Warum ich Angehörige demenzkranker Menschen interviewte
Meine Mutter ist dreiundachtzig Jahre alt und seit sechs Jahren demenzkrank. Die ersten Anzeichen deuteten wir als ganz normale, altersbedingte Vergesslichkeit, aber irgendwann war nicht mehr auszublenden, dass eine Demenz vorliegt.
Früher war sie eine sehr aufopferungsbereite Frau, die sich selbst immer stark zurücknahm, die aber doch eine »ruhige Stärke« besaß. Auch heute in der Demenz ist sie sehr »pflegeleicht«: Sie ist nicht aggressiv, nicht unruhig, sie läuft nicht weg, sie stellt keine Ansprüche, hat keine körperlichen Gebrechen und sie wehrt sich nicht dagegen, dass fremde Personen vom Pflegedienst oder aus sozialen Einrichtungen zu ihr in die Wohnung kommen. Diese Bedingungen trugen erheblich dazu bei, dass wir ihren Alltag nach dem Tod meines Vaters vor vier Jahren sehr schnell gut organisieren konnten.
Meine Schwester und ich werden durch einen sehr guten Pflegedienst und durch engagierte Frauen in der Betreuung unserer Mutter unterstützt. Objektiv betrachtet sind die Bedingungen also fast ideal.
Weil die persönliche Betreuung meiner Mutter und die Organisation, die erforderlich ist, um ihren Alltag zu regeln, dennoch einen Großteil meiner Zeit beansprucht, habe ich mich entschieden, momentan nicht erwerbstätig zu sein. Ich bin dankbar dafür, dass ich eine Lebenssituation habe, die das ermöglicht. Durch diese Bedingungen kann ich mir die Zeiten, die ich bei meiner Mutter verbringe, relativ frei einteilen. Ich muss die Betreuung nicht zeitlich getrieben und innerlich gestresst nach einem harten Arbeitstag leisten. Das macht die Situation leichter für mich. Alles wunderbar, könnte man denken. Aber trotz all der positiven Randbedingungen strengt mich die Betreuung häufig sehr an, und manchmal fällt es mir schwer, mir klar zu machen, woran das liegt.
Meine ehemals starke Mutter verwandelte sich von einer aktiven, kontaktfreudigen, einfühlsamen Frau in ein völlig willen- und antriebsloses Wesen und war plötzlich gar nicht mehr stark, sondern sehr hilfsbedürftig. Ohne Aufforderung würde sie weder morgens aufstehen noch ihre Körperpflege durchführen noch etwas zu essen für sich zubereiten. Sie würde den ganzen Tag im Bett liegen oder auf ihrem Stuhl sitzen, und essen würde sie zwischendurch mal ein paar Löffel Marmelade, Kekse oder was gerade zu finden wäre.
So, wie sie selbst ohne die täglichen Einsätze der Pflegepersonen verkommen würde, vernachlässigt sie auch alles um sich herum. Und dabei legte sie früher so viel Wert auf ihre eigene Gepflegtheit und es machte ihr immer viel Freude, Haus und Garten in Ordnung zu halten. Ihr (gesundes) Leben lang liebte sie Blumen so sehr – heute ist sie nicht mehr in der Lage, ihren Topfblumen Wasser zu geben, Schnittblumen vertrocknen in der Vase, wenn das Wasser verbraucht ist.
Diese Verwahrlosungserscheinungen zu ertragen ist sehr schwer für mich. An den unterlassenen Handlungen wird ihre Krankheit und die damit einhergehende Wesensänderung für mich besonders schmerzhaft deutlich.
Meine Mutter war sehr einfühlsam, früher, als sie noch nicht demenzkrank war. Durch die Demenz ging auch diese Fähigkeit verloren. Sie kann nicht mehr auf mich oder auf einen anderen Menschen eingehen, kann die Sorgen und Nöte anderer nicht mehr sehen. Das, was für sie und für mich das Selbstverständlichste war, geht nicht mehr.
Manchmal kann ich das so hinnehmen, aber manchmal, wenn es mir selbst körperlich oder seelisch nicht gut geht, kränkt mich die fehlende Anteilnahme.
Vor drei Jahren habe ich geheiratet, das erste Mal in meinem Leben, mit fast fünfzig Jahren habe ich mich getraut. Ganz häufig nahm meine Mutter die Einladungskarte in die Hand, guckte kurz drauf – um sie dann wieder aus der Hand zu legen, ohne zu Ende gelesen zu haben, ohne Kommentar. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass ihre Töchter heiraten. Nun erfüllte ich ihr Sehnen, aber es erreichte sie nicht mehr. Das tat mir für uns beide Leid. Für sie, weil sie sich nicht mehr darüber freuen konnte, und für mich, weil es mich kränkte, dass sie mich bei dieser großen Entscheidung nicht mehr in meine Lebenswelt begleiten konnte.
Das, was meine Mutter einmal ausmachte, löst sich auf. Vor allem die Wesensänderungen sind es, die mir sehr zu schaffen machen, die mir das Gefühl vermitteln, dem langsamen Sterben meiner Mutter zuzusehen. Oft habe ich das Gefühl, es ist ein Abschied zu Lebzeiten, den ich bewältigen muss, und häufig geht mir diese schwere Aufgabe so sehr an die Substanz, dass ich mich damit überfordert fühle.
