Kapitel 1
Einleitung
Fußball ist unser Leben, / denn König Fußball
regiert die Welt. / Wir kämpfen und geben alles, /
bis dann ein Tor nach dem andern fällt.
Ja, einer für alle, alle für einen. / Wir halten
fest zusammen, / und ist der Sieg dann unser, /
sind Freud’ und Ehr für uns alle bestellt.
Diese Zeilen sangen die Nationalspieler um Franz Beckenbauer aus Anlass der zehnten Fußballweltmeisterschaft, der ersten, die in Deutschland ausgetragen wurde. Der vom ehemaligen Fußballer Jack White im Polkarhythmus komponierte Schlager stürmte damals die deutsche Hitparade. Der Fußball regierte die Welt zwar noch nicht im gleichen Maße wie heute, der Verweis auf die Freude im Liedtext stimmte aber ganz sicher. Den Spielern ging es nämlich wie allen Athleten in erster Linie um den Spaß an ihrem Sport. Die Vorstellung, dass die Mannschaft fest zusammenhielte und für die nationale Ehre spielte, passte allerdings 1974 schon nicht mehr in die Zeit. Man kann zwar davon ausgehen, dass solche Worte den etwas altbackenen Funktionären des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) um Hermann Neuberger, den Cheforganisator der WM 1974, gefielen. Aber die Hauptaufgabe des munteren Songs war es – das war auch ihnen klar –, Geld für das WM-Organisationskomitee (WM-OK) zu verdienen (Körner 2006, S. 180). Mit Vicky Leandros’ Hit aus demselben Jahr, »Theo, wir fahr’n nach Lodz«, konnte man zwar nicht mithalten, aber mit fast einer halben Million verkauften Exemplaren hätte es beinahe zu einer Goldenen Schallplatte gereicht.
Der WM-Song von 1974 verweist auf eines der Hauptthemen dieses Buches, die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs in den 1960er und 70er Jahren und seinen Aufstieg zu einem wichtigen Teil der Unterhaltungsindustrie. Der Fußball wurde in der Tat modern. Nachdem Spieler wie Beckenbauer und Gerd Müller schon in den Sechzigern Schlager eingespielt hatten, war es 1974 bezeichnenderweise das erste Mal, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft ein WM-Lied aufnahm. Aber auch andere damit zusammenhängende und mit Blick auf die Zukunft für den Fußball und sein wichtigstes Turnier bedeutende Aspekte lassen sich anhand der WM 1974 gut beobachten: etwa die zunehmende Rolle, die der Fußball für das Fernsehen spielte. Wer 1974 keine Lust auf den Besuch eines der Turnierstadien in Hamburg, Westberlin, Hannover, Gelsenkirchen, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Stuttgart und München hatte, konnte die WM ausführlich wechselweise in der ARD oder im ZDF sowie in den dritten Programmen verfolgen. Nie zuvor wurde so ausgiebig live und in Zusammenfassungen über ein Sportereignis berichtet, nicht einmal während der Olympischen Spiele 1972. Seit 1974 nahm dann die Sendezeit für den Fußball auch auf Kosten anderer Sportarten beständig zu, eine Entwicklung, die durch das Privatfernsehen seit den 1980er Jahren noch beschleunigt wurde.
Im Umkehrschluss steht die WM 1974 zudem für die steigende Bedeutung, die das Fernsehen für den Fußball spielte, sowie die immer größere Rolle, die Werbung, Sponsoring und Merchandising einnahmen. Dem Verkauf der Übertragungsrechte für Liga-, Pokal- und Länderspiele durch den DFB und bei der WM durch die FIFA kam seitdem eine enorme und stets wachsende wirtschaftliche Bedeutung zu. Das Gleiche gilt für Werbung und Sponsoring. Zwar verfügte der DFB 1974 noch nicht über einen Sponsorenpool wie heute, aber eine Firma wie Adidas war schon damals eng mit dem Verband verbunden. Und das Merchandising mittels einer von der Nationalmannschaft aufgenommenen Polydor-Schallplatte oder der WM-Maskottchen Tip und Tap spülte in der Tat bereits 1974 viel Geld in die Kassen des DFB.
