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Die entprivatisierte Religion

Religionszugehörigkeit jenseits der Wahl?

AutorMichael Dellwing
VerlagDUV Deutscher Universitäts-Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783835091603
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Michael Dellwing setzt sich mit der Vitalität von Religion und mit den von der Religionssoziologie zu erklärenden Phänomenen (Konversion, religiöse Beteiligung und öffentlicher Einfluss von Religion) auseinander. Er stellt die Durchdringung der Religionssoziologie durch das Paradigma der individuellen Wahl dar und zeigt, wie die Idee einer gemeinschaftlichen Religion notwendigerweise auch darin weiter mitschwingt, um schließlich eine Betrachtungsmöglichkeit der Religion jenseits der persönlichen Wahl zu liefern.

Michael Dellwing studierte und promoviert derzeit bei Prof. Dr. Heinz Bude am Lehrstuhl für Makrosoziologie der Universität Kassel. Er ist als Lehrbeauftragter an der Universität Kassel tätig.

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Leseprobe
1. Die privatisierte Wahlreligion (S. 13)

Moderne, Pluralität und Wahl

In den Gesellschaftswissenschaften, in den Feuilletons und in der öffentlichen Diskussion wird derzeit allerorts über die Rückkehr der Religion sinniert,6 und das nicht erst, seit der Papst aus Deutschland stammt und ein Weltjugendtag (einmal wieder) Millionen Jugendliche aus aller Welt anlockte. Die Wiederentdeckung der Religion in den Gesellschaftswissenschaften hat sich freilich lange angedeutet, nicht zuletzt in Jürgen Habermas’ aufsehenerregender Hinwendung zur Theorie der postsäkularen Gesellschaft.

Je populärer die These wird, dass auch hier in Europa, dem Paradekontinent der Säkularisierung und in Deutschland, einem einmal verlässlichen Fels des Antiklerikalismus, die Religion wohl doch nicht so tot ist, wie das in der Mitte der Nachkriegszeit so oft vorausgesagt wurde, um so mehr erfährt die Religionssoziologie als Helfer zum Verstehen dieser Trends eine neue Aufmerksamkeit – und scheint seltsam unvorbereitet.

Die Antworten, die die Religionssoziologie bereitgehalten hat, laufen gefügig an den Ansätzen entlang, die die Thesen einer reflexiven Moderne, fortgeschrittenen Moderne oder der individualisierten Gesellschaft haben erwarten lassen. Erst erklärten sie den Rückgang der Religion mit der Individualisierung und der damit einhergehenden Auflösung kollektiver Bindungen, deren paradigmatisches Beispiel die Religion ist.

Nun erklärt die Religionssoziologie die Vitalität der Religion mit derselben Individualisierung, mit der sie seinerzeit ihre Schwäche diagnostizieren wollten. Das scheint kurios. Im Vorwort zu Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung? schreibt Karl Gabriel enthusiastisch, das Konzept der Individualisierung habe sich „in erstaunlich vielen Bereichen als fruchtbares Analyseinstrument erwiesen" und regt diese Richtung auch für die Religionssoziologie an.

Wir finden diese Ansätze in Peter L. Berger, der die Sehnsucht nach Sinn8 und die Wahl der Religion auf der Basis individueller Erfahrung diagnostiziert und in Thomas Luckmann, der die Religion als unsichtbar, privatisiert und persönlich sieht, eine Situation, in der sich gerade liberale, wirtschaftswissenschaftlich inspirierte Analysen wie die Rational-Choice-Theorie eine neue Leistungsfähigkeit der Religion auf dem freien Markt ausrechnen.

Die Religionssoziologie befindet sich somit tief im Paradigma der Wahl. Sie befand sich vor der „Rückkehr der Religion" darin, als sie die Säkularisierung erklären wollte und diese durch individualisierte Sinnfindung in Abkehr von offiziellen Optionen erklärte, und befindet sich nun immer noch dort, wenn sie nun die Wiederkehr als nun gewählte Option thematisiert, Luckmann konstatiert das „Warenhaus" religiöser Optionen, aus dem sich der einzelne nun frei bedienen kann, Berger den „Zwang zur Häresie", in dem der moderne Mensch in der pluralisierten Situation keine andere Wahl mehr hat, als zwischen den Optionen des heiligen Kosmos zu wählen.Von Malise Ruthven stammt derweil der Begriff (und nur der Begriff) des göttlichen Supermarkts.

Die Basis der neuen Wahlmöglichkeiten der Religion sieht die große Mehrheit der Religionssoziologie in der religiösen Pluralisierung, das heißt in der Erhältlichkeit religiöser Angebote durch die Brechung des Monopols der einen Weltanschauung.

Einer „geschlossenen" Sinnwelt im Mittelalter oder in der vorglobalisierten Gesellschaft (wenn es so etwas je gegeben hat), die sich putativ noch nicht mit dem Anderen hat auseinandersetzen müssen, folgt eine bunte, pluralisierte, multikulturelle Erlebniswelt, in der alle möglichen Formen der Sinnfindung nebeneinander stehen.
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort6
Vorwort8
Inhalt10
Einleitung12
1. Die privatisierte Wahlreligion24
Moderne, Pluralität und Wahl24
Thomas Luckmann29
Peter L. Berger33
Rational-Choice-Theorie36
Steve Bruce39
José Casanova41
Charles Taylor44
Ulrich Oevermann46
Das Paradigma der Wahl47
2. Die protestantische Erzählung des Zwangs zur Häresie52
Befleckte Wahrnehmung, Überzeugungen und Theorien53
Erzählungen ohne Brüche54
Alte Erzählungen57
Taylor mit und gegen James60
Religion im Warenhaus: Thomas Luckmann64
Der bekennende Protestant: Peter L. Berger69
Erweckung als Paradigma: José Casanova74
Struktur für Jedermann: Ulrich Oevermann76
Die religiöse Ökonomie: Die Rational-Choice-Theorie der Religion78
3. Bleibende Gemeinschaft86
Die Stütze im Umfeld: Peter L. Berger87
Kluges Buch, unpassender Titel: Malise Ruthven90
Der sichere Anker im Angesicht der Überraschung: Detlef Pollack93
Erfahrung in Solidarität: Charles Taylor95
Religion als Deutungsmuster: Thomas Luckmann97
Die Erzählung zur Erzählung ohne Erzählung: Steve Bruce100
4. Ist das denn zu glauben?104
Neopragmatische Religion105
Eine diskursive Bestimmung der Religion109
Zwei Ebenen einer entprivatisierten Religion113
Immanent markierte Baldachine120
Nutzen der diskursiven Bestimmung121
Die diskursive Bestimmung und die Religion des Menschen125
das Glaubhafte127
Individuelle Konversionen129
Christentum als credendum134
Protestantismus136
Opfer und Wiederkehr137
Mormonen141
Protestantismus in Amerika142
Konversion zwischen Weltreligionen144
Pick and choose148
5. Die öffentliche Religion152
Liberale Ängste153
Innerer Glaube, äußere Handlung157
Die politische Religion160
Dialog der Setzungen166
Die protestantische Erzählung über die öffentliche Religion?173
6. Jenseits der Wahl178
Die resozialisierte Religion178
Das Paradigma Wahl als credendum181
Anwendungen und Auswirkungen186
Literatur194

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