Unverzichtbare Nation oder Hegemon?
Die Worte Radosław Sikorskis am 28. November 2011 kamen unerwartet: «Ich fürchte deutsche Macht weniger, als ich deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen nicht versagen zu führen.»[1] Unerwartet kamen diese Worte vor allem, weil Sikorski Außenminister Polens war, eines Landes, das in der Geschichte immer wieder, zuletzt im Zweiten Weltkrieg, Opfer brutaler deutscher Machtpolitik gewesen war. Zugleich verunglimpften radikale Demonstranten in Griechenland Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Postern, die sie mit aufgemalten Nazi-Insignien darstellten. Und die italienische Zeitung il Giornale schürte auf ihrer Titelseite am 3. August 2012 sogar Ängste vor einem «Quarto Reich».
Deutschlands Rolle in Europa ist im Zuge der Euro-Schuldenkrise umstritten wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit 1949. Hoffen auf deutsche Führung und Bangen vor deutscher Hegemonie gehen Hand in Hand. Die Krise verlangt der Bundesrepublik das ab, was sie seit ihrer Gründung unter allen Umständen vermeiden wollte: führen zu müssen, ohne sich auf eine Koalition von Staaten stützen zu können. Ihre schiere ökonomische Stärke hat sie in der Währungs- und Wirtschaftspolitik gegen ihren Willen und ohne ihr Betreiben zum Schlüsselland in Europa gemacht. Als stärkste Volkswirtschaft im Euro-Raum und in der EU, als drittgrößte Exportnation, viertgrößte Ökonomie und elftgrößte Militärmacht der Welt kommt Deutschland eine Verantwortung zu, die sich von der kleinerer Länder dramatisch unterscheidet. Im Zentrum dieses Buchs steht deshalb die Frage des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom, die er kurz nach dem Fall der Berliner Mauer stellte: Ob Deutschland wisse, «was es sein will, wenn es groß ist?»[2]
Bis 1990 hegte der Kalte Krieg die Bundesrepublik ein, in Zeiten der Blockkonfrontation waren die Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten für, aber auch die Anforderungen an Mittelmächte geringer. Meist kümmerten sich die USA um die Sicherheit innerhalb und außerhalb Europas. Sie gaben auch in Wirtschafts- und Handelsfragen lange Zeit den Ton an. Bonn war dies nur recht, selten entwickelte es eigene außenpolitische Initiativen, und die bezogen sich ausschließlich auf das Verhältnis zum anderen Deutschland und auf die europäische Integration. Unter dem Schutzschirm der USA konnte sich die Bundesrepublik zur Zivilmacht par excellence entwickeln, die sich nur im multilateralen Verbund engagierte, die internationale Politik verrechtlichen und außen- und sicherheitspolitische Kompetenzen an die EU übertragen wollte, an Militäraktionen nicht mitwirkte und sich auf Wohlstandsmehrung und Handel konzentrierte.
Mit dem Ende der Sowjetunion änderte sich die internationale Bedrohungslage fundamental. Die USA beachteten Europa und Deutschland weniger, und Deutschland war weniger von amerikanischen Sicherheitsgarantien abhängig. Auf dieser Tatsache gründet auch der Ansatz dieses Buchs, die Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung zu analysieren – und nicht, wie im Vorgängerwerk, seit der Staatsgründung.[3] Für viele jüngere politikinteressierte Leser liegt der Kalte Krieg heute so weit zurück wie der Peloponnesische zwischen Athen und Sparta. Und das nicht zu Unrecht – die internationalen Gefahren und Herausforderungen für das heutige Deutschland entwickelten sich fast alle in der neuen Welt der Post-Bipolarität: Im zerfallenden Jugoslawien kam es zu Bürgerkriegen und «ethnischen Säuberungen»; Dschihadisten ermordeten deutsche Staatsbürger und planten schreckliche Anschläge von der Bundesrepublik aus; kollabierende Staaten wie Afghanistan, Somalia und Jemen boten und bieten islamischen Terroristen Operationsbasen; Nationen in der ehemaligen Dritten Welt streben nach Massenvernichtungswaffen und Langstreckenraketen; Piraten bedrohen existentielle Seehandelswege; arabische Staaten an der europäischen Peripherie rebellieren gegen ihre Diktatoren, Libyen und Syrien stürzten sogar in Bürgerkriege; die Klimaerwärmung schreitet fast ungebremst fort; der Euro schweißt die Kern-EU nicht wie beabsichtigt zusammen, sondern droht sie vielmehr zu zerreißen; Russland destabilisiert Nachbarländer und annektiert ihr Territorium. Gleichzeitig verschieben sich die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gewichte seit 1990 rapide. China stieg zur größten Exportnation und zweitgrößten Wirtschaftsmacht auf, Asien kehrt auf den zentralen Platz zurück, den es in der Geschichte bis zur Industriellen Revolution eingenommen hatte, die USA orientieren sich auf den pazifischen Raum um. All dies stellt Deutschland und Europa vor gigantische außenpolitische Herausforderungen.
