Zeitenwende
Das Ende der Alten Welt
Gewalt und Ausmaß des Ersten Weltkriegs sprengen alle Dimensionen vorheriger Konflikte und traumatisieren Millionen. Die Großmächte der Alten Welt gehen unter oder werden enorm geschwächt. Am Ende ist die alte Ordnung zertrümmert und Europa erschüttert
Von Ute Frevert
Bereits die Zeitzeugen jener Tage spürten es: Der Krieg, der im August 1914 begann und im November 1918 sein Ende fand, war etwas Einschneidendes. Er setzte eine historische Zäsur, trennte Altes von Neuem. Er trug, wie Kurt Tucholsky 1920 schrieb, „das bürgerliche Zeitalter“ zu Grabe, und er eröffnete eine neue Epoche, deren Signatur den damals Lebenden noch verborgen blieb: „Was jetzt kommt, weiß niemand.“
Man möchte sie um ihre Ahnungslosigkeit beneiden. Was kam, war eine Ära der Katastrophen, wie der 1917 geborene Historiker Eric Hobsbawm die Zeit bis 1945 nannte. Für seinen Fachkollegen Ernst Nolte leitete der Erste Weltkrieg die Epoche des „europäischen Bürgerkrieges“ ein, die mit der Niederlage des Nationalsozialismus endete. Für Mark Mazower, Jahrgang 1958, markiert er den Anfang eines Jahrhunderts, das Europa in einen „dunklen Kontinent“ verwandelte und es zum Schauplatz erbitterter weltanschaulicher Konflikte machte. Historiker, gleich welcher Generation oder politischen Haltung, stimmen mit den Zeitgenossen darin überein, die Jahre 1914 bis 1918 als epochalen Bruch zu deuten.
Was brach da ab und auseinander? Tucholsky und andere sprachen von einer „bürgerlichen“ Epoche, die 1914 zu Ende gegangen sei. Sie meinten damit das 19. Jahrhundert, in dem die Wertmaßstäbe des gebildeten Bürgertums den Ton angaben: die Hochschätzung von Individualität, persönlicher Leistung, rationaler Wissenschaft, gepflegter Geselligkeit, familiärer Intimität und zivilen Betragens. Dazu gehörte aber auch die Überzeugung, dass Konflikte durch Kompromiss und Ausgleich zu lösen seien statt durch Gewalt und physischen Zwang. Das galt für familiäre oder Nachbarschaftsstreitigkeiten nicht anders als für Arbeitskämpfe und außenpolitische Spannungen. Krieg und Gewalt hielt man zwar nicht für gänzlich illegitim, doch sollten sie sich möglichst auf Fälle existenzieller Gefährdung beschränken und in ihrem Ausmaß streng begrenzt werden.
Sicherlich war die Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht ganz so zivil, wie von Tucholsky und anderen gesehen. Dafür enthielt sie zu viele dunklere Schattierungen: die sozialen Ungleichheiten einer kapitalistischen Klassengesellschaft, die Diskriminierungen von Frauen, den Antisemitismus, autoritäre Regierungssysteme. Die zwischenstaatlichen Beziehungen waren mitnichten nur durch friedliche Verhandlungen und freundliche Monarchenbesuche geprägt; Kriege wurden sehr viel häufiger aus machtpolitischem Kalkül heraus angezettelt als aus existenziellen Zwängen.
Dennoch überwog – bei Zeitgenossen ebenso wie bei späteren Historikern – der Eindruck einer fortschrittlichen Entwicklung. Langsam, aber stetig schien alles besser zu werden: Die Wirtschaft boomte, der gesamtgesellschaftliche Wohlstand wuchs, krasse Not verschwand; rasante technische Innovationen erweiterten die Handlungs- und Bewegungsspielräume von Millionen, sozialpolitische Maßnahmen dämpften den Klassenkonflikt.
Außenpolitisch hatte man sich an Spannungen und Krisen gewöhnt – lebte aber auch in der Gewissheit, sie seien diplomatisch zu lösen. Allen Rivalitäten zum Trotz waren die europäischen Nationen ökonomisch und kulturell eng miteinander verbunden. Zudem einte sie das Bewusstsein der Überlegenheit gegenüber allen nichteuropäischen Kulturen und Zivilisationen.
Die meisten Menschen blickten somit zur Jahrhundertwende hoffnungsvoll in die Zukunft. Der Krieg zerstörte diesen Optimismus. Er veränderte Europa und die Welt tiefgreifend und dauerhaft.
Was aber hat diesen epochalen Bruch bewirkt? Der Hamburger Historiker Fritz Fischer meinte in den 1960er Jahren nachweisen zu können, dass Deutschland den Krieg bereits seit 1912 vorbereitet und die Krise in Sarajevo als Vorwand benutzt habe, um endlich „nach der Weltmacht“ zu greifen. Gegen diese Lesart gibt es zahlreiche Einwände; vor allem Fischers These von einem kühl berechneten, zielbewusst inszenierten Krieg hat der Überprüfung nicht standgehalten. Doch einig ist die Forschung sich heute darin, dass der Schlüssel zum Kriegsausbruch tatsächlich in Berlin gelegen hat und dass langfristige Ursachen ebenso wie kurzfristige Verwicklungen und riskante Kalkulationen dazu geführt haben.