Auch das Verhältnis zu meiner Schwester hat sich durch die Demenz unserer Mutter erheblich verändert. Wir sind jetzt nicht mehr nur Schwestern, sondern haben eine gemeinsame Verantwortung für das Leben unserer Mutter. Wir müssen ein ganzes Leben organisieren und haben uns, in unserer Überforderung damit, häufig gestritten und uns gegenseitig Vorwürfe gemacht. Dass ich zusätzlich zu dem schleichenden Abschied meiner Mutter auch noch die Unbeschwertheit in der Beziehung zu meiner Schwester verlor, war nur schwer zu verkraften.
Ich brauchte ganz dringend Unterstützung. So ging ich in eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Demenzkranken und stellte fest, dass es sehr gut tut, von anderen in ähnlichen Situationen zu hören. Ich ging zu vielen Vorträgen und machte die Erfahrung, dass es mir hilft, mich auch theoretisch mit dem Thema Demenz auseinander zu setzen.
Aber ich brauchte noch etwas, das ich jederzeit in die Hand nehmen konnte, das mir Trost gab, wenn ich ihn gerade nötig hatte. Gewünscht habe ich mir ein Buch, in dem benannt wird, was speziell den Leidensweg der Angehörigen Demenzkranker ausmacht. Auf der Suche nach Literatur stellte ich fest, dass alles, was ich zum Thema Demenz fand, eher auf der pflegerischen oder medizinischen Ebene bleibt, die psychologische Ebene jedoch nicht betrachtet, und dass die Literatur den kranken Menschen ins Zentrum stellt und nicht die Angehörigen mit ihren seelischen Belastungen. So entstand die Idee, Interviews mit Angehörigen von demenzkranken Menschen durchzuführen, und ich bat pflegende und begleitende Angehörige, über die Gefühle zu sprechen, mit denen sie durch die Demenz eines nahe stehenden Menschen konfrontiert werden.
Mein vordergründiges Anliegen war nicht, die allgemeinen Strapazen pflegender Angehöriger darzustellen. Auch ging es mir nicht darum, die Krankheit zu beschreiben, sondern darum, zu betrachten, welche Auswirkungen die Demenzerkrankung auf Angehörige haben kann – zu benennen, welche seelischen Belastungen sie durch die Ausprägungen der Demenz verkraften müssen.
Es war auch nicht mein Anspruch, repräsentativ zu sein. Die entstandenen Erfahrungsberichte sind Blitzlichter. Sie stellen am Beispiel dar, welche Gesichter die Krankheit haben kann und was den Angehörigen dadurch abverlangt wird.
Wesensänderungen sind ein Merkmal der Demenz, das den Angehörigen häufig sehr zu schaffen macht. Auch Angehörige, die nicht pflegen oder begleiten bzw. dies nicht durchgängig tun, müssen sich mit der Persönlichkeitsveränderung des erkrankten Menschen und den damit einhergehenden Abschiedsprozessen auseinander setzen. Darum habe ich nicht nur pflegende Angehörige interviewt, sondern auch Angehörige, die nicht oder nicht ständig in die Pflege oder Begleitung eingebunden sind.
Vielleicht kann man sogar nur dann, wenn die tägliche Pflege oder Begleitung des nahe stehenden Menschen einen nicht permanent aufreibt, Gedanken zur eigenen seelischen Belastung zulassen?
Davon ausgehend, dass es besonders schmerzhaft ist, die Wesensänderungen zu erleben, wenn man zu dem erkrankten Menschen lange vor Ausbruch seiner Krankheit eine intensive Beziehung hatte, wie Kinder sie zu ihren Müttern oder Vätern haben oder Partner zueinander, habe ich nur diese Personengruppen für die Gespräche gewählt.
Es war nicht schwierig, Interviewpartner und -partnerinnen zu finden. Das erste Interview führte ich mit meiner Schwester. Durch meinen nahen oder ferneren Bekanntenkreis wurden mir Menschen vermittelt, deren Mutter oder Vater demenzkrank ist. In einer Selbsthilfegruppe traf ich Frauen und einen einzigen Mann, deren Partner von dieser Krankheit betroffen sind. Weitere Angehörige Demenzkranker wurden mir von verschiedenen Pflegediensten genannt.
Die Befragten tauchten in diesen Gesprächen sehr intensiv in die Demenz-Problematik ein. Einigen ging das Thema so nahe, dass auch Tränen flossen.
Nach der Durchführung der Interviews bekam ich von einigen Gesprächspartnern und -partnerinnen die Rückmeldung, dass sie es als hilfreich empfanden, sich einmal »am Stück«, ohne Unterbrechung, mit ihren Gedanken und Gefühlen zum Thema Demenz auseinander zu setzen. Sie teilten mir mit, dass es ihnen gut tat, Fragen zu beantworten, die sie sich manchmal auch allein gestellt, aber nicht zu Ende gedacht hatten, weil sie durch den Alltag unterbrochen wurden oder sie nicht zu Ende denken mochten. Manche bemerkten, dass ihnen durch das Interview, durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema, erstmalig bewusst wurde, was sie bisher geleistet hatten oder immer noch leisten. Durch die Fragen wurde einigen erst klar, was es bedeutet, mit einem demenzkranken Elternteil oder einem demenzkranken Partner zu leben.
Ich habe meinen Interviewpartnern sehr persönliche Fragen gestellt, auch – vielleicht – umstrittene Fragen wie: »Haben Sie sich schon manchmal gewünscht, dass Ihr kranker Angehöriger stirbt?« Dass bei der Pflege oder Begleitung eines nahe stehenden Menschen auch Gefühle auftauchen, wie Trauer, Wut, Scham, Hilflosigkeit, Überforderung, Schuld, Kränkungen etc. ist nicht verwunderlich. Oft...