Einleitung
Glaubt man den Medienberichten über den Büchermarkt, so haben Ratgeber und praktische Lebenshilfebücher Konjunktur. Warum also noch ein Buch zu diesem reichlich beackerten Feld? Noch dazu mit dem zugegebenermaßen zwar Interesse weckenden, aber dennoch etwas sperrigen Titel Entrümple deinen Geist? Neben der Tatsache, dass mich Hans Christian Meiser dazu angeregt hat, dieses Buch zu schreiben, wofür ich ihm hiermit danke, war es das Thema, das mich schon seit Jahren beschäftigt hat. In meiner über fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit als Seelsorger und Prediger hat es mich immer weniger in Ruhe gelassen, dass gerade die christliche Religion, die unsere europäische Kultur hauptsächlich geprägt hat, mehr und mehr als Belastung denn als Hilfe für das Leben angesehen wurde.
Ich habe es als beschämend empfunden, wenn bei Gesprächen und Diskussionen immer wieder die sattsam bekannten Vorwürfe erhoben wurden, das Bodenpersonal des lieben Gottes komme vorzugsweise mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Menschen zu – wenn es überhaupt noch auf Menschen zugehe. Vor allem die moralischen Imperative »Du sollst!« beziehungsweise »Du musst!«, »Du darfst nicht!« erwiesen sich neben rein rationalen, sogenannten wissenschaftlichen Argumenten als die Haupthindernisse für einen vorurteilsfreien Zugang zum Wesen des Christentums.
Eugen Biser, einer der anregendsten Theologen unserer Tage, weist immer wieder auf dieses Missverständnis hin, wenn er sagt, das Christentum sei im Gegensatz zum Judentum und zum Islam keine moralische, sondern eine therapeutische Religion. Damit stößt er sozusagen in unser Horn. Was Jesus sagt und tut, seine Verkündigung und seine Handlungen, sind vor allem Therapie, sie sind heilend, das heißt, sie entlasten und befreien, sie entrümpeln Geist und Seele. Sie sind vor allem auf ein sinnvolles und erfülltes Leben ausgerichtet, sie sind echte Lebenshilfe, um in unserer Sphäre zu bleiben. Der Jesus des Johannesevangeliums drückt dies mit dem kurzen und eindrücklichen Wort aus: »Ich will, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben.« (Johannes 10,10) Es geht ihm also um ein »Leben in Fülle«, ein erfülltes Leben. Damit reiht er sich ein in die große Tradition aller Denker und Helfer der Menschheit, die den Menschen dabei die Hand reichen wollen, die Glückseligkeit, die »eudaimonia«, durch rechtes Denken, Fühlen und Handeln zu erlangen – vor allem in Bezug zur unbelebten und belebten Umwelt, in den sozialen Bezügen zu den Mitmenschen und im Verhältnis zur Transzendenz, zum Göttlichen.
Dieser Eudämonismus, die Hochschätzung der Glückseligkeit, und die Lehre über den rechten Weg zu ihr, sie sind es, die ich mit diesem Buch als einen Teil unserer Kultur und Tradition wiederzuentdecken helfen möchte. Es geht hier also nicht vorrangig um eine Apologie des Christentums, um seine Verteidigung – das hat es auch gar nicht nötig –, sondern um einen neuen Zugang (unter vielen möglichen!) zu dieser Religion, der ihren »Anwendernutzen« für Menschen unserer Tage aufzeigen will, um es einmal mit einem wirtschaftlich-technischen Begriff auszudrücken. Dabei kann ich auf eine lange Überlieferung zurückgreifen, die Ähnliches immer wieder einmal auch schon früher unternommen hatte. Dreißig Jahre lang hatte ich Gelegenheit, eines dieser »Rezeptbücher« für das gelingende Zusammenleben im Geist des Christentums sozusagen am eigenen Leib auszuprobieren, nämlich die Klosterregel des Benedikt von Nursia[1].
Er hat für Mönche, die »unter Regel und Abt« – das heißt, modern gesprochen, mit einer wert- und zielorientierten Organisations- und Führungskultur – leben und arbeiten wollen, ein bis heute flexibel einsetzbares Lebenshilfebuch geschaffen, das nach seinen eigenen Worten für jeden, »wer immer du bist«, nutzbringend angewandt werden kann. Mein Abt Odilo Lechner, den ich hier dankbar erwähnen möchte, hat mir die Augen dafür geöffnet, dass Benedikt auch ein Lehrmeister für Menschen und ihre Lebens- und Arbeitswelt außerhalb von Klostermauern sein kann.
Vielleicht wird die große Zeit dieser Regel erst in der Zukunft kommen, wenn unsere Wirtschaftswelt sich auf die notwendige »Work-Life-Balance« zurückbesinnt, die ihre Grundform schon in der alten Zusammenfassung dieser Regel in dem Motto »ora et labora« bekommen hatte. Dass die Welt der Arbeit und der Ökonomie gleichwertig mit der Welt des Geistes und der Seele ist und von dieser Balance ihre eigentliche Würde bekommt, kann in einer Zeit, in der sich diese für den modernen Menschen so wichtigen Lebensbereiche angeblich gegenseitig ausschließen, nicht oft genug betont und in Erinnerung gerufen werden. Mir selbst hat sie in achtzehn Jahren Tätigkeit als Wirtschaftsleiter im Kloster Andechs geholfen, erfolgreich zu wirtschaften, immer besser zu lernen, mit Menschen umzugehen, dabei das gemeinsame Gebet, das heißt die Erinnerung des Lebensgrundes, zu pflegen und die zur geistigen und seelischen Pause anregende »lectio divina«, die lesende Beschäftigung mit göttlichen Dingen, nicht zu vernachlässigen. Inzwischen ist es mir zum Beruf geworden, den uralten Weisheiten der Mönche Gehör zu verschaffen für ein sinnstiftendes und damit erfolgreiches Berufs- und Wirtschaftsleben in unserer als schnelllebig und hektisch verschrienen Ökonomie. Verschiedene Beispiele aus meiner Praxis als Berater von Managern und Unternehmern werden mir dabei helfen, das Empfohlene zu illustrieren.
