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Himmel auf Erden

Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüste des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne

AutorSadakat Kadri
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783957570529
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Ein Streifzug durch 1400 Jahre Islam Mehr als eine Milliarde Menschen leben heute in Rechtssystemen, die sich auf die Scharia berufen. In den westlichen Medien zum Schreckgespenst und Nährboden für islamistischen Terror erklärt, breitet sich ihr Geltungsgebiet ungebrochen weiter aus. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Angstbegriff 'Scharia'? Der Rechtshistoriker und mit Preisen ausgezeichnete Reiseautor und Journalist Sadakat Kadri nimmt uns in diesem lebendig und spannend erzählten Buch mit auf eine Reise durch mehr als 1400 Jahre Geschichte, Hunderte von Überlieferungen und sieben islamische Länder. Mit dem besonderen Blick für die Absurditäten der Geschichte, einzelne Schicksale und große Zusammenhänge führt er in die Scharia ein, schildert ihre Ursprünge, Funktionsweisen und Veränderungen, erzählt dabei aber auch umfassend die Geschichte des Islam. Nicht zuletzt stellt Kadri die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die stets immer weniger von denen abhängen, die sie schreiben als von denen, die sie anwenden.

Sadakat Kadri wurde 1964 in London als Sohn sehr gläubiger indischer Muslime geboren. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Harvard arbeitet er seit knapp 25 Jahren als Anwalt in New York und London. Als 2001, nur wenige hundert Meter von seinem Büro entfernt, die beiden Flugzeuge ins World Trade Center fl ogen, schrieb er gerade an seinem Buch über die Geschichte des Rechtsin der westlichen Welt. Die Berichterstattung in den folgenden Wochen und Monaten und die vielen Meinungen und Leitartikel zur Scharia veranlassten ihn, eine neue Geschichte des Rechts zu schreiben; die Geschichte der Scharia. Sadakat Kadri lebt in London.

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Leseprobe

Die Niederlegung des Rechts


1


»Trage vor!« Die Höhle war von der geisterhaften Stimme erfüllt. »Im Namen deines Gottes, der den Menschen aus einem Klumpen Blut erschuf!« Laut dem Koran erhielt die ganze Menschheit mit diesen Worten die Weisung, sich dem Islam zu ergeben – aber anwesend war nur ein vierzigjähriger arabischer Kaufmann namens Mohammed, der verwundert um sich blickte. Obwohl es der heilige Monat Ramadan war und er zum Meditieren in die Höhle gekommen war, hatte er noch nie etwas so Unheimliches erlebt. Der Befehl wurde wiederholt – »Trage vor« –, und vor seinen Augen erschienen unverständliche Symbole auf einem Stück Stoff. Mohammed wandte ein, er könne nicht einmal lesen, woraufhin er hochgeschleudert und auf den Boden geschmettert wurde, bis Worte seinen Mund füllten, die er kaum verstand.

Mohammed wurde von Entsetzen gepackt. Er stammte aus Mekka, einem Handelszentrum und Wallfahrtsort am westlichen Rand der arabischen Halbinsel, und den ihm vertrauten heidnischen Kulten mangelte es nicht an bösartigen Gottheiten. Ihre Nymphen, Satyre und Sturmgötter führten nichts Gutes im Schilde, kämpften staubige Schlachten am Wüstenhorizont oder schoben Dörfer über den schimmernden Sand. Mohammed fürchtete, er falle einem der destruktivsten Wesen zum Opfer – einem Dschinn, einem Geist, der von der Seele eines Menschen Besitz ergreifen konnte. Von Visionen überwältigt kletterte er aus der Höhle, als er aber in einen felsigen Abgrund zu stürzen drohte, wurde er schließlich gewahr, dass er es nicht mit einem Dämon zu tun hatte. Eine riesige Gestalt füllte den sternenklaren Himmel, und ihre Stimme richtete sich an ihn, wohin auch immer er sich wandte. »Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gabriel.«

