Erste Bilder
Es ist ein kalter Novembertag 1949. Da setzen die Bilder ein, zuerst nur weit verstreute Inseln der Erinnerung, die später dichter und dichter werden sollen.
Ich stehe mit meiner Mutter in Obersuhl an der Hauptstraße, die das Dorf von West nach Ost durchzieht und von der ich noch so wenig gesehen habe. Wir warten auf einen Wagen mit Pferden davor. Hinter uns ist ein großer Schaukasten aufgebaut, in dem bunte Plakate Filme ankündigen, vor uns stehen Stühle, die die Breitbardin, der das Kino gehört, uns geborgt hat, damit wir etwas haben, was wir in die große Wohnung stellen können, die wir jetzt auf dem Lager kriegen. Später, viel später, ich kann einen Stuhl dann schon alleine tragen, werden wir sie zurückbringen. Dann können wir uns endlich selber Stühle kaufen.
Beim Warten wird mir kalt. Ich trippele von einem Fuß auf den anderen. Ob es der Versuch war, die Füße, die in Sommerschuhen stecken, ein bisschen zu wärmen, oder die Aufregung, kann ich heute nicht mehr entscheiden. Vielleicht war es beides.
Ich erahne mehr, als dass ich es verstehe, dass etwas Einschneidendes in unserem Leben geschieht. Wir werden nie mehr zu Lehmanns auf den Dachboden nach Hause gehen.
Lehmanns, das sind: der alte Lehmann, unser Hausherr, der eine Baufirma hat und die Wohnung im ersten Stock direkt unter uns alleine bewohnt, ein polternder, oft angetrunkener Mensch, der über die aufgezwungenen Bewohner des Dachbodens murrt, und wenn die Kinderfüße über ihm trippeln, brüllt er. Im Erdgeschoss wohnen seine geschiedene Frau, der Sohn mit seiner Frau und den beiden Töchtern, etwa im Alter meiner Brüder. Zwei streiten immer, entweder der alte und der junge Lehmann wegen der Firma oder der alte Lehmann und die alte Frau Lehmann, sobald sie aufeinander treffen. Zwischen dem alten Lehmann und den Bewohnern unter dem Dach gibt es keinen Streit, er braucht nur »Ruhe da oben!« zu brüllen, und die eingeschüchterten Mitbewohner verstummen und vermeiden jedes Geräusch. Das herumhüpfende Kind wird mit einem gereizten »Pscht, der Hausherr schimpft« zum Stillsitzen gebracht.
Das Warten wird langweilig. Mein ständig wiederkehrendes »Wann kommen sie denn?« wird genauso oft mit einem ungeduldigen »Gleich!« meiner Mutter erwidert. Auf der Straße ist nichts los, nur ein dreirädriger Pritschenwagen kommt vorbei und biegt nebenan in die Kohlenhandlung ein. Bei dem schaurigen Wetter sind auch kaum Fußgänger unterwegs. Meiner Mutter ist das recht, die Obersuhler brauchen nicht zu sehen, wie arm wir sind.
Sechsundvierzig, erzählt meine Mutter später, sind wir nach Deutschland gekommen, nach Nordhessen, erst waren wir drei Wochen lang in Iba im Durchgangslager, von da haben sie uns nach Obersuhl gebracht. Das war im September. Die Obersuhler wollten die Flüchtlinge nicht haben, aber sie konnten ja nichts machen. Uns haben sie bei Lehmanns einquartiert! Aber das war doch keine Wohnung! Zwei Zimmer direkt unterm Dach, eins davon war eine alte Wurstkammer, das andere ein langer Schlauch mit ’nem alten Eisenbett und ’nem Schrank von Lehmanns und unsren paar Kisten, die wir aus den Flüchtlingslagern in Österreich mitgebracht hatten. Der erste Abend, das war furchtbar! Wir saßen da auf unseren Kisten bei Kartoffeln, die wir noch in Iba von den Feldern gestohlen hatten. Sonst hätten wir eh nix zu essen gehabt. Wir schliefen auf dem Fußboden. Am zweiten Tag hat uns der junge Herr Lehmann einen Tisch und Stühle gebracht und am nächsten Tag noch ein Bett vom Boden. Man hat ja nichts gehabt außer ’nem alten Herd aus Österreich und ein paar Lagerdecken, die waren wie Rossdecken. Und der Winter 47, der war doch so eiskalt. Wenn dein Vater nicht im November bei der Bahn hätt’ anfangen können, wären wir erfroren. Aber so hat er Schichtdienst gehabt, und bei der Nachtschicht hat er dann von den Kohlen, mit denen sie die Loks geheizt haben, immer eine Tasche voll mitgebracht. So konnten wir wenigstens ein Zimmer heizen. Das ging ja schon! Aber nachts unter den Lagerdecken haben wir gefroren wie nur was, ich hab geheult: Wir kriegen unser Leben lang keine Duchede, keine Federbetten, mehr.
Ein Pferdegespann taucht in der Kurve auf.
»Sind sie das?« Sie sind es! Endlich wird er wahr, der heiß ersehnte Umzug ins Lager, in eine richtige Wohnung, wenn auch nur in einer Baracke. Ein Gefühl der Befreiung stellt sich ein, man ist wieder sein eigener Herr. Es gibt keinen Hausherrn mehr, der einem vorschreiben kann, was man zu machen hat. Und wenn eine Rückkehr nach Brestowatz in der Batschka, wo man Herr in seinem eigenen Haus gewesen ist, schon nicht möglich ist, dann wird einem da oben auf dem Lager wenigstens keiner mehr reinreden, und man wird wieder unter sich sein.
