Die Täter
Der Pogrom war also, wie jedermann wußte und wie die Aktivisten nach 1945 vor Gericht immer wieder beteuerten, eine befohlene Sache, aber das Engagement, mit dem der Befehl allenthalben ausgeführt wurde, machte erst die Dimension des Ereignisses aus. Goebbels hatte an die niederen Instinkte appelliert und eine Welle von Aggressionen und Vandalismus, Zerstörungsrausch und Mordlust ausgelöst, die biedere Bürger und harmlose kleine Leute in Bestien verwandelte. In Köln beobachteten zwei Kinder die Zerstörung eines kleinen jüdischen Altwarenladens: »SA-Männer hatten sich im Halbkreis vor das Geschäft der Eltern meiner Schulfreundin postiert und warfen abwechselnd unter Gebrüll ›Juden raus‹ eine dicke Eisenkugel in den Laden, dessen Schaufenster sie zertrümmerte und dessen Auslagen sie zerstörte. Nun blieben auch wir Kinder wie erstarrt stehen und blickten hinüber zu den Eltern meiner Schulfreundin, die wortlos zusahen, wie man ihren Besitz vernichtete. Ich verstand nicht, warum diese Menschen sich so gar nicht gegen diese Zerstörungswut wehrten, und unbegreiflich war mir auch, daß da so viele Menschen herumstanden und nicht die geringsten Anstalten machten, hier einzugreifen.«[25]
In Eßlingen war das jüdische Waisenhaus Ziel der aufgeputschten Nationalsozialisten: »Am 10. November 1938 zwischen 12 und 1 Uhr erschienen im Speisesaal des Waisenhauses mit Äxten und schweren Hämmern bewaffnete Zivilisten und SA-Leute und zwangen uns unter den Rufen ›Raus mit euch‹, das Haus zu verlassen und uns hinter dem Gebäude am Komposthaufen zu versammeln. Ein Teil der Kinder floh, die übrigen wurden mit uns von SA bewacht. Ich persönlich kannte keinen der Leute, habe aber einen besonders rohen Rothaarigen und einen Buckligen in steter Erinnerung. Während sich ein Teil unbeteiligt in den Gängen und außerhalb aufhielt, zerstörten die anderen, was erreichbar war. Aus den Zimmern der Lehrer und aus unserer Wohnung warf man Bücher, aus dem Betsaal Gebetbücher, Thorarollen und Gedenktafeln auf einen brennenden Scheiterhaufen. Den weinenden Kindern drohte einer dieser Rohlinge, man werde auch sie dort verbrennen … Dann kam der Befehl, die Kinder noch vor Einbruch der Nacht wegzubringen. Nach langen Verhandlungen erlaubte man meinem Mann, Stuttgarter Bekannte anzurufen, um die Kinder mit Autos zu holen. Wir hatten zu unterschreiben, daß wir, mein Mann und ich, als letzte das Haus bis 7.30 Uhr nächsten Tages zu verlassen hätten, andernfalls man uns in Schutzhaft nehmen werde. Taxichauffeuren und Privatleuten, die Kinder wegbringen wollten, wurde jede Verbindung mit uns verboten. Ehemalige Zöglinge aus Stuttgart kamen auf Umwegen während der Nacht und halfen uns. Wir verließen das Haus mit Rucksäcken … Einige Kinder hatten sich zu Fuß auf den Weg nach Stuttgart gemacht, sie fanden Hilfe unterwegs von Passanten.«[26]
Das Schicksal einer Nürnberger Arztfamilie ist komprimiert in der Aussage eines Zeugen in einem der Wiedergutmachungsverfahren des Jahres 1954: »In der Nacht nach dem ›gläsernen Donnerstag‹ 9./10.11.1938 sah ich sofort nach einigen Freunden, um zu helfen, soweit man damals überhaupt in der Lage war. Ich fuhr sofort nach Nürnberg zur Familie Dr. Albert Weinstock, und was sich da meinen Augen bot, werde ich in meinem Leben nicht vergessen können. Daß es Menschen gibt, die eine solche Verwüstung anrichten können, hielt ich nicht für möglich, es müssen Bestien gewesen sein, die in ihrem Haß keine Grenzen mehr sahen. Die Wohnung der Familie Dr. Weinstock bot ein Bild des Grauens. Im Wohnzimmer lagen die Scherben so hoch, daß man kaum zu gehen vermochte. Die Wohnzimmermöbel, schwer und wuchtig, waren vollständig zertrümmert, die Türen des Büfetts z.B. mit dem Beil aufgeschlagen und sämtliches Porzellan, sämtliche Gläser herausgeworfen. Der Flügel (oder Klavier) war so zerstört, wie man es sich kaum vorstellen kann. Mutwillig waren mit dem Beil die einzelnen Tasten der Klaviatur herausgeschlagen! Was an Marmor anzutreffen war, wurde zerschlagen. Die Einrichtung des Speisezimmers war zerstört, die Bücher teilweise zum Fenster hinausgeworfen. Was an Tischen aus Edelholz vorhanden, war so zerschmettert, daß es nicht mehr zu leimen war. Im Schlafzimmer war der Toilettentisch samt Spiegel und Tischplatte aus Glas zerschlagen, der Kleiderschrank aufgebrochen, die Wäsche herausgeworfen, um zum Schmuck und dem Geld zu kommen, das im Schrank unter der Wäsche versteckt war … Soweit die materielle Seite, die man wieder gutmachen kann.
