Ob das Christentum heute noch eine lebendige Kraft sei, darüber streiten nicht nur die Gelehrten. Je nach Perspektive und Interesse erklären Soziologen, Theologen, Politiker und Meinungshändler, dass das Christentum immer noch den kulturellen Grund der Gesellschaft darstelle oder unwiederbringlich an Bedeutung verloren habe. Wenig wird bei diesem ewigen Pro und Contra berücksichtigt, wie sehr das Christentum «in der Luft liegt». Als Musik nämlich wird es von Zeitgenossen genossen und geliebt, ohne dass sich damit jedoch notwendigerweise ein Bekenntnis verbände. Als Musik ist das Christentum gegenwärtig, zugleich aber ist die Kirchenmusik eine Kunst und deshalb frei. Sie lässt sich nicht kirchlich festlegen, überschreitet theologische Grenzen, bindet niemanden, der sie hört. Wer sie aber hört, wird berührt und dabei herausgefordert, sich zu dieser Musik zu verhalten. Adventslieder und Weihnachtsoratorien, Psalmen und Hymnen, Requien und Passionen, Messen und Choräle, Gospel und Sakropop – vieles mag altvertraut sein und ist doch, wenn man bewusst zuhört, jedes Mal von Neuem eine Überraschung: ein verblüffendes Kunsterlebnis und die unerwartete Nötigung, sich über den eigenen Glauben oder Nichtglauben klarer zu werden.
Dieses Buch möchte die Freude an der Kirchenmusik vertiefen und erweitern. Dazu erzählt es in ausgewählten Beispielen die Geschichte der christlichen Musik. Bekanntlich ist es schwer, über Musik zu sprechen und zu schreiben. Musik ist eine Welt aus Klängen, die sich nicht einfach in Worte übersetzen lassen. Dennoch ist sie auch eine Art von Sprache, die verstanden werden will und über die man sich verständigen sollte. Das gilt besonders für die Kirchenmusik. Sie ist vor allem Wort-Musik, weil sie Verse singt, Gebete spricht, Geschichten erzählt und eine Botschaft verkündet. Sie will nicht nur genossen werden. Sie will nicht zerstreuen, sondern zur Besinnung bringen. Sie zielt darauf ab, dass andere sie verstehen, sie mitsprechen oder ihr widersprechen, jedenfalls auf sie antworten. Deshalb sollte Kirchenmusik nicht nur geübt, aufgeführt und gehört werden. Es ist auch über sie zu sprechen. Um dies tun zu könnten, braucht man eine Vorstellung von dem, was man da hört und was es bedeuten könnte. Hier gibt es manches zu erklären und mitzuteilen, was zu wissen hilfreich ist. Aber das Erklären kann nicht alles sein. Denn obwohl Musik immer auch etwas mit Mathematik zu tun hat, so ist sie doch keine Rechenaufgabe, für die es nur einen Weg und nur ein Ergebnis gäbe. Sie will ja bei jedem Hörer ein eigenes Erleben und Verstehen eröffnen. Deshalb sollte auch das Sprechen und Schreiben über Musik öffnend, anregend und ansteckend wirken. Und dies gelingt durch das Erzählen eher als durch das bloße Erklären. Darum erzählt dieses Buch Geschichten aus der Geschichte der Kirchenmusik: in welcher Welt die ausgewählten Werken entstanden sind, wer sie geschaffen hat und warum, wer sie als erstes aufgeführt hat, wie sie früher gehört wurden und welche Wege sie seither genommen haben.
Geschichten eröffnen Zugänge, erschweren sie aber auch, denn das geschichtliche Verstehen ist immer mit dem Erleben von Fremdheit verbunden. Wenn man ein altes Kunstwerk begreifen will, muss man seine Historie kennenlernen. Je mehr man dies jedoch tut, desto fremder wird es einem dabei, man erkennt, dass seine Zeit nicht die eigene ist. Vergangenheit und Gegenwart sind durch einen tiefen Graben getrennt – besser gesagt, durch zwei Gräben. Der eine heißt «Unwissen»: Je mehr man sich in die Geschichte der Kirchenmusik vertieft, desto genauer ermisst man, was man heute nicht weiß und nie in Erfahrung bringen wird. Der zweite Graben heißt «Unterschied»: Je mehr man sich in die Geschichte der Kirchenmusik vertieft, desto genauer ermisst man, wie unterschiedlich Musik damals und heute geschrieben, gespielt, genutzt, gehört und genossen wurde. Es wäre borniert anzunehmen, das eigene Musikleben und -erleben wäre überzeitlich. Es wäre todlangweilig zu meinen, man wüsste, was Musik immer schon bedeutete. Es ist dagegen notwendig einzusehen, dass Musik, gerade auch religiöse Musik, sich in und mit ihrer Geschichte verwandelt. Das lehrt Demut und hilft, neugierig zu bleiben, weil man eben nicht immer schon alles weiß, sondern stets nur am Anfang ist. Es ist wichtig, sich durch Erfahrungen historischer Fremdheit irritieren zu lassen. Denn erst dann ist man bereit, sich überraschen zu lassen von diesen Momenten, in denen man glaubt, diese alte, uralte Musik sei recht eigentlich für einen selbst geschrieben. Kostbar sind diese Augenblicke der Gleichzeitigkeit. Sie stellen sich aber nur ein, wenn man sie nicht für selbstverständlich hält. Das also ist das Paradox der Geschichte: Je mehr man über ein Glaubenskunstwerk historisch erfährt, desto stärker erlebt man seine Fremdheit. Und dennoch gibt es Augenblicke, in denen der alte Glaube und seine Musik direkt in die eigene Gegenwart sprechen und sich das Wunder der Gleichzeitigkeit einstellt.
