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E-Book

Meine geliebte Welt

AutorSonia Sotomayor
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl349 Seiten
ISBN9783406659485
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Aufgewachsen in der Bronx, Puertoricanerin, die Kindheit prekär, der Vater Alkoholiker, die Mutter überfordert - Sonia Sotomayor war es nicht gerade in die Wiege gelegt, eines Tages Richterin am höchsten Gericht der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Mit einem großen Herzen und viel Humor erzählt diese Ausnahmefrau von ihrem Weg, aber nicht um sich dabei auf die Schulter zu klopfen, sondern um anderen Menschen mit ihrer eigenen Geschichte Mut zu machen. Ein hinreißendes, ansteckendes Buch über das Trotzdem und über die - wirklich wichtigen - Dinge des Lebens. ''Nach der Lektüre werden mich die Leser nach menschlichen Kriterien beurteilen', schreibt Sonia Sotomayor. Wir, die wir in diesem Fall die Jury sind, finden sie einfach unwiderstehlich.' Washingtonian 'Überwältigende und stark geschriebene Memoiren zum Thema Identität und Persönlichkeitsfindung ... Offenherzig, scharf beobachtet und vor allem tief empfunden.' The New York Times 'Eine Frau, die weiß, wo sie herkommt und die die Kraft hat, uns dorthin mitzunehmen.' The New York Times Book Review

Sonia Sotomayor arbeitete als Staatsanwältin und Richterin in New York, bevor sie von Präsident Barack Obama für den Supreme Court nominiert wurde. Seit 2009 ist sie Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ihr Buch 'My Beloved World' war monatelang auf der amerikanischen Bestsellerliste und hat sich in mehr als 250.000 Exemplaren verkauft.

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Leseprobe

Prolog


Ich schlief noch halb, und schon flogen die Fetzen. Meine Mutter schrie, und jeden Moment würde Papa auch anfangen. Das kannte ich, aber worüber sie stritten, war neu, dadurch grub sich dieser Morgen in mein Gedächtnis ein.

«Du musst lernen, sie ihr zu verabreichen, Juli. Ich kann nicht rund um die Uhr hier sein!»

«Ich hab Angst davor, ihr wehzutun. Meine Hände zittern.» Das stimmte. Bei seinem ersten Versuch mit der Insulinspritze einen Tag vorher hatten seine Hände so stark gezittert, dass ich schon dachte, er würde sie mir ins Gesicht stechen statt in den Arm. Er musste sie regelrecht hineinrammen, um nicht danebenzutreffen.

«Und wer ist schuld, dass deine Hände zittern?»

Geht das wieder los …

«Du bist die Krankenschwester, Celina! Du kennst dich mit solchem Zeug aus.»

Dabei hatte Mama, als sie mich an meinem ersten Morgen wieder zu Hause gespritzt hatte, vor lauter Nervosität noch fester zugestoßen und mir noch mehr wehgetan als am nächsten Tag Papa.

«Richtig, ich bin die Krankenschwester. Ich muss arbeiten und die Familie ernähren helfen. Ich muss alles machen. Aber ich kann nicht ständig hier sein, Juli, und sie wird die Spritzen für den Rest ihres Lebens brauchen. Also reiß dich gefälligst zusammen!»

Die Spritzen taten weh, aber noch mehr quälte mich der Unfrieden. Er war wie ein Gewicht, das ich mit mir schleppte. Schlimm genug, wenn sie über die Milch stritten oder über die Hausarbeit oder Geld oder das Trinken. Sie sollten nicht auch noch wegen mir streiten.

«Ich sag’s dir, Juli, wenn du’s nicht hinkriegst, stirbt sie!»

Und damit lief sie wie üblich aus dem Zimmer und knallte die Tür zu, so dass sie zum Weiterstreiten noch lauter schreien musste.

Wenn meine Eltern die Nadel nicht in die Hand nehmen konnten, ohne in Panik zu geraten, dann konnte ich mir über eins sicher sein – meine Großmutter schaffte es erst recht nicht. Und das bedeutete das Aus für meine wöchentlichen Übernachtungsbesuche bei ihr, die mein einziger Ausweg aus der Trübsal zu Hause waren. Was letztlich hieß: Wenn ich diese Spritzen jeden Tag meines restlichen Lebens brauchte, war meine einzige Chance, sie mir selbst zu verabreichen.