Die Ereignisse auf dem Hügel beschäftigten Mohammed so lange, dass seine Ehefrau Chadidja einen Suchtrupp losschickte. Sie war eine unabhängige, wohlhabende Geschäftsfrau, älter als ihr Ehemann, und als er traumatisiert und zitternd gefunden wurde, nahm sie die Dinge kurzentschlossen in die Hand. In dem Gebiet, in dem Mekka lag, dem Hedschas, gab es viele Glaubensrichtungen, und einer ihrer Cousins war Experte in spirituellen Angelegenheiten, nachdem er die Thora studiert hatte und zum Christentum konvertiert war. Es wurde ein Besuch vereinbart, und Waraqa bin Nawfals Antwort war sowohl ermutigend als auch Unheil verkündend. Die gute Nachricht war, dass Mohammed dem einzigen wahren Gott begegnet war und dass der Engel Gabriel mit einigen sehr verheißungsvollen Ereignissen in Verbindung gebracht worden war. Die schlechte Nachricht war, dass die Mekkaner Mohammed diffamieren, sich über seine Geschichte lustig machen und alles daransetzen würden, ihn zu töten.

Der Islam verachtet die Kultur, an deren Stelle er trat, so sehr, dass seinen feindseligen Aussagen über das arabische Heidentum stets mit Vorsicht zu begegnen ist; aber in diesem Fall hatte Waraqa gute Gründe, beunruhigt zu sein. Obwohl die Mekkaner einen ihrer Götter als den höchsten verehrten und ihn sogar den Gott – al-lah, auf Arabisch – nannten, lief der Monotheismus ihren Traditionen völlig zuwider. Sie glaubten, al-lah regiere das Universum im Bunde mit drei Töchtern und mehreren hundert Untergebenen, und dieser Glaube wurde durch handfeste ökonomische Überlegungen untermauert. Über die Stadt verteilt gab es Dutzende von kuppelförmigen roten Lederzelten, die heilige Statuetten und Bilder enthielten, und ein mit Götzenbildern übersäter Palast, Kaaba genannt, zog jedes Jahr Tausende von Pilgern an. Der Schrein wurde von zwei Clans des dominierenden Stammes der Kuraisch verwaltet – den Umayyaden und den Haschemiten –, und ihre Partnerschaft war ebenso fragil wie lukrativ. Mohammed war zwar ein angesehener Haschemit, aber jeder Versuch, die Regeln zu ändern, würde nicht gut ausgehen.

Es war das Jahr 610, und die Verbindung, die zwischen Mohammed und Gott entstanden war, sollte die Welt verändern. Tausende Zeilen göttlicher Weisheit erreichten ihn im Laufe der nächsten 20 Jahre aus dem Himmel, übermittelt von einer geisterhaften Stimme und durch eine Glocke angekündigt. Wenn er in Trance fiel und seine Lippen bewegte, um sich Gottes Worte einzuprägen, schaute er weit über die sichtbare Welt hinaus in die Weite des Himmels und in die Tiefe der Hölle. Sogar die von ihm anfangs gefürchteten Dschinne sollen in großer Zahl konvertiert sein, nachdem mehrere von ihnen eine nächtliche Rezitation mit angehört hatten und von ihrer Schönheit tief bewegt gewesen waren. All das führte dazu, dass Mohammed für die Muslime zu einer überragenden Gestalt wurde, und jedes Kind wächst mit Geschichten über seine Tapferkeit, Klugheit und Freundlichkeit auf. Doch obwohl die Belege für die ihm entgegengebrachte Bewunderung alt sind, wurde nicht sofort über sie berichtet. Die von ihm empfangenen Offenbarungen wurden zwar schon bald nach seinem Tod in einem geschriebenen »Koran« (»Rezitation«) gesammelt, doch es dauerte ein weiteres Jahrhundert, bis die ersten schriftlichen Berichte über sein Leben erschienen. Erst im späten 9. Jahrhundert stellten die Gelehrten dann Berichte (Hadithe) zusammen, die von der Mehrheit als authentisch anerkannt wurden. In der Folgezeit wurden ältere Bücher, sofern sie abweichende Auffassungen enthielten, als bedeutungslos verworfen. Die orthodoxe Version der Ursprünge des Islam erhielt mithin erst drei Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen ihre endgültige Form. Gleichwohl ist die Geschichte für viele Muslime zu einem Teil des Glaubens und nicht zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung geworden – nur so weit anerkannt, wie sie die konventionelle Auffassung stützt, und als Sakrileg betrachtet, wenn sie dieser in irgendeiner Weise zu widersprechen scheint.