Wie die Bundesrepublik mit diesen Herausforderungen seit 1990 umging, ist das Thema dieses Buchs. Es will die Problembereiche deutscher Außenpolitik herausarbeiten, Entwicklungslinien aufzeigen, Handlungen und Entscheidungen erklären. Dabei wird deutlich, dass die Impulse für die deutsche Außenpolitik aus unterschiedlichen Richtungen kommen: Von den Partnern, die erwarten, dass die Bundesrepublik die ihrer Größe entsprechenden internationalen Lasten schultert, etwa in der Euro-Schuldenkrise, auf dem Balkan, in Afghanistan oder gegenüber Russland; von den Bürgern, die primär an ihrem wirtschaftlichen Wohlergehen interessiert sind und Militäraktionen und teure Rettungsaktionen für EU-Schuldenstaaten ablehnen; von den Visionen und Kalkülen von Politikern wie Helmut Kohl bei der Einführung des Euro; von den ökonomischen Realitäten, die zum Beispiel eine Modernisierung der Bundeswehr erschweren oder hochfliegende Ideen wie die Europäische Währungsunion konterkarieren; und nicht zuletzt von den Machtveränderungen im internationalen System, die die Handlungsspielräume teils erweitern, teils begrenzen.
Die akademische Disziplin Internationale Politik diskutiert seit 1990, welche Theorie die deutsche Außenpolitik am besten erklärt, indem sie einem dieser Impulse entscheidenden Einfluss zumisst. Konstruktivisten argumentieren, der Zweite Weltkrieg und die Erfahrungen der Nachkriegszeit hätten die politische Kultur der Bundesrepublik zutiefst geprägt. Die neue Identität, die nach John Duffield auf Multilateralismus und Antimilitarismus fußt, bestimme auch in der neuen Ära ihr außenpolitisches Verhalten.[4] Dieser Schule nahe steht Hanns Maulls These, Deutschland sei Prototyp einer normen- und ideengeleiteten «Zivilmacht».[5] Andrei Markovits und Simon Reich argumentieren, das «kollektive Gedächtnis» habe eine «Weltanschauung» und eine innenpolitische Kultur in Deutschland geschaffen, die traditionelle Hegemonialpolitik verhindere.[6] Neorealisten halten dagegen, dass die Bundesrepublik sich nach der Wiedervereinigung den klassischen Mechanismen der Machtpolitik nicht entziehen könne. Arnulf Baring betrachtet Deutschland als «Regionalmacht», Gregor Schöllgen als «Macht in der Mitte Europas», Hans-Peter Schwarz sogar als «Zentralmacht Europas», die «zur Großmacht verdammt» sei und ihre nationalen Interessen zunehmend eigenständiger wahrnehmen werde. Man muss «sich eben dessen bewußt bleiben», so Schwarz, «daß das Land, ob es dies wünscht oder nicht, in Westeuropa und Mitteleuropa als stärkste Macht wirkt und wohl oder übel auch seinem Gewicht entsprechend zu agieren verurteilt ist».[7] Werner Link argumentiert ganz auf dieser Linie, die Konfiguration der Machtverteilung im internationalen System und die Gleichgewichtspolitik dominieren sowohl die Beziehungen zwischen den EU-Staaten als auch der EU-Staaten gegenüber den USA.[8]
Liberale suchen und finden die Antriebskräfte für das außenpolitische Handeln Deutschlands in den Präferenzen innenpolitischer Akteure. Diese bedienen sich des Staats als Transmissionsriemen, um ihre Ziele außenpolitisch durchzusetzen. Dieter Senghaas und Michael Staak sehen die Bundesrepublik in der Tradition von Richard Rosecrance als international verflochtenen «Handelsstaat», dessen primäres Ziel Wohlfahrtsoptimierung und dessen präferierte Instrumente Multilateralismus und Integration sind.[9] Institutionalisten schließlich behaupten, die Einbindung Deutschlands in internationale Institutionen wie die EU, die Nato, die Uno, den Atomwaffensperrvertrag oder das Kyoto-Protokoll bestimme ihr außenpolitisches Verhalten. Peter Katzenstein etwa schreibt: «Die Institutionalisierung von Macht … ist der unterscheidungskräftigste Aspekt des Verhältnisses zwischen Europa und Deutschland». Durch die Einbindung in die EU sei die Bundesrepublik eine «gezähmte Macht» geworden.[10] Jeffrey Anderson spricht gar von Deutschlands «reflexhafter Unterstützung für einen übertriebenen Multilateralismus».[11]
Die Debatten zwischen diesen Schulen haben das vorliegende Buch bereichert. Trotzdem will es den Theoriediskurs nicht weitertreiben, indem es Hypothesen aus dem einen oder anderen Ansatz systematisch testet. Vielmehr geht es dem Buch darum, den Lesern die...