TEAM CHAOS, NA UND?
„Ein bisschen stehen die Buchstaben noch auf dem Kopf, aber es wird schon alles gut.“
Flora, 4 Jahre, bei ihren ersten Schreibversuchen
Manche Menschen wirken einfach makellos und scheinen die Perfektion zu leben. Sie sehen gut aus, sind durchtrainiert, ernähren sich gesund und schweben duftend, strahlend und stets pünktlich ins Büro, sie führen die allerglücklichste Ehe, sind hilfsbereit, aufmerksam, freundlich, fröhlich und entspannt – immer! Noch dazu haben sie unglaublich gut erzogene, wunderhübsche Kinder und wenn sie nicht gerade die Welt retten, engagieren sie sich neben ihrem Job als Elternvertreter im Kindergarten und als Lesepaten in der Schule. Gibt’s nicht, sagen Sie? Sie haben recht. Niemand ist perfekt. „Unter jedem Dach ist ein Ach“, beschwichtigte mich meine Mutter, als sie sah, wie ich mit meinen zwei kleinen Kindern an meiner Work-Life-Balance herumdokterte und auf das vermeintlich perfekte Glück der anderen schielte.
Grundsätzlich finde ich den steinigen Weg ziemlich reizvoll und auch die Extraportion kreatives Chaos mag ich sehr gern. Seit meine beiden Kinder mitmischen, hat sich mein Leben jedoch zu einem Konfettidesaster gesteigert – es ist wild, bunt, hinterlässt seine Spuren bis in den hintersten Winkel und nie will jemand aufräumen. Pünktlichkeit ist für mich keine Tugend, sondern eine ständige Herausforderung, ich habe klebrige Gummibärchen an meiner Kleidung und meine Handtasche ist voller Schokoladenriegelreste, Bonbonpapier und Kekskrümel. In der täglichen Hektik bleibt häufig keine Zeit für einen flüchtigen Kontrollblick in den Spiegel und so verlasse ich schon einmal das Haus mit Prinzessin-Lillifee-Spängchen im Haar und Essensresten zwischen den Zähnen. Ich vergesse mein Handy, vergesse mein Portemonnaie, vergesse grundsätzlich ziemlich viel, und die Einzigen, die noch chaotischer sind als ich selbst, sind meine Kinder. Mit dem Unterschied, dass sie sich kein bisschen darum scheren. Während ich nach Perfektion strebe, streben sie danach, sie selbst zu sein, und machen wieder einmal alles richtig.
Genau wie wir haben Kinder hohe Ansprüche und wollen Höchstleistungen vollbringen. Gerade Geschwister stehen im ständigen Wettstreit. Die Kleinen wollen auch wie die Großen einhändig Fahrrad fahren oder lesen und schreiben und schrecken vor keiner noch so wilden Kletterpartie zurück. Die Großen versuchen sich natürlich abzugrenzen und ihren Vorsprung gegenüber den Kleinen weiter auszubauen. Mit dem Vorsatz, man müsse sich einfach mal am Unmöglichen versuchen, um herauszufinden, was möglich ist2, und beseelt vom olympischen Gedanken „Dabei sein ist alles“, verbuchen Kinder das „Mögliche“ als Etappensieg und streben weiterhin fröhlich nach dem „Unmöglichen“. Machen wir uns nichts vor: Diese Lockerheit haben die meisten von uns Erwachsenen irgendwann verloren. Bei uns springt sofort das Kopfkino an und präsentiert im Vorspann unser Ideal vom perfekten Leben und gleich danach in den schillerndsten Farben, was auf dem Weg dorthin alles schiefgehen könnte, sowie mindestens eintausend Gründe, warum es eigentlich viel besser wäre, unser Vorhaben von vornherein abzubrechen. Wie unrealistisch diese vermeintlich perfekten Maßstäbe sind, interessiert uns dabei herzlich wenig. Wir orientieren uns am äußeren Schein, den uns die zahlreichen Hochglanzmagazine präsentieren, und verpassen diesen Bildern den Stempel „Perfekt“. So sollte ein Leben aussehen. So sollte unser perfektes Leben aussehen. Dass die abgebildeten Menschen auch nicht glücklicher, geschweige denn zufriedener sind, wollen wir nicht wissen. So setzen wir uns unter Druck und beschränken unser Potenzial durch die Angst zu versagen, Erwartungen nicht zu erfüllen und andere und uns selbst zu enttäuschen. In der Folge leiden viele von uns unter Burn-out, Tinnitus, Schlaf-, Ess- oder Angststörungen, Kopfschmerzen oder Depressionen. Als im November 2009 der Selbstmord des Nationaltorhüters Robert Enke dessen Depression offenbarte, wurde zugleich die Schattenseite eines vermeintlich perfekten Lebens sichtbar. Und plötzlich bekam der Druck der heutigen Leistungsgesellschaft ein Gesicht und was lange Zeit als Unzulänglichkeit abgetan wurde seine Anerkennung als ernst zu nehmende Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt davor, beruflichen Stress zu unterschätzen, und erklärte ihn sogar zu einer der größten Gesundheitsgefahren unseres Jahrhunderts.3
