GRÜNKOHL SUPERSTAR
Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich hinter der schlichten Bezeichnung »Grünkohl« eigentlich ein ganzes Grünkohl-Universum mit zahllosen Sorten, Arten und Züchtungen, mit neuen und alten Zubereitungsweisen, mit vielen unterschiedlichen Traditionen und modernen Erkenntnissen aus der Ernährungslehre.
EINE ERFOLGSGESCHICHTE
Was heute die Herzen von Küchenchefs und gesundheitsbewussten US-Amerikanern höher schlagen lässt, hat eine lange und weite Reise hinter sich, die schon vor Jahrtausenden begann. Mit den Anfängen der Antike und des länderübergreifenden Handels trat von den Küstenregionen des östlichen Mittelmeerraums eine urtümliche Form des Grünkohls den Siegeszug über die ganze Welt an. Erste Stationen waren Griechenland und das alte Rom, wie Überlieferungen belegen.
Antike Zeugnisse
Der Römer Marcus Porcius Cato (234 –149 v. Chr.), später »der Ältere« genannt, schrieb in seiner Schrift über die Gutswirtschaft De agricultura, dass der Kohl alle anderen Gemüse übertreffe. Er empfahl ihn als Allheilmittel gegen praktisch jede Krankheit. Mit Kohlumschlägen versorgte man Wunden und Geschwüre oder man bereitete aus Fett und Asche des verbrannten Kohls eine Heilsalbe zu, die der Desinfektion von Wunden diente. Zur innerlichen Anwendung bei allen möglichen Leiden nahm man die Kohlblätter roh gehackt, gekocht, zerrieben oder als Saft ein.
In der römischen Unterschicht aß man Kohl zum Getreidebrei. Neben Bohnen und Hülsenfrüchten gehörte er praktisch in jeden Eintopf. Der Schriftsteller Plinius (1. Jh. n. Chr.) berichtete von Grün- und Kopfkohl als sehr beliebtem Gemüse. Er warnte nicht nur einmal davor, dass Rom vielleicht zugrunde gehen könnte, weil sich die vornehme Oberschicht mit der einfachen Lebensweise ihrer Vorfahren und den Produkten des Landes, allen voran dem Kohl, nicht mehr zufriedengeben wollte.
Der Weg nach Amerika
Es dauerte dann bis zum Ende des Mittelalters, bis grüne Blattkohle in ganz Europa ein weit verbreitetes Gemüse waren. Schließlich brachten im späten 18. Jahrhundert russische Händler die krausen grünen oder braunen Blätter in die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch viele Einwanderer aus Europa und Asien hatten ihn als Teil ihres traditionellen Essens im Gepäck, etwa Italiener ihren Toskaner Kohl – einen Grünkohl mit blasigen Blättern – oder die Einwohner von der Wolga und vom Ural den »Roten Russen«, eine Unterart des Grünkohls, der in Eis und Schnee bestens gedeiht.
Später im Zweiten Weltkrieg förderte der Verbündete der Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Grünkohlanbau im Land durch die »Dig for Victory«-Kampagne. »Graben für den Sieg« sollte auf die einfach zu ziehende und sehr nahrhafte Pflanze aufmerksam machen. Man sah darin eine Chance, der Mangelernährung beizukommen, die infolge der Lebensmittelrationierung drohte.
GROSSFAMILIE KOHL
Biologisch zählt die Familie der Kohlgewächse zu den Cruciferen, den Kreuzblütlern. Man nennt sie auch Brassicaceae. Neben der weit verzweigten Kohlverwandtschaft mit Grünkohl, Blumenkohl und dergleichen mehr gehören dazu auch Rettich und Radieschen, Raps, Rübchen, Meerrettich, Rucola, Senf und Kresse. Senföle, schwefelhaltige Verbindungen, verleihen all diesen Gemüsen den fein aromatischen, angenehm scharfen Geschmack.
Der Vorfahre aller bekannten Gemüsekohle (Brassica oleracea) ist der Wildkohl. Man kann ihn heute manchmal noch im mediterranen Raum finden. Seine Blätter sind blaugrün, kräftig und lose um den mittleren Spross angeordnet, etwa wie beim Löwenzahn; seine Blüten ähneln denen der Rapspflanze.
Die Kohlfamilie in ihrer heutigen Vielfalt von etwa 50 Arten entstand dann durch jahrhundertelange Auslese, Züchtung und sicher auch zufällige Entwicklungen. Die Nachfahren des wilden Urahnen mit ihren mannigfaltigen Formen und Farben sind bekannt als Grün-, Weiß- oder Rotkohl, Brokkoli, Kohlrabi, Wirsing, Blumenkohl, Rosenkohl, Pak Choi oder Chinakohl.
