II. Franz Brentano
1. Leben und wichtigste Werke
Franz Brentano (geb. 1838 in Marienberg bei Boppard am Rhein) läßt sich keiner der großen Richtungen der damaligen Philosophie zuordnen. Seine philosophische Denkweise ist durch logische Schärfe und Respekt vor der Empirie bei gleichzeitiger Hinwendung zur Metaphysik gekennzeichnet. Daher steht seine Philosophie im Gegensatz sowohl zum kritischen und spekulativen Idealismus als auch zum zeitgenössischen Positivismus. Unter dem Einfluß seines Lehrers Trendelenburg (s. Bd. X, Kap. I, 4 c) setzte er sich mit der Aristotelischen Philosophie auseinander und widmete ihr seine ersten Veröffentlichungen, nämlich „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles“ (1862, Dissertation) und „Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom Nous poietikos“ (1867).[1] Mit der letzteren Arbeit habilitierte er sich in Würzburg und wurde dort 1872 Professor. 1874 erschien die „Psychologie vom empirischen Standpunkt“, die ungeachtet des Titels auch ein philosophisches Werk ist, wie denn Brentano Philosophie und Psychologie als zusammengehörig betrachtete. 1889 veröffentlichte er die Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“. Seine späteren philosophischen Auffassungen sind in einer Reihe von Schriften enthalten, die nicht mehr von ihm selbst, sondern von Anhängern seiner Philosophie herausgegeben wurden.[2]
Kurz vor dem Erscheinen der „Psychologie“ war Brentano an die Universität Wien berufen worden, wo er als Lehrer großen Einfluß ausübte. Viele seiner Schüler schlugen die akademische Laufbahn ein und trugen zur Verbreitung seiner Philosophie, vor allem in der österreichisch-ungarischen Monarchie, bei. Er wirkte schulbildend (siehe unten) und bahnte den Weg zur Phänomenologie (s. Band XII).
Brentano war katholischer Priester, trat aber aus der Kirche aus, weil er gewissen Dogmen, vor allem dem Unfehlbarkeitsdogma, nicht zustimmen konnte.[3] Dennoch galt er in Österreich noch als Priester, weshalb er sich nicht verheiraten konnte. Um eine Ehe eingehen zu können, gab er die österreichische Staatsangehörigkeit auf und verlor damit die Professur (1880). Er lehrte mehrere Jahre als Privatdozent und verließ schließlich verbittert das Land. Seit 1895 lebte er in Italien, nach 1915 in der Schweiz; er starb 1917 in Zürich.
2. Erkenntnistheorie und Psychologie
Brentano entwarf eine Philosophie, in deren Mittelpunkt Erkenntnistheorie, Ontologie und Ethik stehen und die insofern „wissenschaftlich“ ist, als sie auf einer „natürlichen“ Methode beruht, das heißt nur Sätze zuläßt, die evident oder aus evidenten Sätzen abgeleitet, mindestens aber hinreichend wahrscheinlich sind. Seine Erkenntnistheorie ist empirisch, sofern sie auf Erfahrungsaussagen über psychische Phänomene beruht; sie ist nicht empiristisch, denn sie führt nicht zum Ausschluß metaphysischer Auffassungen.
Die Grundbegriffe der Philosophie sind nach Brentanos Überzeugung nur mit den Mitteln der Psychologie zu klären, allerdings einer Psychologie, die psychische Phänomene beschreibt und klassifiziert, ohne sie (zum Beispiel durch Zurückführung auf physiologische Zusammenhänge[4]) erklären zu wollen. Die deskriptive Psychologie knüpft an die innere Wahrnehmung an, die nach Brentano nicht in Zweifel gezogen werden kann; sie hat grundlegende Begriffe der Erkenntnistheorie, wie „Vorstellung“, „Urteil“, „Evidenz“ usw., zu analysieren. Mit der psychologischen Fundierung der Philosophie soll ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerechtfertigt werden.[5]
Die psychischen Phänomene lassen sich nach Brentano in drei Klassen einteilen: in Vorstellungen, Urteile und emotionale/voluntative Akte (Lieben oder Hassen, Gefallen oder Mißfallen).[6] Grundlegend sind die Vorstellungen, da man nur beurteilen oder erstreben kann, was vorgestellt wird, während man etwas vorzustellen vermag, ohne zu urteilen oder emotional zu reagieren.
