EINLEITUNG
Rätsel de Sade
Prophet des Grauens
Eine lieblichere Landschaft muss man lange suchen: Von den sanft geschwungenen Weinbergen beim Dörfchen Gargas aus schweift das Auge in südlicher Richtung über den ebenmäßigen Höhenzug des Lubéron mit seinen immergrünen Steineichen. In seinem Schatten fand der Schriftsteller und existenzialistische Philosoph Albert Camus seine letzte Ruhestätte. Für Camus bewahrt der Mensch seine Würde in seinem aussichtslosen Kampf gegen ein blindes Schicksal. Sein Grab auf dem Friedhof von Lourmarin ist ein Anziehungspunkt für Bildungstouristen. Vorlieben für leichtere literarische Kost führen Besucher in hellen Scharen nach Ménerbes. Die Wohlfühl-Romane des dort zeitweise ansässigen Peter Mayle zeichnen das hinreichend bekannte Bild der Provence aus Lavendelduft, Grillengezirp und Ferienflirts. Ähnliche Angebote machen die Kleinstadt Roussillon mit ihren Ockerbrocken zum Mitnehmen und die Gemeinde Bonnieux mit ihrem Käse- und Gemüsemarkt. Liebhaber des Verwunschenen kommen in Oppède-le-Vieux, dem efeuüberwucherten Ruinenstädtchen am Fuß des «kleinen Lubéron», auf ihre Kosten, in dem die Zeit mit den letzten Auswanderern vor etwa zweihundert Jahren stehen geblieben zu sein scheint. Weiter westlich wird es dann noch viel weihevoller: An der geheimnisvollen Fontaine de Vaucluse, wo ein Fluss aus dem Schoße der Felsen entspringt, grübelte, klagte und dichtete in bukolischer Abgeschiedenheit Francesco Petrarca, mit dem der europäische Humanismus seinen Anfang nahm. Ganz auf den Spuren der antiken Schriftsteller, deren elegantes Latein und Lebensgefühl er sich anzueignen versuchte, bestieg er – in Gedanken oder zu Fuß, diese Kontroverse ist bis heute offen – im April 1336 den fast 2000 Meter hohen Mont Ventoux, dessen kahle Kalkkuppe im Norden die ganze liebliche Szenerie überragt. Im nahe gelegenen Avignon, das Petrarca als Sitz des französisch beherrschten Papsttums und somit als Hort aller Laster brandmarkte, sah dieser – sei es mit irdischen Augen, sei es rein spirituell – am 6. April 1327 Laura, die er als Idealbild holdester und himmlischer Weiblichkeit in seinem lyrischen Werk verklärte.
Neben dem Schloss von Lacoste erinnern zwei Plastiken an dessen berühmtesten Herrn. In dem Gefängnisfenster mit dem schönen Kopf dahinter ist leicht der Marquis de Sade in seinen Kerkern zu erkennen. Das lang geschwungene Horn, das in Hände mündet, verlangt den Besuchern schon mehr ab: Soll es die Kraft des Animalischen zeigen, das in de Sade schlummerte und in seinen mit emsiger Hand niedergeschriebenen Texten bleibenden Ausdruck fand?
So viel Kulturglanz und Harmonie stört nur ein Name: Marquis de Sade! Der 1740 geborene Spross einer provenzalischen Adelsfamilie gilt bis heute als der berüchtigtste Schriftsteller aller Zeiten; auch seine eigene Lebensgeschichte ist reich mit düsteren Fakten und noch viel dunkleren Legenden durchwirkt. Trotzdem oder gerade deshalb haben seine Schriften, die bis vor wenigen Jahrzehnten verboten und nur heimlich, unter dem Ladentisch, erhältlich waren, Literatur und bildende Kunst der Folgezeit, vor allem im 20. Jahrhundert, entscheidend beeinflusst. Obwohl de Sade in Paris zur Welt kam, gehört die liebreizende Landschaft zwischen Avignon und Apt auch zu ihm. Er hat sie sich angeeignet, so wie er Petrarcas Laura zu seiner Lebensbegleiterin machte. Am engsten mit ihm verbunden ist Lacoste. Wer ohne Vorwissen durch die steilen Straßen dieses grauen Dorfes bis zur Hügelkuppe mit den kahlen Mauern des alten Herrensitzes emporsteigt, wird mit befremdlichen Zeichen konfrontiert. Neben dem kürzlich wieder aufgebauten Flügel des Schlosses hängt ein Metallrost. Dahinter steckt der Kopf eines eleganten jungen Herrn des späten Ancien Régime: ein Gefangener, der durch die Gitterstäbe bis zur Rhone und zu den Gipfeln der Südalpen blickt. Hat hier ein Opfer tyrannischer Willkür geschmachtet? Noch rätselhafter ist eine weitere Skulptur, die an ein riesiges Stierhorn mit Händen gemahnt. Soll sie ein Opfer verewigen, das hier den Göttern dargebracht wurde, oder ist sie ein Symbol für die Urkraft des Animalischen? Wer es nicht schon aus dem Reiseführer weiß, erfährt beim Abstieg, wem die Kunstwerke gewidmet sind. Ein Café heißt nach ihm, und auch ein Festival schmückt sich mit seinem Namen: Marquis de Sade.