Eigentlich könnte der Wunsch nach Perfektion so ein herrlicher Motor sein, ein anzustrebendes Ideal, ein Quasi-Ziel, doch er wird zum Stressfaktor. Fred Feuerstein halfen die Stresshormone, blitzschnell auf Gefahren zu reagieren und Herausforderungen zu bewältigen. Auch heute, ohne den täglichen Kampf mit dem Säbelzahntiger, ist eine gesunde Portion Stress wichtig, um unser Verhalten an unterschiedliche Situationen anzupassen und Neues zu lernen. Doch bei vielen von uns werden so viele Stresshormone ausgeschüttet, dass wir permanent in Alarmbereitschaft sind. Sich auch einmal entspannt zurückzulehnen, das Leben zu genießen, müssen wir uns geradezu erlauben. Die Folgen sind Schlaflosigkeit, Anspannung, Vergesslichkeit, ein geschwächtes Immunsystem und Erschöpfung. Stressforscher raten, das Stresssystem so schnell wie möglich wieder ins Lot zu bringen. Umso länger es aus dem Gleichgewicht ist, desto gravierender sind die gesundheitlichen Schäden. Langfristig lässt chronischer Stress sogar bestimmte Regionen unseres Gehirns schrumpfen.4
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Das Schlimme daran ist: Wir sind selbst schuld. Den meisten Stress machen wir uns selbst. Auch und vor allem durch den Wunsch nach Perfektion. Wir erschaffen ein Idealbild, das nur wenig mit dem zu tun hat, was andere tatsächlich von uns erwarten. Und was, wenn doch? – Wer, außer uns selbst, entscheidet über unsere Ziele? Nur wir und niemand sonst entscheidet darüber, was wir im Leben erreichen wollen und welchen Weg wir dafür wählen. Wir sind nicht perfekt? – Na und? Entscheidend ist doch, dass wir beweglich bleiben und lernen, mit Niederlagen, Fehlern und Makeln umzugehen. Natürlich will jeder von uns seine Ziele erreichen und es ist frustrierend, wenn etwas nicht so klappt, wie wir das gerne hätten. Doch es ist nicht allein die Situation, unter der wir leiden, sondern vielmehr die damit einhergehenden Gedanken und Emotionen. „Was denken die anderen jetzt über mich?“, „Oh, ist das peinlich!“, „Das war so klar, dass ich das nicht schaffe!“ – Traurig und verärgert lecken wir unsere Wunden und hoffen, dass unsere Schmach möglichst unentdeckt bleibt.
Kinder reagieren in diesem Punkt genauso, doch im Gegensatz zu uns geben sie deswegen nicht auf. Aus Angst, sich wieder dumm anzustellen oder etwas falsch zu machen, trauen wir uns nicht an neue Aufgaben. Wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel schauen wir frustriert und deprimiert auf die Schiffe, die am Horizont vorbeiziehen – unerreichbar, weil wir sie mit unserem mickrigen Feuer nicht auf uns aufmerksam machen können. Kinder würden nun sofort losrennen und wieder neues Feuerholz suchen, um beim nächsten Rettungsschiff garantiert gesehen zu werden. Was machen wir? Wir verharren im Stillstand, finden es ganz schrecklich, reden uns aber gleichzeitig ein, dass es sich einfach nicht lohnt, noch einmal all den Aufwand zu betreiben, wenn es ganz bestimmt wieder nicht funktioniert. Also stecken wir den Kopf in den Sand und verwerfen gleich noch all die anderen tollen Ideen, die uns von dieser einsamen Insel weg und zurück in die Zivilisation bringen könnten. Und so stehen wir mit der Perfektion auf Kriegsfuß, anstatt sie als Katalysator für unser Potenzial zu nutzen.
Buddhisten und Yogis üben die Konzentration auf ihren Atem und schalten dadurch, für eine gewisse Zeit, ihren Verstand aus und mit ihm all das Bewerten, Beurteilen und Kritisieren – das pausenlose Geschnatter in unserem Kopf. In diesen ruhigen Momenten der Entspannung finden sie zu sich selbst zurück. Die Meditationstrainerin Susan Piver verglich einmal unser Leben und Denken mit dem Jagen eines Hundes nach einem Stöckchen. Wie der Vierbeiner hetzen und hecheln wir durch unseren Tag, streben immer schneller und weiter nach vorn und unsere Gedanken machen mit. So aufgedreht, fällt es uns natürlich schwer, Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Susan Piver ist der festen Überzeugung, dass wir uns durch regelmäßige Meditation von einem Hund in einen Tiger verwandeln können. Einen Tiger, der nicht jedem Stöckchen hinterherrennt, sondern sich umdreht, um nachzusehen, wer das Stöckchen geworfen hat. Wer es schafft, kleine Oasen der Ruhe in seinem Alltag zu etablieren, hat also die Chance, seinen Gedanken auf den Grund zu gehen, und findet dadurch die Kraft, Lösungen für auftretende Schwierigkeiten zu finden. Aber auch die Gelassenheit, sich mit einer ausweglosen Situation abzufinden, um langfristig wieder glücklich zu werden.
Es liegt also an uns, mit dem Möglichen zufrieden zu sein und ob wir weiterhin nach dem Unmöglichen streben wollen. Krankheiten wie Burn-out entstehen vor allem aus dem Druck, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen. Sollten jedoch wirklich „die anderen“ unser Maßstab sein?
Vielleicht kennen Sie ja die Geschichte des türkischen Till Eulenspiegel, Nasreddin Hodscha, über den Mann und seinen Sohn, die in der Mittagshitze mit ihrem Esel durch die staubigen Gassen zogen? Darin reitet der Vater auf dem Esel und sein Sohn läuft neben ihm. Ein Passant empört sich: „Der arme kleine Junge. Seine kurzen Beine versuchen, mit dem Tempo des Esels Schritt zu halten. Wie kann man nur so faul auf dem...