Zur George-Biographie
Stefan George hat über sein Leben nur in stilisierter Art berichtet. In Gesprächen und Briefen beließ er es meist bei bloßen Andeutungen oder kurzen Sentenzen. Über das, was ihn im Leben wirklich berührte und bewegte, sollte einzig die Dichtung in symbolischer Form sprechen. So beschwören Verse aus dem Siebenten Ring Vorstellungen von schweren Leiden, harten Kämpfen und rettender Liebe im Leben des Dichters herauf, die legenden- und märchenhaft gestaltet sind:
Stern der dies jahr mir regiere!
Der durch des keim-monats wehende fehde
Von einem heiteren sommer mir rede
Und auch mit blumen die ernte verziere ..
Dass sich in lächelndem schimmer verliere
Ernster beladener tage getöse •
Heimliche weisheit durch fahrvolle böse
Überfinsterte wege mich rette •
Meine schweifenden wünsche kette
Und meine ängstenden rätsel mir löse!
Lag doch in jenen schenkenden nächten
Deine wange schon auf meinen knieen
Wenn sich die zitternden melodieen
Rangen empor aus dumpf hallenden schächten!
Folgtest dem spiel von sich streitenden mächten:
Meiner geschicke vergangene gnade
Und meine leiden am fernen gestade
Bis zu der frühwolken rosigem klären ..
Wie auf der schwester verschlungene mären
Lauschte die liebliche Doniazade.
(SW VI/VII, 69)
Die Verse gehören zu einer erstmals 1901 in den Blättern für die Kunst veröffentlichten Gruppe von Gedichten, die allein der ständige Gefährte Georges in dieser Zeit, Friedrich Gundolf, auf ihr Verhältnis zurückbeziehen konnte.1 Und selbst Gundolf durfte das bloß unter Vorbehalt tun, da die Chiffren der Gedichte nicht von individualisierten Erlebnissen, sondern von typisierten ›Geschicken‹ reden. Alle anderen Leser konnten und sollten aus den hier angeführten Versen nur den Eindruck eines geheimnisvollen Dichters gewinnen, der von sich behauptet, das Seelendrama des menschlichen Daseins wie kein anderer zu durchleiden, um ihm dann eine über die eigene Biographie hinaus gültige Formgestalt zu geben.
Die biographischen Hinweise, die George seinen Freunden gelegentlich gab, lösten die poetischen Selbststilisierungen und Selbstmystifikationen nicht auf, sondern setzten sie in anderer Form fort. Im April 1905 schrieb George an Sabine Lepsius teils andeutend, teils verschweigend:
Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn […] Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äussern oberherrlichkeit. was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde.2
Wenn George konkretere Auskünfte über das eigene Leben erteilte, so verfolgte er das Ziel, das in seinen Werken entworfene Selbstbild eines Dichter-Sehers und Dichter-Führers durch die Biographie abzusichern, um letztlich wieder auf die Dichtung als die eigentliche Emanationsform zu verweisen. Dies gilt nicht erst für das von ihm in Auftrag gegebene Buch von Friedrich Wolters über Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, das die ab 1928 erscheinende Gesamtausgabe der Werke als Kommentar begleitete. Die gesteuerte Information über das eigene Leben war ein Bestandteil von Georges Inszenierung seiner Dichtermission und der damit zusammenhängenden ›Werkpolitik‹.3
Mehr noch: Nachdem er zum Dichter geworden war, versuchte er sein Leben selbst so zu gestalten, als ob es vom Werk nicht abzutrennen wäre. Das vom Stilwillen durchdrungene Leben sollte wie das aus ihm hervorgegangene Werk zum ›Bild des Dichters‹ gehören. Entsprechend stark reglementierte George seine Lebensführung und wachte darüber, dass niemand abweichende Persönlichkeitszüge kennenlernen konnte. Zusammenfassend kommt Thomas Karlauf zu dem Ergebnis:
Es gibt im Leben Stefan Georges so gut wie nichts, was nicht von vornherein Inszenierung gewesen wäre oder nachträglich für die Inszenierung verwertet wurde. Spuren, die über die Entwicklung seiner Persönlichkeit, sein Privatleben oder auch nur seine persönliche Meinung zu diesem oder jenem Thema Aufschluss hätten geben können, wurden verwischt; George hat Briefe, die ihm wichtig waren, nach Lektüre verbrennen lassen, Korrespondenzen am Ende einer Beziehung zurückverlangt, Vorstufen und Varianten von Gedichten oder das sonstige Futter für die Philologen vernichtet. Was nicht Eingang ins dichterische Werk gefunden hatte, gehörte für ihn nicht ans Licht der Öffentlichkeit.4