Als erstes, so viel wusste ich, mussten Nadel und Spritze ausgekocht werden. Ich war noch nicht acht und reichte kaum bis zum Herd, und mir war unklar, was genau ich tun musste, um das Gas anzuzünden. Also schob ich einen Stuhl die paar Zentimeter vom Tisch bis zum Herd – die Küche war winzig – und kletterte hinauf, um mehr zu sehen. Als erstes sah ich die beiden kleinen Töpfe für Mamas café con leche, die kalt wurden, während sie stritten – im einen tröpfelte der Kaffee durch sein Stoffsäckchen, im anderen überzog sich die Milch mit einer schrumpeligen Haut.

«Sonia! Was machst du da? Willst du das Haus in Brand setzen, nena

«Ich geb mir die Spritze selber, Mama.» Das brachte sie einen Moment lang zum Schweigen.

«Kannst du das denn?» Sie sah mich forschend an.

«Ich glaube schon. Im Krankenhaus musste ich mit einer Orange üben.»

Meine Mutter zeigte mir, wie ich das Streichholz halten und gleichzeitig den Knopf drehen musste, damit der Kranz blauer Flämmchen aufsprang. Gemeinsam ließen wir das Wasser in den Topf laufen, so viel, dass Spritze und Nadel bedeckt waren, und noch ein bisschen extra, falls es verkochte. Es mussten sich Bläschen bilden, erklärte sie mir, erst dann durfte ich beginnen, meine fünf Minuten abzuzählen. Die Uhr lesen hatten wir in der ersten Klasse gelernt. Wenn das Wasser dann lange genug gekocht hatte, auch das schärfte sie mir ein, musste die Spritze erst noch abkühlen. Ich beobachtete den Topf und den unendlich langsam vorwärtsschleichenden Zeiger, bis Ketten winziger zarter Bläschen von dem Glaszylinder und der Kanüle aufstiegen, und hunderterlei Gedanken schossen mir beim Warten durch den Kopf.

Einem Topf Wasser beim Kochen zuzuschauen wäre eine Geduldsprobe für jedes Kind, und ich konnte noch schlechter still halten als die meisten – Ají hieß ich bei meiner Familie, Peperoni, weil ich so zappelig und neugierig war und mich kopfüber in Unfug jeder Art stürzte. Aber von diesem Morgenritual hing ab sofort mein Leben ab, deshalb lernte ich schnell, die Wartezeit sinnvoll zu nutzen: mich anzuziehen, mir die Zähne zu putzen und meine Schulsachen zusammenzusuchen, während das Wasser kochte oder sich abkühlte. Das Leben mit Diabetes hat mich wahrscheinlich mehr Disziplin gelehrt als meine ganze Schulzeit bei den Barmherzigen Schwestern.

Angefangen hatte alles damit, dass ich in der Kirche umgekippt war. Wir hatten uns gerade zum Singen erhoben, und plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Gesang schien weit weg, das Licht von den Buntglasfenstern färbte sich gelb. Alles färbte sich gelb, und dann wurde es schwarz um mich.

Als ich die Augen wieder aufschlug, konnte ich nur die besorgten Gesichter von Schwester Marita Joseph, der Rektorin, und Schwester Elizabeth Regina sehen, verkehrt herum und bleich unter den schwarzen Hauben. Ich lag auf dem Fliesenboden der Sakristei, zitternd von all dem kalten Wasser, das sie mir ins Gesicht gespritzt hatten, und auch ein bisschen vor Angst. Also benachrichtigten sie meine Mutter.

Ich besuchte zwar jeden Sonntag die Messe, wie das für die Schüler der Blessed Sacrament School Pflicht war, aber meine Eltern gingen nie mit. Als meine Mutter ankam, waren die Schwestern entsprechend vorwurfsvoll. Ob so etwas schon einmal vorgekommen sei? Nun, da war dieses eine Mal, als ich von der Rutsche gefallen war – als mich auf der obersten Sprosse der Leiter plötzlich Schwindel gepackt hatte, ehe mir ein paar endlose, panische Sekunden lang der Boden entgegensauste … Sie müsse mit mir zum Arzt, ermahnten die Nonnen sie streng.