ACEPHALA HEISST »KEIN KOPF«
Grünkohl (Brassica oleracea convar. acephala var. sabellica) ist im Unterschied zu den Kopfkohlen wie Weiß- oder Rotkohl eine Blattkohlart. Die Überordnung acephala heißt wörtlich übersetzt »kein Kopf«. Grünkohl ähnelt im Erscheinungsbild entfernt dem wilden Kohl. Vermutlich zählt er zu den ältesten Kohlarten, die es auf der Welt gibt. Vom Wuchs her gleicht der Grünkohl einer Palme im Miniaturformat. Auf einem mehr oder weniger hohen stammartigen Strunk thront eine lose, ausladende Blätterkrone, je nach Sorte grün, braun, rot oder violett.
Als typisches Wintergemüse wird er auch Braunkohl, Winterkohl, Krauskohl (im Englischen »curly kale«) oder einfach nur Kohl genannt. In Ostwestfalen-Lippe heißt er entsprechend seinem Wuchs auch Lippische Palme, weiter nördlich Oldenburger oder Friesische Palme. Braunkohl nennt man den Grünkohl in Bremen, weil er sich, wenn er lange gekocht wird, bräunlich verfärbt. Es gibt aber auch eine Grünkohlvariante mit bräunlichen Blättern. In den USA sind momentan Rückzüchtungen alter Sorten etwa mit dunkelroten und violetten Blattspitzen der Gesundheitshit.
Kalorienbewusste lieben leckere Grünkohlchips: mundgerecht geschnittene, gewürzte und im Backofen getrocknete Kohlblätter.
Die Lieblinge der Amerikaner
Da die US-Amerikaner gerne italienisch und asiatisch essen gehen, haben sie auch Grünkohlsorten schätzen gelernt oder selbst zu züchten begonnen, die wie Schwarzkohl aus Italien oder Kamome-Sorten aus Asien stammen. Nicht zuletzt haben die Erschaffer der Glitzerwelt von Hollywod einen Sinn für Dinge, die die Augen erfreuen, was gerade den farbigen Sorten zu Beliebtheit verhalf. Alle Grünkohlsorten sind in der Regel von zartem Geschmack; die Blätter kringeln sich niedlich, wenn sie zu Chips getrocknet werden, und eignen sich für viele Rezepte.
Schwarzkohl – der Softie unter den Grünkohlsorten
Den Schwarzkohl (Brassica oleracea var. palmifolia) nennt man wegen der palmenartigen Anordnung seiner Blätter auch Palmkohl, toskanischen Kohl – weil er seit Jahrhunderten in Norditalien angebaut wird – oder Dinosaurierkohl, weil die blasige Blattstruktur wie die Haut eines Reptils anmutet. In Italien kennt man ihn als »cavolo nero«, in den USA als »borecole« oder »lacinato kale«.
Die länglichen, nur leicht gekrausten Blätter des Schwarzkohls hängen nicht zusammen. Sie sind dunkel- bis schwarzgrün und leicht eingerollt. Die Pflanze ist zweijährig, kann meterhoch werden und verträgt kaum Frost. Sie lässt sich gut in größeren Kübeln ziehen. Die essbaren Blätter sind nach 70 Tagen erntereif. Schwarzkohl schmeckt etwas milder als andere Grünkohlsorten. Man nimmt junge, kleine Blätter, fein geschnitten für Salate oder gedünstet als Gemüse. Stängel und dickere Blattrippen schneidet man heraus. Die festeren Blätter sind sowieso zu hart. Kurz blanchiert, lässt sich Schwarzkohl gut einfrieren. So hat man stets einen Vorrat zur Hand.
IN DEUTSCHLAND GÄNGIGE GRÜNKOHLSORTEN
Halbhoher grüner Krauser: mittelhoch, mittlere Frosthärte, dunkelgrünes gekraustes Laub
Holter Palme: hellgrüne Blattrosetten, sehr fein gekraust; alte ostfriesische Landsorte, bis 1,10 Meter hoch
Lerchenzungen: halbhoch mit sehr schmalen Blättern von mittlerer Kräuselung; sehr schmackhaft, sehr frostfest
Ostfriesische Palme: mannshohe Sorte; derbe, untere Blätter als Viehfutter, zarte, obere Blätter für den Verzehr
Braunkohl Roter Krauskohl: Züchtung aus mehreren alten Braunkohlsorten; die rotbraunen Blätter enthalten mehr krebsvorbeugende Flavonoide und Carotinoide als andere Sorten; nicht sehr frosthart
Bremer Scherkohl: mittelgrüne, gezackte Blätter, leicht zu kultivieren, schnell wachsend, winterfest; wie Spinat zubereiten
Dwarf Blue Scotch: stämmige Kohlsorte – »dwarf« heißt Zwerg – mit zarten blaugrünen, gelockten Blättern
Darkibor: dunkelgrüne, fest gekrauste Blätter
Winterbor: Blätter blau- bis dunkelgrün mit starker Kräuselung; kann recht hoch werden; wegen ihrer Frostfestigkeit sehr beliebte Sorte
Dwarf Green Curled: kompakt mit dunkelgrünen, sehr krausen Blättern; wegen ihrer Anspruchslosigkeit sehr beliebte Sorte
Bei einigen...