Diese Klassifikation der psychischen Phänomene deckt sich mit Descartes’ Einteilung der cogitationes in ideae, judicia und voluntates sive affectus (Med. III; AT VII, 37. Vgl. Bd. VII, Kap. III, 9), worauf Brentano auch hinweist.[7] Sie verdrängt die unzulängliche Einteilung der Bewußtseinsphänomene in Denken, Fühlen und Wollen, die daran krankt, daß mit der Zuordnung von Vorstellen und Urteilen zu einer Klasse Verschiedenartiges zusammengefaßt wird. Nur im Urteil wird etwas bejaht oder verneint, ja das Urteil besteht im Akt des Anerkennens oder Verwerfens. Die Auffassung des Urteils als Vorstellungsverbindung lehnt Brentano daher ab: Einerseits lassen sich Vorstellungen ohne Bejahung oder Verneinung verbinden, andererseits gibt es Urteile auf Grund einer einzigen Vorstellung (z.B. „Gott existiert“). Von besonderer Bedeutung sowohl für Brentanos Philosophie als auch für verschiedene von ihr abhängende philosophische Richtungen ist der Begriff der Intentionalität psychischer Akte, um deren Präzisierung sich Brentano anhaltend bemüht hat.
3. Probleme der Intentionalität
Die Intentionalität, durch die sich psychische von physischen Phänomenen unterscheiden, wird in der „Psychologie“ von 1874 folgendermaßen beschrieben: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (wohl auch mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir […] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.“[8]
Ansätze der Intentionalitätslehre finden sich, wie Brentano bemerkt, bei Aristoteles, später bei Philo und den Neuplatonikern (zu diesen s. Bd. IV, Kap. I und II). Auch im Mittelalter spielte der Begriff der Intentionalität eine Rolle.[9] Von Brentano übernahmen Husserl und manche anderen Anhänger seiner Philosophie die von ihm anfangs vertretene Auffassung der Intentionalität als Beziehung psychischer Phänomene auf einen bewußtseinsimmanenten Gegenstand, obwohl Brentano selbst sie später nicht mehr so verstanden hat. Die Auffassung der Intentionalität als Beziehung auf einen intentionalen Gegenstand wurde zu einem der wichtigsten Streitpunkte der Philosophie des 20. Jh.s. Vertreter der Phänomenologie griffen sie auf, während ihr vor allem analytisch eingestellte Autoren kritisch gegenüberstanden. Sie wiesen die Annahme idealer Entitäten als bewußtseinsimmanenter Objekte, denen mentale Inexistenz (Enthaltensein im Bewußtsein) zukommt, zurück.
Brentano bemerkte bald die mit der fraglichen Auffassung verbundenen Schwierigkeiten. Ihm wurde klar, daß die Intentionalität nur als Relation aufgefaßt werden kann, wenn es zwei Relata gibt, nämlich einen Akt des Beziehens als Fundament und einen als idealen Gegenstand gedachten immanenten Inhalt als Terminus der Relation. Daher suchte er die Annahme idealer Gegenstände dadurch zu vermeiden, daß er die Intentionalität nicht als Relation, sondern als etwas „Relativliches“, d.h. als etwas einer Beziehung Ähnliches, auffaßte. Wie soll aber etwas einer Beziehung ähnlich und trotzdem keine Beziehung sein? Der Ausdruck „relativlich“ ist einer Verlegenheit entsprungen, der Brentano mit seiner Hilfe zu entgehen suchte. Er selbst erkannte den angedeuteten Ausweg als ungangbar.
Angesichts dieser Situation entschloß sich Brentano zu einem radikalen Schritt: Er ließ die Annahme intentionaler Gegenstände fallen. Der Schritt zu der neuen Auffassung fällt in die Zeit um die Jahrhundertwende und war 1904 endgültig vollzogen. Nach wie vor gilt für Brentano, daß jemand, der denkt (vorstellt, urteilt usw.), etwas denkt; genauer: etwas als etwas denkt. Doch dieses Etwas ist nicht etwas Gedachtes, sondern ein Ding, wie Brentano betont: „Wer einen Stein denkt, denkt ihn nicht als gedachten Stein, sondern als Stein, sonst würde er ihn auch, wenn er ihn anerkennt, nur als gedachten anerkennen […]“[10] Ebenso verhält es sich mit einem Urteil, das das Dasein eines Steins leugnet: Geleugnet wird nicht der gedachte Stein.
Nach Brentanos späterer Ansicht gibt es keine nicht-realen Entitäten (wie den intentionalen Gegenstand). Was immer wir vorstellen, wird als Einzelding (res) vorgestellt. Er betont, „daß nie etwas anderes als Dinge [res], welche sämtlich unter den Begriff des Realen fallen, für psychische Beziehungen ein Objekt abgibt“.[11] Mit der neuen Denkweise, dem „Reismus“ – wie T. Kotarbiński diese der seinen ähnliche Auffassung nannte –, scheiden abstrakte Entitäten als Gegenstände des Vorstellens aus; es gibt, wie er nun meint, keine idealen Sachverhalte und keine abstrakten Wesenheiten wie „Röte“ oder „Güte“,...