlichen lässt. Die publikumswirksamen Produkte der Massenkultur erzeugen post crimen einen Sinn, der durch Auschwitz gerade dementiert worden ist. Die unterschiedlichen Gefühle von Schuld, die durch die massenmediale Konfrontation mit dem Verbrechen ausgelöst werden, werden am Bewusstsein vorbei in Sentimentalität verwandelt – eine Form des Kitsches, die der Unterhaltungsindustrie eigen ist. Der New Yorker Witz hat die adäquate Formulierung für dieses Phänomen gefunden: »There is no business like Shoah-business«.

Der Welterfolg des Films »Schindlers Liste« von Steven Spielberg im Jahre 1994 hat noch einmal auf undurchsichtige Weise den Zusammenhang von Antisemitismus und Massenkultur thematisiert, der schon in den vierziger Jahren Sujet der kritischen Gesellschaftstheorie gewesen ist. Massenkultur produziert ein begriffsloses Durcheinander, in dem alles allem ähnlich ist. Jeder kann für einen Moment jede Rolle spielen. Was auf den oberflächlichen Betrachter wie ein Chaos wirkt, besitzt aber Struktur, Ordnung und Sinn. Die gesellschaftliche Regel, das praktische Grundgesetz der nachbürgerlichen Gesellschaft, wird mit der technischen Entfaltung der Kulturindustrie in jedes Wohnzimmer getragen: Wenn Du in Denken und Handeln akzeptierst, was alle denken und tun, dann kannst Du bei allem relativ gefahrlos mitmachen. Auf den Konformismus wird die soziale Prämie gemeinsamen Genusses gesetzt. Der überwältigende Erfolg kulturindustrieller Bearbeitung lässt sich feiern, wenn es gelingt, Auschwitz – Synonym größtmöglicher Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun können – kommensurabel zu machen. Kulturindustrie verwandelt Gewalt in folgenlosen konformistischen Genuss. Auf ihre Weise erzeugt sie das Bedürfnis nach immer mehr – Gewalt und Genuss.

Der Kritiker steht nicht außerhalb des kulturindustriellen Zusammenhanges. Nicht nur lebt er zumeist von diesen Produktionen, er nimmt auch zu einem großen Teil Wirklichkeit durch sie wahr. Aber schon diese notwendige Reflexion hat es schwer, Gehör zu finden. Das lässt sich am Schicksal von Adornos Behauptung, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, ablesen: Die überwältigende Mehrheit des Kulturpublikums wie seiner bevorzugten Produzenten hat sich nie die Mühe gemacht, den Zusammenhang einmal nachzuschlagen, in dem es zu dieser Behauptung gekommen ist. Adorno hat 1949 in dem Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« Motive aus den Minima Moralia und der Dialektik der Aufklärung, die mit der Wahrnehmung des systematischen Massenmordes in Europa verknüpft sind, auf eben diese Pointe gebracht, die allerdings nur als halbierte zur Kenntnis genommen worden ist. »Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«1

Auschwitz stellt nicht nur Kunst infrage, sondern jede Erkenntnis. Kunst aber galt 1949, als dies formuliert, und 1951, als der Satz publiziert wurde, als entscheidende Ressource von Unschuld. Die bürgerliche Kultur hatte in Deutschland jedoch mit dem Nationalsozialismus ihre Unschuld verloren. Sie musste neutralisiert und enthistorisiert werden, um eine Kultfunktion ausfüllen zu können. Ein völlig desorientiertes Bildungsbürgertum versuchte in Goethe zum Beispiel wieder den gesicherten Grund von Identifikation mit etwas Großem und Mächtigen zu finden, das nicht durch die gesellschaftlichen Prozesse des 20. Jahrhunderts desavouiert war. Ein Nestor deutscher Nationalgeschichtsschreibung wie der Historiker Friedrich Meinecke, der das Unheil von 1933 bis 1945 auf die Formel Die deutsche Katastrophe brachte, schlug 1946 ernsthaft die Gründung von »Goethegemeinden« vor, die sich sonntäglich treffen sollten. Das mag die bizarre politische Spitze einer kulturellen Alltagspraxis gewesen sein, die Kunst nach Auschwitz die Funktion einer Ersatzreligion zuwies. Vom konventionellen religiösen Ritual erwartet man Entlastung, die Erlösung vom Schuldzusammenhang. Adorno zog als Bote einer schlechten Nachricht Hass auf sich, als er die neutralisierte Kultur nicht als das unangetastet gebliebene Höhere feierte, sondern sie selbst als integralen Bestandteil des universalen Verblendungszusammenhangs kritisierte.