Das Deutsche Reich, 1871 als neue Großmacht in der Mitte Europas entstanden, hatte sich seit den 1890er Jahren von der eher zurückhaltenden Außenpolitik verabschiedet, wie sie unter Bismarck betrieben worden war. Gestützt auf eine starke Wirtschaft und eine rasch wachsende Bevölkerung, sollte Deutschland fortan auch außen- und weltpolitisch eine größere Rolle spielen. Um diesen Anspruch zu befestigen, suchte man nicht nur den Kolonialbesitz zu erweitern, sondern rüstete auch Heer und Flotte massiv auf. Statt die Besorgnisse, die dieser Expansionskurs bei anderen europäischen Mächten weckte, durch geschickte Diplomatie zu besänftigen, heizte man sie durch forsches Auftreten und machiavellistische Manöver sogar noch an. Die Folge war, dass Deutschland nun international zunehmend isoliert war – und sich „eingekreist“ sah.
Das Kalkül der Reichsleitung, dass die kolonialpolitischen Konflikte zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland die Briten aus ihrer splendid isolation reißen und mit logischer Notwendigkeit an Deutschlands Seite treiben würden, ging nicht auf. Stattdessen verband sich Großbritannien 1904 in einer Entente Cordiale mit Frankreich und suchte 1907 die Annäherung an Russland. Auf die maritime Rüstungsprovokation Deutschlands reagierte es, indem es ebenfalls seine Flotte verstärkte, sodass sich der Abstand zwischen beiden Ländern eher vergrößerte.
Dennoch spielte der deutsch-britische Antagonismus für die Berliner Politik eine strukturell geringere Rolle als Deutschlands Spannungen mit Frankreich und Russland. Die Beziehungen zum westlichen Nachbarstaat waren seit 1870/71 überaus problematisch, und die Annexion Elsass-Lothringens blieb für Frankreich eine offene Wunde. Dass Paris 1892 Moskau als Bündnispartner gewonnen und seine politische Isolation überwunden hatte, erfüllte die deutschen Politiker mit wachsender Sorge.
Die massive Aufrüstung der französischen und russischen Armeen verstärkte das Bedrohungsgefühl in Berlin, auf das man mit dem Schlieffenplan militärisch reagierte (der Plan sah vor, dass Deutschland im Kriegsfall via Belgien zunächst Frankreich angreifen würde, um sich nach einem erhofften schnellen Sieg dann im Osten gegen Russland zu stellen). Ein künftiger Krieg, davon gingen Politiker ebenso wie Generäle aus, würde für Deutschland ein Zweifrontenkrieg sein – gegen Paris und Moskau.
Zugleich aber verstärkte sich der Eindruck, dass das Reich einem solchen Doppelkonflikt militärisch von Jahr zu Jahr weniger gewachsen sein werde. Trotz Hochrüstung war eine Überdehnung der Ressourcen absehbar, in finanzieller wie in sozialer Hinsicht. Der deutsche Generalstab drängte deshalb spätestens seit 1912 auf einen Krieg. „Je eher, desto besser“ – so Generalstabschef Helmuth von Moltke. In der Julikrise, die dem Attentat in Sarajevo am 28. Juni 1914 folgte, intensivierten die Militärs ihren Druck auf die Regierung, bis der Kaiser schließlich am 1. August die Mobilmachung anordnete.
Dass die militärischen Verantwortlichen in Berlin ebenso wie in Paris und London, Sankt Petersburg und Wien Gewehr bei Fuß standen und ihre Kriegsbereitschaft bekräftigten, kann man mit deren professionellem Interesse erklären. Dass die Staatsmänner aber auf sie hörten und ihrem Drängen nachgaben, bleibt begründungsbedürftig. Auch hier trifft die Hauptschuld – aber nicht die Alleinschuld – die Regierung in der Berliner Wilhelmstraße. Sie hätte die Eskalation des serbisch-österreichischen Konflikts verhindern können, tat aber das genaue Gegenteil. Auch wenn sie den großen Krieg nicht hundertprozentig wollte, so nahm sie ihn doch billigend in Kauf, ohne die Ziele und Konsequenzen hinreichend zu bedenken.
Der Vorwurf, leichtfertig, unverantwortlich und ohne gründliche Abwägung gehandelt zu haben, ist jedoch auch den Staatsmännern in den übrigen europäischen Hauptstädten zu machen. Selbst wenn sich ihr Handlungsspielraum zunehmend verengte, so ließen sie es an der gebotenen Umsicht angesichts einer derart existenziellen Entscheidung fehlen. Statt sich deren Folgen kühl-rational vor Augen zu führen, verharrte man in Prestigedenken und flüchtete sich in Pathosformeln von nationaler Ehre und...