Ich möchte nicht versäumen, auch auf die menschliche Seite einzugehen, da sie weitaus größere Folgen hatte und nicht mehr gutgemacht werden kann; denn derartige Schandtaten kann man mit Geld nicht aufwiegen. Die Leute, die ich in der Wohnung antraf, nämlich Herrn Dr. Albert Weinstock, seine Ehefrau Dora und die beiden Söhne im Alter von etwa 12 und 14 Jahren, waren ein Bild des Jammers, und es hat mich damals selbst ganz schön Nerven gekostet, diesen armen Menschen ein ganz klein wenig Mut zu machen. Die Jungen waren vollständig verstört. Die SA-Rohlinge hatten die Jungen, die man doch noch als Kinder ansprechen mußte, mit dem Gesicht zur Wand gestellt und mit der Pistole bedroht. Man hat sie durch die ganze Wohnung geführt, immer unter der Androhung des Erschießens, und sie mußten zusehen, wie man die Familienwerte und Erinnerungen zerstörte. Frau Weinstock wurde ebenfalls mit der Pistole bedroht und zur Herausgabe des Schmucks (zum Teil alter Familienschmuck) und Geldes aufgefordert, was sie unter diesen Umständen nicht verweigern konnte. Daß Herr Dr. Weinstock selbst nicht sanft behandelt wurde, brauche ich nicht zu erwähnen, trotzdem war er am schnellsten mindestens äußerlich gefaßt, weil er um seine Angehörigen besorgt war. Folgen: Dr. Weinstock konnte es nicht überwinden, daß man ihm, der er ein so großes Ansehen als Arzt und Mensch in Nürnberg genossen hat, wie einen Verbrecher behandelte einzig und allein seiner Abstammung wegen. Er nahm sich das Leben! Kurt Weinstock, der ältere Sohn, der an sich etwas schwach war, hat die Folgen des erlittenen Schocks nie überwinden können und starb nur dreißigjährig, eine gebrochene Mutter zurücklassend. Frau Dr. Weinstock selbst hat diese grausige Nacht auch nie vergessen und sich ebenfalls nie von dem Schrecken erholt.«[27]
Dumpfe Aggression als Folge der Verhetzung ist als einziges Motiv der schweren Mißhandlung auszumachen, bei der das Opfer ein älterer Mann und der Täter ein 17jähriger Hilfsarbeiter war. Die kleine Stadt Assenheim in Hessen (sie hatte 1933 1216 Einwohner, darunter 21 Juden) war Schauplatz der Tat, die im Herbst 1946 gerichtlich geahndet wurde. Der Täter wurde zu zwei Jahren Gefängnis wegen schweren Landfriedensbruchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt, die Rädelsführer und Anstifter konnten nicht zur Verantwortung gezogen werden. Der Angeklagte zeigte sich reuig und geständig. Er hatte in Assenheim die Volksschule besucht, dann eine Maurerlehre abgebrochen und war seit 1937 am Westwall beschäftigt. Am 8./9. November hatte er Heimaturlaub: »Er war an dem Tage der Aktion gegen 13 Uhr in Assenheim angekommen. Da er niemand seiner Angehörigen zu Hause vorfand, fuhr er mit seinem Fahrrad ins Dorf, um dieselben zu suchen. Als er in die Nähe der Apotheke kam, sah er vor dem Hause Liebmann eine größere Menschenmenge, zumeist Jugendliche, stehen. Schon beim Näherkommen hörte er, wie der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Hergert, die Anwesenden aufforderte, ins Haus einzudringen und den schon betagten Liebmann herauszuholen. Der Angeklagte stellte jetzt sein Rad in der Nähe ab, mengte sich unter die Anwesenden und begab sich kurz darauf in den Hof des Liebmannschen Hauses. Von dort ging er mit einigen anderen in das Haus. Er stieg zunächst in den oberen Stock, wo er die Möbel bereits zerschlagen vorgefunden haben will. Eine Uhr nahm er und warf sie zum Fenster hinaus. Mit dem Fuß trat er ein anderes Fenster ein, kletterte auf die Altane des Hauses und von dort durch ein bereits zerschlagenes Fenster wieder ins Zimmer. Dann begab er sich zum Erdgeschoß. Als er die Treppe herunterkam, bemerkte er, wie mehrere ihm nicht mehr bekannte Männer auf den in eine Ecke gedrängten, blutenden Liebmann einschlugen. Dieser wehrte sich mit einem Spazierstock. Der Angeklagte, der an der Gruppe vorbeiwollte, fühlte sich dabei von Liebmann angegriffen. Zur Abwehr ergriff er den Stock und entwendete ihn dem Verteidiger. Er hat dann mit auf Liebmann eingeschlagen, doch ist ihm der Gegenstand, den er dabei in den Händen hielt, nicht mehr bekannt, auch nicht, wo er den Angegriffenen traf. Ein Beil will er jedoch nicht gehabt haben. Der so hart bedrängte Liebmann versuchte nun, das Freie zu gewinnen. Die Angreifer folgten ihm. Voran der Angeklagte, der den Flüchtenden einholte. Mit Schritten und Schlägen trieb er ihn vor sich her. Diese Jagd ging ungefähr 100 Meter so. Da hakte der Angeklagte mit dem immer noch in seiner Hand befindlichen Spazierstock das Bein des Verfolgten ein und brachte diesen dadurch zu Fall. Dann stürzte er sich selbst auf den wehrlos Daliegenden, um weiter auf ihn einzuschlagen. In diesem Augenblick griff der Zeuge K. ein, der den Angeklagten von seinem Opfer...