II. Segeln: „Wie leite ich?“ – Der Leiter mit einem Ziel vor Augen
Über auftragsbestimmte Leitung und den richtigen Kennerblick
Häufig sieht man sie nicht mehr: große Segelschiffe, die Hunderte von Quadratmetern Leinwand über drei, vier oder sogar fünf Masten in den Wind halten. In Hamburg zählt die Segelschiffparade beim alljährlichen Hafengeburtstag zu den besonderen Attraktionen. Vor 150 Jahren führten diese Segler ihren letzten Kampf in Konkurrenz mit der neu aufkommenden Dampfschifffahrt. Weite Strecken unabhängig vom Wind zurücklegen zu können, das war der Traum vieler Reeder, deren Gewinne bislang immer auch von den Launen des Windes abhängig waren. Wie bei jeder neuen Technologie kam es zu einem Aufbäumen der bisherigen Industrie. Die Kapitäne und Werftbesitzer für Segelschiffe wollten beweisen, dass ihr Schiffstyp überlegen und jeder Herausforderung der Zukunft gewachsen war. So wurden die Masten höher, die Rahen breiter, die Rümpfe schlanker, die Materialien stabiler und die Schiffe schneller – viel schneller, als man es bei Segelschiffen bisher für möglich gehalten hatte. Ein neuer Schiffstyp entstand, der „Klipper“. Tatsächlich konnten diese Schiffe, entsprechenden Wind vorausgesetzt, Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 18 Knoten erreichen und damit die frühen Dampfschiffe hinter sich lassen.
Klipper wurden vor allem für weniger haltbare Waren eingesetzt, die schnell ihren Bestimmungsort erreichen sollten. Chinesischer Tee war damals ein wertvolles Luxusprodukt, für das in Europa hohe Preise erzielt wurden. Aus wirtschaftlicher Notwendigkeit wurde sportliche Herausforderung. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Schiff, das mit dem ersten Tee der neuen Ernte den Hafen von London erreichen würde. Auf Kapitän und Mannschaft wartete ein Extrabonus aus dem teuren Verkauf der frischen Ware. Zudem konnten – noch heute typisch für Engländer! – Wetten mit hohem Einsatz abgeschlossen werden.
Berühmt wurde das „Große Teerennen von 1866“1. Die britischen Teeschiffe „Taeping“ und „Ariel“2 verließen den Hafen von Futschau in China zur selben Zeit am 30. Mai. Ihr Ziel war London – 25.750 km entfernt. Die „Taeping“ erreichte das Ziel nach 102 Tagen nur 20 Minuten vor der „Ariel“ und ca. 90 Minuten vor der ebenfalls am 30. Mai gestarteten „Serica“. Über drei Monate waren diese Schiffe in Sichtweite gesegelt. Man kann sich vorstellen, wie die Mannschaften auch noch den letzten Fetzen Leinwand irgendwie in den Wind gehalten haben, um einen klitzekleinen Vorsprung zu gewinnen. Die Anspannung muss hoch gewesen sein, und das über einen so langen Zeitraum.
- » Die Gemeinde – ein Segelschiff
Ein Segelschiff ist ein gutes Bild für eine Gemeinde. Der Antrieb kommt nicht aus eigener Kraft, sondern vom Wind des Heiligen Geistes. Es kommt nicht darauf an, selbst viel Wind zu machen, sondern die Segel richtig in den Wind zu stellen. So wirken Gottes Handeln und menschliche Verantwortung zusammen. Der Vielzahl von Segeln entspricht die Vielzahl an Gaben. Wer nicht gerade Seemann ist, steht ratlos vor dem Gewirr von Groß-, Fock-, Top-, Klüver-, Mars- und Was-weiß-ich-noch-Segeln an den Masten eines Klippers. 60 bis 70 einzelne Segel werden gespannt, um den Wind in optimaler Weise auszunutzen. Um vorwärtszukommen würden auch weniger reichen. Doch um zur Höchstform aufzufahren, muss jedes Segel gesetzt sein – jedes.
Das Gleiche gilt für die Gemeinde. Sie kann auch stattfinden, wenn nur wenige die Arbeit tun. Sie wird auch laufen, wenn viele passiv dabei sind. Doch wenn sie in ihre Bestimmung hineinkommen will, dann muss jeder sich beteiligen. Es kommt auf jeden Mitarbeiter an. Keine Gabe ist entbehrlich. Bei einem Schiff gibt es große und kleine Segel. Manche tragen mehr, manche weniger zum Fortkommen des Schiffes bei. Ebenso ist es mit den verschiedenen Diensten in einer Gemeinde. Nicht jeder Dienst hat das gleiche Gewicht. Doch jeder einzelne ist bedeutungsvoll, wenn es darum geht, die Gemeinde zur Entfaltung ihres vollen Potenzials zu bringen.
Das ist die Herausforderung der Leiterschaft. Wenn die Bibel die Gemeinde mit einem Leib vergleicht, dann hängt die Gesundheit davon ab, dass alle Organe und Glieder richtig funktionieren. Wem es gelingt, nicht nur selbst fleißig zu arbeiten, sondern auch die Mitchristen zur Entdeckung ihrer Gaben und zur Entfaltung ihres Potenzials zu bringen, der kann seinen Einfluss als Leiter vervielfältigen. Die Gemeinde transportiert etwas Wertvolleres als chinesischen Tee. Sie umfasst Menschen, die einem Ziel entgegenlaufen. Mit dem Wind des Heiligen Geistes kann sie rechnen. Doch die Segel in den Wind Gottes zu halten, das bleibt die Verantwortung der Christen. Wer als Leiter dient, hat hier eine große Herausforderung vor sich.