Die Benediktsregel wird von einem benediktinischen Theologen unserer Tage sogar als ein fünftes Evangelium, nämlich das »Evangelium nach Benedikt«, bezeichnet. Sie will eigentlich nichts anderes, als das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe in einer Gemeinschaft von Menschen lebbar machen. Sie schöpft in ihren konkreten Weisungen aber nicht nur aus der Tradition der jüdisch-christlichen Bibel, sondern auch aus der Weisheit der Antike, die uns gerade in den Klosterbibliotheken des Mittelalters bewahrt wurde. Die griechisch-römische Philosophie mit ihrem Bemühen um Welterklärung und Vermittlung von Lebenwissen, dem Ideal vom »Wahren, Guten und Schönen« ist mir persönlich in den letzten Jahren immer mehr ans Herz gewachsen. Unser breitgefächerter Wissenskanon lässt sich ohne die gar nicht so bescheidenen Anfänge des abendländischen Denkens nicht begründen. Ein Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts meinte sinngemäß einmal, alle geäußerten und geschriebenen Gedanken seit Plato seien nichts anderes als Fußnoten zu seinem Werk. Dabei sind es besonders zwei scheinbar gegensätzliche Wege beschreitende Gestalten, die zu meiner regelmäßig benützten Lektüre gehören: zum einen Epikur, der verkannte und zu Unrecht als Hedonist gebrandmarkte »Philosoph des Gartens«, und zum anderen der Stoiker Seneca, der auch als Geschäftsmann erfolgreiche Erzieher des späteren Kaisers Nero.
Seit den Anfängen des Christentums in der Antike und in einer Verdichtung im Hochmittelalter sind es vor allem die Mystiker, die aus dem Geist der religiösen Verinnerlichung heraus neue Zugänge in Theologie und Philosophie eröffnen. Sie wollen Gott weniger denken und erklären, sondern anderen Menschen vielmehr über ihren Zugang der Erfahrung Gottes berichten und sie ermuntern, diesen Weg selbst zu gehen. Oft genug überschreiten sie damit die Grenzen des Sagbaren und geraten in die Fänge kirchlicher Orthodoxie, die mit Ängstlichkeit und Argwohn über ihre Deutungshoheit der Verkündigung Jesu wacht. Die deutsche Mystik, allen voran Meister Eckhart, ein Dominikanermönch in der Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert, geht erstaunliche Wege in ihrer Gottesrede. Einem späten Schüler dieser Mystiker des Mittelalters, Angelus Silesius, dem schlesischen Konvertiten und Priester Johannes Scheffler, verdanken wir auch den Untertitel dieses Buches. In seinem Hauptwerk, dem Cherubinischen Wandersmann, das aus gereimten Aphorismen in Form von meist zweizeiligen Epigrammen besteht, schreibt er im Zweiten Buch: »Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht/so fällt der Zufall weg, das Wesen das besteht.« Und an anderer Stelle: »Der Zufall muss hinweg und aller falscher Schein:/du musst ganz wesentlich und ungefärbet sein.«
In der barocken Sprache des Jahres 1675, in dem sein Buch erschienen ist, bedeutet das Wort Zufall vor allem das Nebensächliche, Zufällige, Unwesentliche. Und mit »ungefärbet« meint Angelus Silesius, der Mensch soll sich nicht schminken und mehr scheinen als sein wollen. Das Wesentliche besteht also in dem, was bleibt, wenn der bloße Schein der Welt vergeht, das, was den Wesenskern des Menschen ausmacht. Dieser bloße Schein ist also das, was den Blick auf das Wesentliche verstellt.
In unserer Erfahrung nehmen wir wahr, dass wir im Leben neben jenen Dingen, die uns schon an Schwierigkeiten unserer eigenen Psyche mitgegeben sind, oft genug selbst noch sehr viel Unnötiges dazustellen. Denkweisen, Ansichten, Meinungen, die wir von anderen, von den Medien, von außen vermittelt bekommen und die oft genug, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, zu Blockaden unseres Blicks auf das Eigentliche, auf das Wesentliche werden.
Es geht im Folgenden also hauptsächlich darum, einen klaren Blick auf das eigene Denken zu bekommen. Dies unterscheidet diesen Ratgeber auch von anderen, die das sofort praktisch Anwendbare in den Vordergrund stellen. Hier sollen dagegen Impulse für ein allmähliches Umdenken gegeben werden. Dabei möchte ich den – zugegebenermaßen subjektiv ausgewählten – Bereich der religiösen, konkret christlichen und abendländisch philosophischen Denktradition als Hilfsmittel für die...