Neben dem Kutscher auf dem Leiterwagen erkenne ich meinen Vater. Auf der schmalen Ladefläche hinter ihm ist unser ganzer Besitz aufgetürmt: das Ami-Feldbett, ein mit grünem Zeltstoff bezogenes Faltbett, das noch von den Amerikanern aus einem Flüchtlingslager in Österreich stammt, ein eisernes Bettgestell mit einem Strohsack, ein Hocker mit einem dreibeinigen Eisengestell, ein Kochherd, der auch noch aus Österreich stammt, und ein kleiner, weiß lackierter Küchenschrank mit jeweils zwei Türen im oberen und unteren Teil. Das sind die Stücke, die in meiner Erinnerung bleiben, wahrscheinlich, weil sie mich noch viele, viele Jahre meines Lebens begleitet haben, bis sie nach und nach durch neue ersetzt wurden. Am längsten wird der Küchenschrank erhalten bleiben, er wird den Umzug nach Bebra ins Eisenbahnerhaus miterleben und dort in der Küche stehen, er wird mitziehen ins eigene Haus, wo er als Vorratsschrank im Heizungskeller stehen wird. Es wird seine letzte Station sein.
Sechsundvierzig, da müssen sie allerdings noch lange auf warme Federbetten und so manches andere warten. Dafür kriegen sie mich, nach einem Jahr bei Lehmanns in der Wurstkammer unter dem Dach. Und das, so meine Mutter, wo man nichts gehabt hat. Man war froh, wenn was zu essen auf dem Tisch war. Sie hat geheult, wo sollte man denn was herkriegen für ein kleines Kind. Und dann die Leute, was werden die sagen: Nix zu essen, aber noch ein Kind, als wären zwei Kinder nicht genug, und in dem Alter!
Nein, sie wollte 1947 kein Kind. Die materielle Not, die ungewisse Zukunft ließen in ihren Augen kein drittes Kind zu. Dazu kam die Scham, in ihrem Alter, mit zweiunddreißig Jahren, noch ein Kind zu kriegen, die Scham auch vor den eigenen Söhnen, vor allem dem älteren, der mit fast fünfzehn Jahren doch schon etwas verstand, wie sie glaubte. Derhōm, so sagt sie mir später, hat man doch keine Kinder mehr gekriegt, wenn man mal über dreißig war.
Ich werde zusammen mit den Stühlen auf dem Wagen verstaut, mitten zwischen unseren wenigen Habseligkeiten. Für meine Mutter ist kein Platz mehr. Sie muss zu Fuß gehen. »Ist ja nicht weit«, sagt sie. Die erste Fahrt meines Lebens beginnt. Ich erlebe, dass ich fahre und die anderen laufen müssen; ich spüre, dass Fahren ein Privileg ist. Stolz sitze ich auf dem Wagen, und das Gefühl stellt sich ein, dass alle anderen neidisch auf unser Fuhrwerk blicken. So werde ich noch lange auf die Kinder gucken, die in einem Auto fahren dürfen.
Die Fahrt mit dem Fuhrwerk scheint kein Ende zu nehmen. Das Pferd zieht den Wagen über eine gepflasterte Straße durch das Dorf, dann unter der Bahnlinie hindurch, am Friedhof vorbei. Hinter der Bahnlinie stehen keine Häuser mehr, hier ist das Dorf zu Ende. Die gepflasterte Straße biegt zum Friedhof ab. Wir nehmen den Fahrweg, der geradeaus weiterführt auf einen kleinen Berg hinauf. Der Weg ist holperig und die Räder unseres Wagens zeichnen parallele Spuren in die aufgeweichte Oberfläche.
Ein paar Jahre später, auf dem Rückweg aus der Schule, wird der Bäcker hier gelegentlich mit seinem Auto anhalten, in dem er an jedem Wochentag das Brot auf das Lager bringt, und mich das letzte Stück des Weges mitnehmen. Dieser Bäcker hat ein Herz für die Flüchtlinge, höre ich die Erwachsenen sagen. Für sie backt er das Mischbrot besonders hell, fast so hell wie derhōm, daheim in Brestowatz, aber das richtige Brot, das nur aus Weizenmehl gebacken wird, das kommt dōhaus, hier in Deutschland, zu teuer. Da braucht man zu viel, bis man satt ist. Schon vor der Währungsreform hat ihr Bäcker den Flüchtlingen auch ohne Karten hin und wieder ein Brot gegeben. Bei den anderen Bäckern im Dorf war da nichts zu machen, die haben nur den Obersuhlern Brot gegeben. Ja, jetzt würden die schon gern an die Flüchtlinge verkaufen. Aber da werden sie lange drauf warten, dass die Flüchtlinge ihr Geld zu denen bringen! Die sollen nur weiter ihr Brot an die Obersuhler verkaufen.
Schließlich biegt das Fuhrwerk scharf nach rechts ab. Wir sind da, auf dem Lager, unserem neuen Zuhause. Da bleiben wir jetzt! Und wir gehen nie mehr zurück zu Lehmanns.
Auf der Wache 27
Fast zehn Jahre lang soll das Lager unser Zuhause bleiben. Es wird meinen Begriff von Lager prägen. Wann immer...