Daher ist jede Darstellung dieser Zeit problematisch. Zum einen gibt es nur wenig Möglichkeiten, die überkommene Version der Ereignisse zu überprüfen, zum anderen sind die Hadithe selbst widersprüchlich. In vielen Punkten sind sich die Biografen einig. Niemand hat jemals geleugnet, dass Mohammed hochgewachsen war, dunkle Augen hatte, gut aussah, wohlriechend und strahlend war, ein gutes Benehmen hatte, mit leiser Stimme sprach, bescheiden und zielstrebig war und einen festen Händedruck hatte. Aber schnell zeigen sich Ungereimtheiten. In einigen Hadithen heißt es, ihm seien leicht die Tränen gekommen, andere behaupten, er habe viel gelächelt. Es gibt Aussagen, wonach er sich die Hölle einst voll mit Frauen vorgestellt habe, und viele andere, in denen er als jemand beschrieben wird, der sich in Gesellschaft intelligenter und eigenwilliger Frauen nicht nur wohl fühlte, sondern große Freude darüber empfand. Manche sagen, er sei von unnachgiebiger Härte gewesen, aber er soll auch gelacht haben, als ihm berichtet wurde, dass ein festgenommener Trunkenbold sich einer Züchtigung entzogen hatte, und seine Anhänger angewiesen haben, auf weitere Maßnahmen zu verzichten. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen – sicher ist nur, dass die Beschreibungen häufig mehr über die Verfasser der Beschreibungen als über Mohammed selbst aussagen.

Ein umfassendes Bild ergibt sich allerdings aus den frühen Biografien, und sie schildern jemanden, der ebenso findig wie bemerkenswert war. Nach dem Tod seines Vaters geboren, verlor Mohammed in seiner Kindheit Mutter und Großvater und wuchs im Haushalt eines Onkels namens Abu Talib auf. Obwohl Waise und Analphabet, verheiratete er sich gut und baute mit Chadidja ein florierendes Handelsunternehmen auf. Sein Scharfsinn war so ausgeprägt, dass Mitglieder seines Stammes ihn einmal baten, einen Streit wegen der Verwaltung der Kaaba zu schlichten. Und selbst in den ersten ruhigen Jahren seiner Mission gewann er Unterstützer. Chadidja erkannte ihren Ehemann schnell als Gesandten Gottes an, und obwohl Abu Talib Mohammeds Rolle als Prophet nie akzeptierte, wurde sein zehnjähriger Sohn Ali ein treuer Anhänger des Propheten. Auch Sklaven und soziale Außenseiter schlossen sich seiner Sache an, wie auch ein wohlhabender Kaufmann namens Abu Bakr. Was Mohammed zu dieser Zeit genau lehrte, ist nicht bekannt, aber er konnte Menschen inspirieren und mitreißen.

Drei Jahre nach dem ersten Kontakt mit Gott sagte dieser zu Mohammed, jetzt sei die Zeit gekommen, sein Wort stärker zu verbreiten. Ein wenig beklommen teilte er den Mekkanern mit, dass er ein Prophet sei – der letzte in einer Linie mit Jesus, Moses und Adam. Etwas kühner verkündete er dann, al-lah habe weder Gefährten noch Töchter. Er erklärte, die Kuraisch folgten blind ihren Ahnen, »obwohl es ihren Vätern an Weisheit und Führung mangelte«, und ihre Geschäfte mit der Kaaba seien völlig fehlgeleitet. Sie sollten stattdessen zweimal täglich in Richtung Jerusalem beten und Frieden suchen, indem sie sich dem Göttlichen ergaben – ein Zustand, der mit dem arabischen Wort islam...

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