Lacoste war de Sades Fluchtpunkt und Experimentierstätte. Hier hat sich der Marquis vor seinen Häschern versteckt. Lacoste galten seine sehnsüchtigen Tagträume im Gefängnis. In Lacoste hat der junge Aristokrat erstmals seine Leidenschaft für das Theater ausleben können: mit eigener Bühne, eigenen Stücken und als sein eigener Regisseur, vor handverlesenem Publikum. Lacoste war aber auch der Schauplatz unheimlicher Inszenierungen. In einem schwarz drapierten Kabinett mit Skeletten und Marterwerkzeugen an den Wänden, bei flackerndem Kerzenschein und schaurigem Klirren von Ketten, schwang hier im eisigen Winter 1774/75 ein entfesselter Wüstling die Peitsche und schlug seine unschuldigen Opfer lustvoll blutig – so zumindest konnte man es in europäischen Skandalchroniken nachlesen. Für diese nicht-öffentliche Schauspiel-Saison hatte der Marquis eine blutjunge Truppe von Domestiken beiderlei Geschlechts unter Vertrag genommen. Als die besorgten Eltern – brave Bauersleute und Handwerker – Nachforschungen über den Verbleib ihrer Kinder anstellten, kam es zu erregten Auftritten mit Handgreiflichkeiten und noch schlimmeren Verdächtigungen: Hatte der unheimliche Marquis seine Lustobjekte nicht nur gepeinigt, sondern sogar ermordet? Knochenfunde im Schlossgarten schienen diese Befürchtung zu bestätigen, doch folgte die Entwarnung auf dem Fuße: Es handelte sich um Gebeine vom nahe gelegenen Dorffriedhof. Und als man eilig nachzählte, war auch von den jungen Dienstboten niemand verschollen. Erleichterung, doch auch eine gewisse Ernüchterung stellte sich ein – und in ihrem Gefolge Enttäuschung. Den schwarzen Mythen tat dieser glimpfliche Ausgang der Affäre keinen Abbruch. Man hält mich hier für den Werwolf schlechthin, schrieb der Marquis dazu, ironisch und im Hochgefühl aristokratischer Unangreifbarkeit.
Lacoste zehrt heute fraglos von den «Ausschweifungen» des Marquis in seinen wilden Jahren, doch am meisten von den Schriften des Häftlings und späteren Brotschriftstellers de Sade. Ohne die Romane über die tugendhafte Justine und ihre böse Schwester Juliette, ohne das große Fragment der 120 Tage von Sodom und die Philosophie im Boudoir wäre der Name de Sade wie der anderer Adelsgeschlechter heute längst Schall und Rauch. Doch aus de Sade wurde Sadismus und damit der Inbegriff des Bösen schlechthin. Im Alltagsgebrauch bezeichnet man Menschen als sadistisch, die andere des Lustgewinns wegen quälen oder sogar töten. Solche Schreckensgestalten bevölkern die Texte des Marquis in hellen Scharen. Ihre sexuellen Ausschweifungen decken alle Kombinationen ab, die die menschliche Anatomie erlaubt. Während dieser Orgien malträtieren die Herren – zu denen auch Frauen zählen können – die Opfer in einem sorgsam inszenierten Crescendo des Schreckens und der Grausamkeit, wobei sie sich häufig selbst peitschen lassen; Sadismus und Masochismus fließen ineinander.
In den kurzen Pausen, während derer sich diese unmenschlichen Übermenschen bei bacchanalischen Banketten regenerieren, rechtfertigen sie ihr blutiges Tun durch die immergleichen philosophischen Diskurse: Es gibt keinen Gott und erst recht keine Moral, die Natur hat uns den Trieb zur Zerstörung eingepflanzt, also dient er ihren Zwecken und ist daher gut. Es gibt kein Mitgefühl, keine Dankbarkeit, keine Unsterblichkeit der Seele. Währenddessen schändet und mordet der halbwüchsige Sohn die Mutter, ein Wüstling zwingt einen Vater, den von ihm gezeugten Fötus aus dem Mutterleib zu schneiden, ein weiterer Libertin reißt seinem Opfer das Herz heraus und verzehrt es roh. Einfacher Mord kann diese intelligenten Bestien in Menschengestalt schon lange nicht mehr befriedigen, selbst simpler Inzest mit nachfolgendem Vater-, Mutter- oder Kindermord ist für sie fade geworden.
Die Lust am Verbrechen ist eine Spirale, die sich immer weiter dreht. Schließlich verleiht nur noch der zum Äußersten gesteigerte Massenmord den ersehnten Rausch, doch verfliegt auch er allzu schnell. Das Böse strebt nach dem Unendlichen und findet sich in ewiger Begrenzung wieder. Am Ende verschafft auch der Vergiftungstod von Tausenden von Armen in Rom oder ein künstlicher Ausbruch des Ätna, der große Teile Siziliens verwüstet, nur kümmerliche, da vorübergehende Befriedigung. So steht nach dem immer serielleren und ausgeklügelteren Töten der Fluch über eine Natur, die den Menschen zur Zerstörung alles Seienden geschaffen hat, ohne ihm die dazu nötigen Mittel zu verleihen. Nicht nur dieses Kräfteverhältnis hat sich seitdem entscheidend verändert: Das 20. Jahrhundert darf den traurigen Ruhm beanspruchen, mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern die Gewaltphantasien der de Sadeschen Lustmörder in den Schatten gestellt zu...