Auch die Wahl eines smarten Geschäftsmanns zum Präsidenten des Fußballweltverbands FIFA am Vorabend der WM 1974 ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Kommerzialisierung des Fußballs kaum zu überschätzen. Während fast eines Vierteljahrhunderts an der Spitze der FIFA gelang es dem brasilianischen Anwalt und Transportunternehmer João Havelange, das Männer-WM-Turnier mittels Fernsehen und Sponsoren zum globalen »Mega-Event« (Roche 2000) und lukrativsten Sportereignis überhaupt zu machen (s. Kap. 4). Selbst die Olympischen Spiele müssen da inzwischen hintanstehen. Sein Nachfolger Sepp Blatter verfolgt bis heute die gleiche Strategie der Globalisierung und Kommerzialisierung. Die FIFA hat heute 209 Mitglieder, mehr als die Vereinten Nationen. Sie ist in den letzten 40 Jahren steinreich geworden und verfügte Anfang 2013 über Kapitalreserven von etwa 1,4 Milliarden US-Dollar (FIFA 2013). Und dies, obgleich sie einen Großteil ihres durch die WM erzielten Gewinnes an ihre Mitgliedsverbände ausschüttet sowie eine ganze Reihe von sport- und entwicklungspolitischen Initiativen und weiteren Wettbewerben finanziert – von der WM der Computerspieler über den FIFA Interactive World Cup bis zur immer populärer werdenden Frauen-WM. Allerdings ist der Weltverband in den letzten 40 Jahren auch immer unbeliebter und umstrittener geworden, nicht nur in England und Europa, von wo aus der Fußball seit dem 19. Jahrhundert seinen globalen Siegeszug antrat, sondern – das Beispiel der WM 2014 in Brasilien zeigt es – zunehmend auch in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Das große Geld machte seit den Siebzigern auch nicht vor den Spielern in der Bundesliga halt, denn 1972 fielen dort die letzten Gehaltsschranken. Zwar war im deutschen Fußball, wie man von Nils Havemann (2013) und Ronald Reng (2013) weiß, schon seit den 1950er Jahren unter der Hand viel Bares geflossen, jedoch stieg in den Siebzigern im Zuge der WM eine ganze Generation von Spielern zu Großverdienern auf. Und der Fußball etablierte sich zudem als Berufsfeld, das auch nach dem Ende der aktiven Karriere gute Einkünfte und Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Die meisten Weltmeister von 1974, Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Paul Breitner, Sepp Maier, Jupp Heynckes, Berti Vogts, Günter Netzer, Rainer Bonhof, Bernd Hölzenbein und Wolfgang Overath, sind heute mindestens Millionäre und spielen auch 40 Jahre nach dem Turnier noch herausragende Rollen im deutschen und internationalen Fußball. Sie wirken (oder wirkten bis vor kurzem) als Manager, Trainer, Vereinspräsidenten, Verbandsfunktionäre, Rechtehändler und TV-Kommentatoren, wenn nicht als Multitalent und »Lichtgestalt« wie »Kaiser« Franz Beckenbauer, der Kapitän der siegreichen WM-Elf.
Zugleich erlebte in den 1970er Jahren der Typus des mündigen Fußballsportlers seinen Durchbruch. In »Rebellen« (Böttiger 1994) wie Netzer, Breitner und anderen bildeten sich die Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen der Bundesrepublik der 1960er Jahre ab, die zugleich vorbildhaft auf die Gesellschaft zurückwirkten (s. Kap. 6). Ohne diese Spielerpersönlichkeiten wäre das selbstbewusste Auftreten der Generation der heutigen Profis und Nationalspieler in der Öffentlichkeit kaum denkbar.
Das WM-Turnier 1974 war auch in anderer Hinsicht stilbildend. Nach dem Schock des Terroranschlags auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele 1972 war es das erste überhaupt, das von umfassenden Sicherheitsmaßnahmen begleitet war. Zumindest bis zur WM 1998 in Frankreich orientierte man sich an 1974. Seit dem 11. September 2001 bewegt man sich wiederum in ganz neuen Dimensionen (s. Kap. 4). Überhaupt befand sich die WM in einem vielfältigen Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis zu den Olympischen Spielen in München (s. Kap. 3). In der Erinnerung der meisten Zeitgenossen fließen die beiden Großereignisse nahezu nahtlos ineinander. Allerdings trügt die Erinnerung mitunter. Zwar schloss die WM 1974 an die Erfahrungen an, die man mit Olympia 1972 gemacht hatte, aber in vielem war sie das Gegenstück zu den Spielen in München. War Olympia von sehr viel Idealismus begleitet und diente unter anderem als symbolische Bestätigung der gleichberechtigten Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft, belud man die Fußball-WM in der Bundesrepublik, anders als in Lateinamerika, über den Sport hinaus mit wenig Bedeutung (s. Kap. 2).
Dem gewandelten Zeitgeist folgend, traten an die Stelle der optimistischen Münchner Visionen von Heiterkeit und Völkerfreundschaft nun Sachlichkeit und Nüchternheit. Der »kurze Sommer der konkreten Utopie« (Ruck 2000) der Sechziger mit seinem optimistischen Zukunftsglauben und seiner Planungs- und Modernisierungseuphorie war im Weltmeisterschaftsjahr definitiv zu Ende. Die Bundesrepublik war mit der Ölkrise von 1973 in eine neue historische Epoche »nach dem Boom« (Doering-Manteuffel und Raphael 2008) eingetreten. Ab jetzt hatte man es mit deutlich niedrigeren Wachstumsraten, starken Konjunkturschwankungen und struktureller Arbeitslosigkeit zu tun. 1974 verdoppelte sich die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr auf 582 000 Menschen ohne Job und wurde seit den 1930er Jahren erstmals wieder zu einem bedeutenden Problem für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Die Zeit des stabilen Wachstums und der Vollbeschäftigung war vorbei. Zur...