Mit diesem hohen Grad der Inszenierung und Kontrolle machte es George späteren Biographen schwer, denen es im Unterschied zu den Hagiographen des George-Kreises nicht darum geht, das von ihm stilisierte Bild getreulich zu überliefern. Robert E. Norton, der Autor einer ersten umfangreichen Biographie,5 hat mit bewundernswerter Akribie neue Quellen in den Archiven erschlossen, Thomas Karlauf, der Verfasser einer zweiten, die vorliegenden Zeugnisse durch ein kunstvolles Arrangement zum Sprechen gebracht. Aber die ausgewerteten Texte, die größtenteils wieder aus dem George-Kreis stammen, reproduzieren weitgehend die bekannten Züge des ›Meisters‹. Um hinter die Maske zu schauen und das in den Tiefen der Persönlichkeit vermutete Geheimnis zu entdecken, haben die beiden Biographen unterschiedliche Methoden verwendet. Norton zieht Georges Werke heran und dekodiert die Gedichte als die Chiffrenschrift eines Homosexuellen. Zugleich versucht er in ihnen die Herrschaftsideologie eines Präfaschisten zu entlarven. Karlauf präpariert dagegen aus den Schilderungen der Georgianer bestimmte Schlüsselszenen heraus, in denen sich die von George verborgenen Triebkräfte seines Lebens abzeichnen sollen. So lässt er die Initiationsriten des Kreises als Indiz für die – möglicherweise auch praktizierte – Homosexualität und Pädophilie Georges erscheinen. Doch wie der Rückschluss vom Werk auf das Leben des Dichters, so ist auch das Arrangieren von suggestiven Szenen aus dem Leben in einer Biographie nicht unbedenklich. Als alternative Methode bieten sich literatur- und mediensoziologische Analysen an, die die Mechanismen und Funktionen der Selbstinszenierung Georges untersuchen. Seit der Studie Bilderdienst von Gert Mattenklott6 ist dieser Weg wiederholt beschritten worden. Aber erstens lässt sich so keine Biographie erzählen, und zweitens verstärken die Analysen noch zusätzlich den Eindruck einer durchgängigen Stilisierung des Lebens.
Die Schwierigkeiten, mit denen jede Biographie über Stefan George zu kämpfen hat, werden in diesem Buch nicht durch einen vollkommen neuen Ansatz gelöst. Sein Material verdankt sich größtenteils den kommentierten Ausgaben der Sämtlichen Werke, den Briefsammlungen und Erinnerungsbüchern aus dem Kreis, den Lebensbeschreibungen von Norton und Karlauf, der sogenannten ›Zeittafel‹7 und natürlich der umfangreichen Forschungsliteratur zu George. Als Summe der bisherigen Forschung sei das 2012 erschienene dreibändige Handbuch Stefan George und sein Kreis hervorgehoben, dessen dritter Band auch ein umfangreiches Personenlexikon enthält.8 Bei der erneuten Durcharbeitung des bereitliegenden Materials kam es dem Verfasser nicht nur darauf an, die Etappen im Leben des Dichters in kompakter und zugleich anschaulicher Form zu schildern. Vielmehr sollten verfestigte Bilder und Deutungen auf den Prüfstand gestellt, reflektiert und, wenn nötig, korrigiert werden. Der Impuls der neuen Biographie ist die Frage, ob unser Bild George gerecht wird oder aber ob wichtige Aspekte seines Lebens übersehen werden.
Das Buch bezieht die Werke des Dichters ein. Dagegen könnten Einwände erhoben werden, die, über prinzipielle Fragen der literaturwissenschaftlichen Methode hinausgehend, das spezifische Verhältnis von Leben und Werk im Fall von George betreffen. Missachtet die Verknüpfung von Leben und Werk nicht die Autonomie der Dichtung, die besonders in der frühen Phase des L’art pour l’art (Kunst für die Kunst) wesentlich ist? Und fällt sie nicht auf die spätere Inszenierung von Georges Autorschaft herein, die Leben und Werk im Bild des Dichter-Sehers und Dichter-Führers verschmilzt? Um biographische oder hagiographische Kurzschlüsse zu vermeiden, werden Georges Gedichtbände in eigenständigen Werkkapiteln charakterisiert, die in die fortlaufende Lebensbeschreibung eingeschoben sind. Innerhalb der Werkkapitel unterliegen die Gedichtbände einer doppelten Perspektive:...