Dr. Fisher genoss uneingeschränkten Heldenstatus in unserer Familie. Unsere sämtlichen Verwandten waren schon irgendwann bei ihm in Behandlung gewesen, und seine Hausbesuche linderten Angst und Panik ebenso, wie sie Schmerzen und Beschwerden linderten. Er war ein deutscher Einwanderer, ein altmodischer Landarzt, der seine Praxis zufällig in der Bronx hatte. Dr. Fisher stellte viele Fragen, und Mama sagte ihm, dass ich abgenommen und ständig Durst hätte und neuerdings auch das Bett nässte – was stimmte; ich mochte schon gar nicht mehr einschlafen, so demütigend war es.

Dr. Fisher schickte uns ins Labor des Prospect Hospital, wo meine Mutter arbeitete. Ich ahnte nichts Böses, weil ich Mr. Rivera aus dem Labor als meinen Freund ansah. Ich hielt ihn für vertrauenswürdig, anders als Mrs. Gibbs, die Oberschwester, die bei meiner Mandeloperation die Spritze hinterm Rücken versteckt hatte. Aber als er einen Stauschlauch um meinen Arm befestigte, dämmerte mir, dass das keine normale Injektion war. Die Spritze schien fast so groß wie mein Arm, und als er damit auf mich zutrat, sah ich, dass die Nadel abgeschrägt war und dass das Loch an ihrem Ende klaffte wie ein kleiner Mund.

«Nein!», brüllte ich, stieß den Stuhl um und rannte quer über den Gang und hinaus auf die Straße. Es fühlte sich an, als würde das halbe Krankenhaus hinter mir herjagen und laut schreien: «Fangt sie!», aber ich schaute nicht zurück. Ich kroch kurzerhand unter das nächstbeste parkende Auto.

Ich konnte ihre Schuhe sehen. Ein Mann kniete nieder und steckte seine Nase in den Schatten des Fahrgestells. Schuhe auf allen Seiten jetzt, und Hände, die nach mir griffen. Aber ich rollte mich zusammen wie ein Igel, bis jemand mich am Fuß zu packen bekam. Ich heulte so laut, als ich ins Labor zurückgeschleift wurde, dass mein Geschrei beim Einstich der Nadel dagegen zahm klang.

Bei unserem nächsten Termin bei Dr. Fisher sah ich meine Mutter zum ersten Mal in meinem Leben weinen. Ich saß draußen im Wartezimmer, aber die Tür zum Sprechzimmer war nur angelehnt. Ich hörte, wie ihre Stimme brach, und sah ihre Schultern zucken. Die Sprechstundenhilfe schloss die Tür, als sie merkte, dass ich die Szene mitbekam, aber das konnte mich über den Ernst der Lage nicht hinwegtäuschen. Schließlich öffnete Dr. Fisher die Tür wieder und rief mich herein. Er erklärte mir, dass ich Zucker im Blut hätte, dass man das Diabetes nenne und dass ich meine Essgewohnheiten umstellen müsse. Das Bettnässen würde aufhören, versicherte er mir, wenn wir die Sache einmal im Griff hätten: der Körper entledige sich auf diesem Wege des überschüssigen Blutzuckers. Er sagte sogar, er habe selbst Diabetes, wobei ich erst später verstand, dass es bei ihm der gängigere Typ-2-Diabetes war, während ich Typ 1 hatte, den so genannten Jugenddiabetes, bei dem die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produziert, weshalb tägliches Spritzen nötig ist.

Dann nahm er eine Flasche Limonade aus dem Schrank hinter ihm und ließ den Kronkorken zischen. «Probier mal. Nennt sich No-Cal. Genau wie Limo, nur ohne Zucker.»

Ich trank einen Schluck. «Überhaupt nicht wie Limo!» Armer Dr. Fisher. Immer höflich sein, predigte meine Mutter uns, selbst...

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