Antje Budde
MACHEN. DENKEN. (VER)ZWEIFELN.
Einleitung
In seinen Inseln der Unordnung. Fünf Versuche zu Heiner Müllers Theatertexten1 macht Hans-Joachim Fiebach, der unter dem Namen Joachim Fiebach seine Arbeiten veröffentlicht und der von Freunden kurz Jochen genannt wird, eine interessante Anmerkung über die Ausleger oder Interpreten von künstlerischen Arbeiten. Mit Bezug auf Julio Cortázars Erzählung Der Verfolger2 sinniert er über die prekäre Tätigkeit des Auslegers/Interpreten/Kritikers/Wissenschaftlers.
Dem Künstler, über den er handelt, sei es scheißegal, was der Ausleger von ihm hält. […] Das Bittere für den Ausleger ist, daß er seine Haltung besser ausgedrückt findet von einem anderen. Von seinem Eigenen sprechend, schreibt er über ihn. Ich habe im Auge Müllers Offenheit, seine mühselige Suche nach dem Produktiven, nach den „Inseln der Unordnung“. Im einzelnen gibt es Differenzen.3
Auf der folgenden Seite dreht Fiebach den Spieß um. Um „über Frustrationen und die Chancen der Kunst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts“ zu reden, die „diskontinuierlichen Linien“ in der Geschichte des Theaters seit Brecht nachzuziehen, hätte er auch genauso gut die Westberliner Schaubühne oder die Arbeit Wole Soyinkas als Bezugspunkte wählen können4. Hat er aber nicht. „Müller könnte mir so […] scheißegal sein.“ Ist er aber nicht und Fiebach führt aus, warum – gefolgt von der Anerkennung des Dilemmas, seinem komplexen Gegenstand womöglich nicht gerecht werden zu können. Zweifel. Realismus. Im September 1988 schließt er sein Vorwort lapidar mit den Worten: „Das muß man in Kauf nehmen.“5 Fiebach könnte mir scheißegal sein. Ist er aber nicht. Dieses Buch legt Zeugnis davon ab, dass es anderen auch so geht. Das Dilemma bleibt bestehen, aber das muss ich wohl in Kauf nehmen. Es ist einen Versuch wert. Chance und Frustration bedingen einander, treiben einander an, bringen Bewegung in die Sache.
Es war wohl Anfang 1991, dass ich Fiebach einen Brief aus Peking schrieb, wo ich zu dem Zeitpunkt ein Auslandsstudium an der Zentralen Theaterakademie (zhongyang xiju xue yuan) absolvierte. Ich war dorthin delegiert worden6, wie es damals hieß. Viele Jahre später erfuhr ich, dass dies auf der Grundlage eines bilateralen Kulturabkommens zwischen der DDR und der VR China geschah, das in gegenseitigem Einvernehmen den wissenschaftlich-künstlerischen Nachwuchs der Zukunft produzieren sollte. Die Mauer fiel am 9. November 1989. Ich konnte fahren, ohne Stasieinmischung. Ich war mir nicht sicher, ob ich fahren wollte, die niedergeschlagenen Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz im Kopf. Der Nachwuchs wurde letztlich für Kanada produziert, wo ich heute arbeite. Nomadentum. Intellectual commodification. Globalisierung. Als ich im Sommer 1990 in China ankam, wurde die DDR gerade abgewickelt. Ich sollte nie in das Land zurückkehren, das ich verlassen hatte. Eine paradoxe Situation, die mich für immer in den Orkus des Dazwischenseins, des In-Between katapultiert hat – ein schmerzhafter wie äußerst produktiver Ort. Die ersten Globalisierungswellen hatten mich erreicht und ich hatte keine Ahnung, dass dem so war. Ich schrieb also diesen Brief, (ver)zweifelt über die Herausforderungen in einer Stadt und an einer Hochschule wo zu diesem Zeitpunkt kaum andere Sprachen als Chinesisch gesprochen wurden. Ich bewegte mich auf dem Sprachniveau einer Sechsjährigen und wurde hungrig nach komplexerem Sprachaustausch, dem ich mit dem Chinesischen nicht gewachsen war. E-Mail und Skype gab es nicht. Telefonieren war sehr teuer. Fiebach schickte mir seine unordentlichen Inseln, „Lies das mal“, und ich verschlang es mit einem Heißhunger, der mich vieles lehrte. Zum Beispiel, was Heimat bedeutet und dass sie nicht an einen Ort gebunden ist – nicht notwendigerweise. „Wir lieben es, Nomaden zu sein“7. Meine Großmutter hatte mir als rebellischem und melodramatischem Teenager einmal erklärt, erwachsen sein drücke sich darin aus, dass man lerne, aus Scheiße Bonbons zu machen. Durchhaltevermögen, Improvisation, Bewegung, alternatives Denken, experimentieren, offen sein. Sie musste es wissen. Die deutsche Geschichte hatte ihr übel mitgespielt. Joachim Fiebach ist in diesem Sinne immer erwachsen gewesen. Bei ihm hat die deutsche Geschichte auch mitgespielt, manchmal übel. Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Machen, nicht quatschen. Reflektieren. Zweifeln. Weiter machen. Bei der Arbeit an diesem Buch ist mir mehr als sonst klar geworden, dass Fiebach immer aus der Perspektive eines offenen, linken Europäers gearbeitet und geschrieben hat. Das machte ihn so anders. Er kannte ein Deutschland ohne Mauern. Er kannte zwei diktatorische Deutschlands. Er spricht Englisch, Russisch, Französisch, hat angefangen afrikanische Sprachen zu lernen. Jetzt ist er in der zweifelhaften Freiheit monopolisierender Globalisierung angekommen und schreibt dagegen an, wie er es immer getan hat. Renate, seine Frau seit fünfzig Jahren, kam Mitte der sechziger Jahre als hochqualifizierte, berufstätige Frau aus dem Wedding zu ihm nach Ostberlin, arbeitete in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) und konnte manchmal mit ihm reisen. Es gab immer Schwierigkeiten mit den Papieren und den Leuten, die sie ausstellten. Joachim Fiebachs Arbeit und Produktivität wäre ohne diesen Rückhalt, in guten wie in schlechten Tagen, kaum möglich gewesen. Es ist Renate Fiebach, die die Wände streicht. Joachim Fiebach hat kein Talent für diese Art des Handwerklichen. Berlin war und blieb das Basislager seiner Unternehmungen. Er ist nie weggegangen. Er ist auch nie geblieben. Immer zwischendrin. Immer in Bewegung. Das Bleibende ist das Flüchtige.8
Anders als meine Generation (geboren in der DDR nach 1961) ist er nicht in der nationalistischen Parzellierung eines kleinkarierten Sozialismus im Schatten einer stalinistischen Kolonialmacht aufgewachsen. Er wuchs im Faschismus auf, gefolgt von Nachkrieg und Kaltem Krieg. Wenn Fiebach Kommunist sagt, dann klingt das nach Widerstand, nach Mut, nach Schluss mit menschenfeindlichen Kompromissen, nach kreativer, schonungsloser Kapitalismuskritik. Wenn ich Kommunist sage, dann klingt das nach patriarchal-brutalem Hauspascha, der seine Kinder im Keller einsperrt, sie durchs Schlüsselloch beobachtet und bei Ungehorsam mit Zuckerbrot und Peitsche durch seine halbverdauten, indoktrinierten Landschaften marxistischer Theologie (nicht Philosophie) treibt. Mir wurde schnell klar, dass der Hauspascha eine Doppelfigur war, deren andere Hälfte Anti-Kommunist hieß. Das Schlüsselloch wurde durch die NSA9 ersetzt. So rieben wir uns auf zwischen zwei Alternativlosigkeiten. Joachim Fiebach verstand die endlose Frustration meiner und der folgenden Generationen. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen baute er seit den sechziger Jahren mit dem Institut für Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Freiraum für uns, einen Raum, wo man kreativ und produktiv sein konnte, wo man etwas lernte über die Geschichte von Herrschaftssystemen und deren symbolische und theatrale Ausdrucksweisen, in Europa, in Afrika, in der Welt. Dies fand einen Niederschlag in unserem Buch Herrschaft des Symbolischen. Bewegungsformen gesellschaftlicher Theatralität. Europa. Asien. Afrika, erschienen 2002 in Berlin. Ich schrieb über den „Tiananmen-Platz als größte Bühne der Welt“ und er schrieb über „Audio-visuelle Medien“ und „Theater und Medien im subsaharischen Raum“. Keiner der Studierenden ist im Aufruhr und Exodus von 1989 in den Westen abgehauen. Alle sind geblieben, viele haben sich im Widerstand gegen „den Scheiß“ und die missbrauchten Utopien engagiert. Wir hatten Von Craig bis Brecht10 gelesen. Hier fanden wir, unter anderem, die Vorbilder, Risiken einzugehen, sich nicht einschüchtern zu lassen von piefigen Doktrinen. Avantgarde war kein elitäres Hirngespinst. Man reißt nicht aus vor Konflikten. Man bleibt und wird zum Treibstoff. Man macht Bonbons aus Scheiße, nicht umgekehrt. Fiebach deutet diesen Umstand so: „Für mich war das vor allen Dingen auch ein Zeichen, dass wir eigentlich völlig normal gelehrt haben, so würde ich das sehen.“11 Fiebachs Normen waren sicher nicht sehr weit verbreitet, nicht damals und jetzt auch nicht. Als ich ihm mitteilte, dass ich den Pfad des heterosexuellen Lebens für die queere Variante verlassen hatte, schaute er mich kurz an, fuchtelte flüchtig mit der Hand in der Luft herum und wollte die Konversation, in die wir zuvor verstrickt waren, fortsetzen. Das war für ihn interessanter. Mein Coming-out war für ihn ungefähr so interessant als hätte ich ihm die Wasserstandszahlen der Spree vorgetragen. Normalität. Fiebachs Normalität. Max Herrmann12, der jüdische Begründer der deutschen Theaterwissenschaft, war von den Nazis 1942 in Theresienstadt umgebracht worden. Deutsche Studenten hatten 1933 zur...