- » Was zu guter Leitung gehört
Einige Merkmale sind für alle Leiter wichtig, egal, in welcher Situation sie sich befinden. Es gibt Kennzeichen, die einen Leiter auszeichnen und an deren Entwicklung er arbeiten muss. Diese Aussage macht schon deutlich, dass Leitungsqualitäten nicht nur Schicksal sind; man kann es oder man kann es eben nicht. Sicherlich spielt Persönlichkeitstypus und Begabung eine Rolle, nicht zuletzt auch die Gaben, die Gott in einen Menschen hineingelegt hat. Aber in den Gaben gibt es ein Wachstum und im Leben ein ständiges Dazulernen. Leiterschaft ist eine Kunst, die mit Fleiß und Einsatz entwickelt und verfeinert werden kann.
Im Folgenden sollen einige Elemente gezeigt werden, die zu guter Leitung gehören.
- 1 Gute Leiter beweisen Weitblick
Leiter sehen in die Zukunft. Sie haben ein Bild vor Augen, das sie antreibt und andere begeistert. Sie halten nicht nur den Kopf hoch und den Betrieb am Laufen. Ihnen reicht es nicht, wenn alles gut läuft und jeder freundlich mitmacht. Der Leiter schaut nach vorne und arbeitet für Fortschritt und Entwicklung in seinem Werk. Die Vision einer wachsenden Gemeinde dürfte der Traum eines jeden Pastors sein. Oder etwa nicht? Man kann sich auch mit der Verwaltung des Mangels abfinden und den Trend des Niedergangs für unausweichlich halten. „Wir erwarten keine Trendwende“. Wenn ein Bischof das über seine Kirche sagt, dann wirkt es so, als hätte er aufgegeben. Es mag ja stimmen, dass Deutschland momentan nicht das beste Klima für Bekehrungen und Gemeindewachstum bietet. Es ist auch kein Zeichen von Glauben, sich diesen gesellschaftlichen Trends zu verschließen. Aber so lange es noch Menschen gibt, die Jesus Christus nicht kennen, so lange noch weite Teile der (neu eingewanderten) Bevölkerung eine Vorstellung vom christlichen Glauben haben, die über gelegentliche Medienberichte oder Spielfilmsequenzen nicht hinausgeht, so lange gibt es noch einen riesigen Markt – oder sollte man lieber vom Erntefeld sprechen? – der auf das glaubwürdig gelebte christliche Zeugnis wartet.
Leiter setzen sich mit Hoffnung dem Pessimismus entgegen. Sie sehen da Chancen, wo andere Gefahren sehen. Sie klagen nicht über den Verfall der Moral, sondern sehen die Menschen auf der Suche nach neuer Orientierung. Sie stöhnen nicht über den Niedergang der Kirchen, sondern suchen nach neuen Wegen, den Menschen die einzigartige Botschaft des Evangeliums in der Sprache der Gegenwart nahezubringen. Sie maulen nicht über die Beliebigkeit der Postmoderne, sondern erkennen hinter aller Gleichgültigkeit und Relativität die bleibenden Fragen nach einem festen Grund für das eigene Leben. Des Menschen Suche nach Sinn und Bedeutung ist nicht zu Ende. Sie ist nur anders getönt. Ob das Christentum in Deutschland vor einer Renaissance steht, kann bestenfalls eine prophetische Aussage sein. Doch es wird Zeit, die Chancen zu sehen, die auch der gegenwärtige Trend bietet.
Wir leben in der schlimmsten aller Zeiten – zumindest in geistlicher Hinsicht. Diesen Eindruck bekommt man, wenn man manche Menschen reden hört und Einschätzungen über die Entwicklung des Christentums in unserem Lande folgt. Wirklich? Wenn unsere Großväter das gesagt hätten, als ihnen die braune Brühe bis zum Hals stand und selbst viele Kirchen die Wahrheit des Evangeliums kompromittierten – aber wir? Wenn unsere Ahnen im 17. Jahrhundert das empfunden hätten, als ein nicht enden wollender Religionskrieg ganze Gegenden entvölkerte und Landstriche für Generationen verwüstete – aber wir? Wenn jene Männer das gedacht hätten, die vor über 1.000 Jahren in den dunklen Wäldern Germaniens auf ein wildes, unkultiviertes und streitlustiges Volk stießen, ängstlich und abergläubisch im Dienste ihrer kriegerischen Götter – aber wir? Manchmal entsteht der Eindruck, „früher“ sei alles besser gewesen. Die Männer waren stärker, die Frauen schöner, die Kinder gehorsamer und das Wetter besser. Es wird Zeit, den Blick nach vorne zu wenden. Jede Epoche hat ihre Chancen und Risiken. Niemals hat es die Welt den Christen leicht gemacht. Kaum mal wurde ein Missionar mit offenen Armen empfangen. Selten sind Menschen bereit, ihre Einstellungen und überkommenen Lebensgewohnheiten einfach in Frage zu stellen. Schon immer musste die christliche Botschaft sich gegen Widerstände behaupten. Königlicher Unwillen, intellektuelle Hochnäsigkeit, bürokratischer Stumpfsinn, religiöse Verbohrtheit, abergläubische Angst, spöttisches Desinteresse – das Kaleidoskop menschlicher Reaktionen auf die göttliche Botschaft ist fast unerschöpflich.
Doch gerade hierin zeigt sich die Kraft des christlichen Glaubens. In zahllosen Kulturen, so unterschiedlich sie sein mögen, ist das Christentum heimisch geworden. Trotz...