Völlig unverstanden und unbeachtet blieb Adornos Selbstreflexion auf die Rolle des erkennenden Kritikers, die er noch in seinem letzten Buch Negative Dialektik 1967 erneuert hat: »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.«2 Die Bemerkung »samt der dringlichen Kritik daran« hat so gut wie kaum einer bemerkt. Wie kein zweiter hat Adorno nach 1945 die Notwendigkeit einer Gesellschaftstheorie postuliert, die Auschwitz als die gesellschaftliche Katastrophe erkennt, die der Menschheit einen neuen kategorischen Imperativ aufzwingt – nämlich »Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«.3 Auschwitz lässt sich ohne Gesellschaftstheorie nicht erkennen. Gesellschaftstheoretische Erkenntnis verspricht weder Erlösung noch Versöhnung, sondern sie erzwingt Selbstreflexion. Der Erkennende muss noch im Erkenntnisprozess sich die »Kälte des bürgerlichen Subjekts« aneignen, ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre – aber eben die Erkenntnis von Auschwitz auch nicht. Nicht nur in Deutschland verstand die Öffentlichkeit Adornos paradoxes Diktum nicht, weil sie von Kunst keine Wahrheit erwartet und sie dem Denken misstraut. Theorie gilt ihr als weltfern oder potentiell totalitär, Kunst dagegen als ungefährlich und schön.

Das Paradox, das Adorno am Gedichteschreiben nach Auschwitz formulierte, gilt für Denken nach Auschwitz überhaupt. Ohne Erinnerung an die unterschiedlichen Arten von Schuld, vor der weder Entronnensein noch Nachgeborensein schützt, lässt sich Gesellschaft nicht mehr erkennen. Für das theoretische Denken stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Reproduktion in einer Schärfe, die Kunst nach Auschwitz schier unmöglich macht. Wie die künstlerische Produktion des ästhetischen Scheins bedarf, braucht das theoretische Denken notwendigerweise die Distanz, den vermittelnden und vermittelten Begriff, der für die massenhafte Vernichtung von Menschen nach industriellen Mustern nicht gefunden werden kann, ohne Züge der Rationalisierung4 anzunehmen. Die Wortwahl Auschwitz, die eine einzigartige gesellschaftsgeschichtliche Konstellation ebenso wie den Zusammenhang mit der Gesellschaft vor und nach Auschwitz bezeichnet, erkennt schon das Dilemma an, vor dem Denken nach Auschwitz steht. Der Sachverhalt selbst, den es zu erkennen gilt, macht das Postulat unabweisbar, weder zu banalisieren noch zu dämonisieren. Das traditionelle Ideal aber der Adäquation des Denkens an die Sache wird durch die Monstrosität des Sachverhalts selber unmöglich gemacht.

Die unvermittelte Wahrnehmung des Universums der Konzentrations- und Vernichtungslager lässt den Wahrnehmenden verstummen. Spontan möchte der Mensch sich abwenden, weil eine Scham in ihm angesprochen wird, mit der sich ein überwältigendes Gefühl von Ohnmacht verbindet. Die Wahrnehmung löst einen Vorgang der Abwehr aus, der sich mit dem Begriff der Verwerfung fassen lässt – eine Art der »Abwehr, die darin besteht, dass das Ich die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt verwirft und sich so benimmt, als ob die Vorstellung nie an das Ich herangetreten wäre«.5 Das Wort Auschwitz erinnert – an die Realität wie die mit ihr verbundene Gefühlswelt. Wer von Auschwitz reden wollte, ohne die mit diesem Wort verbundenen Affekte zu mobilisieren, muss sich bewusst Techniken bedienen, die aus der Psychoanalyse als Abwehrmechanismen schon bekannt sind.

Mit dem globalen Aufstieg des Fernsehens als dem beherrschenden Medium von Wirklichkeitsvermittlung begann auch die Karriere des Wortes Holocaust vor ungefähr vierzig Jahren. Wie ein Filter schiebt sich der Holocaust als massenmedialer Artefakt vor Auschwitz....

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