In Abwandlung eines Nietzsche-Wortes kann man sagen, dass der Glaube ohne die Musik ein Irrtum oder zumindest nur die Hälfte wert wäre. In der Kirchenmusik steckt ein eigenes Wahrheitsmoment. Sie führt auf ihre Weise zu Einsichten – wenn es im Deutschen dafür ein Wort gäbe: zu einer Einsicht der Ohren. Sie kann das Erleben einer Evidenz schenken. Sie kann die Erkenntnis sinnliche Wirklichkeit werden lassen, dass man selbst erkannt ist und erhört wird. Dass man eine Seele hat und diese einen unendlichen Wert besitzt, weil sie auf Gott hin geschaffen ist und von ihm erfüllt wird. Kirchenmusik kann in den Glauben führen. Wem dies jedoch eine zu vollmundige Behauptung wäre, der müsste doch zugeben, dass diese Musik in besonderer Weise zur Selbsterkenntnis anstiften kann. Im Spiegel – besser gesagt: im Echo-Raum – dieser Musik wird einem bewusst, wer man ist, in welcher Welt man selbst lebt, wie weit ihr Horizont ist, wie tief sie reicht, welche religiösen Möglichkeiten einem jetzt gegeben oder nicht mehr gegeben sind.
Die Musik des Christentums ist ein Traditionsschatz. Aber wie das so ist mit Schätzen – zum eigenen Besitz werden sie erst, wenn man sie sich bewusst angeeignet hat. Dazu muss man etwas über sie wissen, vor allem aber eigene Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Das geht nicht ohne Spannungen, Kritik und Konflikt ab. Die christliche Musik ist kein unberührtes Reich des Friedens, sondern von jeher ein Gegenstand des Streits. Was für Musik grundsätzlich gilt, gilt für die Kirchenmusik in gesteigerter Weise: Musik vermag Menschen auf intensivste Weise zu verbinden, aber auch zu trennen. Sie formt Einzelwesen zu einer Gemeinde und überwindet Grenzen, richtet dabei aber neue auf: Grenzen des Geschmacks, des Alters, der Bildung, der sozialen Klassen, der Weltanschauung, der Frömmigkeit. Die Geschichte der Kirchenmusik ist auch eine Konfliktgeschichte. Diese Konflikte sind jedoch nicht nur störend, sondern auch nützlich, denn sie zwingen zur Auseinandersetzung. Deshalb sind in das Erzählgeflecht dieses Buches einige Konfliktfäden eingewebt. Zum Beispiel der Dauerstreit zwischen kirchlichen Kunstfreunden und -gegnern. Wie viel oder wie wenig Musik soll in einem Gottesdienst Raum finden? Wie sinnlich darf oder wie geistlich muss sie sein? Wie virtuos oder schlicht, wie frei im Klang oder wie gebunden an das Wort sollte sie sein? Solche Fragen lassen sich nicht einfach zugunsten der einen oder anderen Seite entscheiden, weil beide Seiten gemeinsam das Wesen eines christlichen Gottesdienstes ausmachen: Der Glaube will sich äußern in schöner Sprache und festlicher Musik, doch indem die Musik dem Glauben eine Gestalt verleiht, folgt sie immer auch ihrer eigenen Kunstlogik, gehorcht nie einfach einer amtlichen Theologik. Nicht zuletzt aus dieser Grundspannung bezieht die Geschichte der Kirchenmusik eine besondere Spannung, die den Zuhörer nicht unberührt lässt, sondern zu einer eigenen Stellungnahme herausfordert.
Im Neuen Testament wird folgende Geschichte erzählt: Es kam einmal ein Äthiopier nach Jerusalem. Das war ein mächtiger Mann, ein Kämmerer, das heißt der Finanzminister des äthiopischen Königs. Dieser war nach Jerusalem gereist, um am Tempel zu beten und zu opfern. Ob er auch die Tempelmusik hören wollte, wird nicht berichtet. Auf der Rückfahrt las dieser mächtige und fromme Fremde in der Bibel. Er saß in seinem Wagen und las laut vor sich hin, wie es damals üblich war. Das hörte der Apostel Philippus, einer der ersten Botschafter Jesu, der zu Fuß auf derselben Straße unterwegs war. Als er den Äthiopier in seinem Wagen lesen hörte, fragte er ihn: «Verstehst du auch, was du liest?» «Nein», antwortete der hohe Herr «wie kann ich das, wenn mich niemand anleitet?» Und er ließ Philippus in seinen Wagen steigen. Während sie langsam nach Süden rollten, erklärte ihm der Apostel den Sinn seiner Lektüre. Da blickte der Kämmerer auf, sah am Wegesrand ein Gewässer und sagte: «Sieh, da ist Wasser. Was hindert uns, dass ich mich taufen lasse?» Nichts hinderte sie mehr. Also hielten sie an, stiegen aus, gingen zum Wasser, und Philippus taufte ihn in den...