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Krisengeschöpfe

Zur Theorie und Methodologie der Objektiven Hermeneutik

AutorDirk Pilz
VerlagDUV Deutscher Universitäts-Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl631 Seiten
ISBN9783835091597
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis62,99 EUR
Dirk Pilz stützt seine These, Leser und Literatur teilten die Eigenschaft, ein Krisengeschöpf zu sein, auf die Objektive Hermeneutik. Er legt zunächst die erkenntnis- und forschungstheoretischen Grundlagen in ihrem systematischen Zusammenhang dar und erarbeitet dann - vor allem in Auseinandersetzung mit Derrida und Gadamer - die Grundzüge einer objektiv-hermeneutischen Ästhetiktheorie. Abschließend überträgt er seine Erkenntnisse auf die literaturwissenschaftliche Methodik.

Dr. Dirk Pilz promovierte bei Prof. Dr. Helmut Peitsch am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur, 19./20. Jahrhundert, der Universität Potsdam. Er ist als Theaterkritiker (u.a. für Neue Zürcher Zeitung, Berliner Zeitung, Märkische Allgemeine Zeitung) tätig.

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Leseprobe
1. Die Idee einer Objektiven Hermeneutik: Problemstellung und Forschungslage (S. 24)

Nun geht es in dieser Arbeit gar nicht darum, eine Lanze für die Literaturtheorie oder die Neuaufnahme der Methodendebatte zu brechen, auf derart allgemeiner Ebene baute man sich womöglich einen Pappkameraden auf, der des Kampfes nicht wert ist. Dieses Buch will vielmehr einen lohnenden Ansatz vorstellen und diskutieren, der in den Literaturwissenschaften bislang noch nicht angekommen ist.

Lohnend ist er vor allem deshalb, weil er es einerseits erlaubt, methodisch und methodologisch der Eigenart ästhetischer Gegenstände gerecht zu werden und andererseits ein besonderes Denk- und Arbeitswerkzeug bereit stellt, eben diese Besonderheit literarischer Texte zu erfassen, ohne sie weder ahistorisch aus ihren Kontexten herauszureißen noch zur Assoziationsfläche für theoretische, literaturgeschichtliche oder sonstige nichtästhetische Diskurse zu verkleinern noch bloß paraphrasierend zu verdoppeln.

Der Ansatz, den wir hier diskutieren, stellt eine Möglichkeit dar, den drei Dilemmata der Literaturwissenschaft mit einem Interpretationsverfahren zu begegnen, das den literarischen Text und dessen präzise und extensive Lektüre in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es nicht um die Wiederbelebung einer werkimmanenten Methodik, auch wenn das vorgestellte Verfahren auf den ersten Blick vieles mit dieser gemeinsam zu haben scheint.

Es geht um ein methodisches und methodologisches Vorgehen, das den Prozess der Sinnbildung eines Textes rekonstruiert. Auf diese Weise werden Lesarten sichtbar, die andernfalls unbemerkt bleiben und den literarischen Text vorschnell in bekannte Kategorien oder Deutungen einrückt. Grob gesprochen wollen wir die Grundzüge einer Methodik schildern, die für sich beansprucht, literarische Texte von ihrem Sinnbildungsprozess her zu lesen.

Selbstverständlich wird hiermit nicht behauptet, das Allheilmittel für alle interpretationspraktischen und interpretationstheoretischen Probleme gefunden zu haben, es wird ein Verfahren diskutiert, das der Literaturwissenschaft andere, bis dato nicht hinreichend erprobte Möglichkeiten bietet. Über die Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit dieses Ansatzes entscheidet nicht (allein) diese Arbeit, sondern die Wissenschaftspraxis.

An diesem Punkt mag den Leser Skepsis beschleichen: Wenn es denn so ist, dass der hier dargestellte Ansatz derart vielversprechend ist, wie kann es dann sein, dass er in der Literaturwissenschaft bisher kaum merklich in Erscheinung trat? Es gibt mehrere Gründe dafür, die noch ausführlich zur Sprache kommen werden. Eine Ursache ist sein Name: Objektive Hermeneutik.

Ein Theorie- und Forschungsprogramm, dass die Lexeme Hermeneutik und objektiv im Titel führt, ist für viele offenbar von vornherein nicht der Rede wert, stehen doch sowohl die hermeneutische Methodik als auch der Anspruch auf Objektivität unter dem Verdacht, die Entwicklungen der letzten Jahre verpasst zu haben. Von Hermeneutik lässt sich heute jedenfalls nicht mehr ohne weiteres sprechen, ganz zu schweigen von Objektivität, die in Bezug auf Literatur oder Interpretationen völlig fehl am Platze zu sein scheint.

Überdies sieht es so aus, als sei die Verbindung von Objektivität und Hermeneutik eine contradictio in adiecto, vermische also zwei Dinge, die sich nicht vertragen. Allein der Name Objektive Hermeneutik aktiviert also offensichtlich heftigen Widerstand – und transportiert nachhaltig Missverständnisse über die Annahmen und Grundlagen einer Objektiven Hermeneutik, die einer angemessenen Rezeption im Wege stehen.

Es gibt bis dato keine Darstellung der Literaturtheorie und auch kein literaturwissenschaftliches Lexikon oder Kompendium, in dem sie Erwähnung fände, obwohl mittlerweile einige Abhandlungen erschienen sind, die mit ihr einen philosophischen Diskurs führen. Selbst interpretationspraktisch gesehen ist die Objektive Hermeneutik in der Literaturwissenschaft noch nicht angekommen, auch wenn sich bereits verschiedene Autoren an literaturwissenschaftlichen Interpretationen mithilfe dieses Ansatzes versucht haben.
Inhaltsverzeichnis
Dank6
Inhaltsverzeichnis8
I Einführung14
1. Die Idee einer Objektiven Hermeneutik: Problemstellung und Forschungslage25
2. Eine kurze Kapitelübersicht40
II Theorie und Methodologie einer Objektive Hermeneutik50
1. Erste Perspektive: Zum Begriff der latenten Sinnstruktur51
2. Zweite Perspektive: Die pragmatistische Grundlegung des Sinnbegriffs und der krisentheoretische Ansatz der Objektiven Hermeneutik59
2.1. Das pragmatistische Wahrnehmungs- und Handlungsmodell61
A Der Zeichenbegriff71
B Die drei Kategorien Erstheit, Zweitheit, Drittheit75
2.2. Der Begriff der unhintergehbaren Sozialität als Grundlage der Sinnkonzeption80
2.2.1. Die pragmatistische Zeitkonzeption und der Begriff der Perspektive86
A Aktuelle und funktionale Gegenwart86
B Der Begriff der Perspektive89
2.2.2. Die Dialektik von I und Me91
2.2.3. Der genetische Sinnbegriff101
2.3. Das objektiv-hermeneutische Modell der Lebenspraxis auf der Grundlage der Dialektik von Krise und Routine106
2.3.1. Der Begriff Lebenspraxis107
A Drei Krisentypen112
B Strukturelle Autonomie114
2.3.2. Der objektiv-hermeneutische Strukturbegriff und das Modell der Emergenz126
A Der objektiv-hermeneutische Strukturbegriff127
B Reproduktion und Transformation: Das Emergenzmodell130
2.3.3. Peirce’ (frühe) Kategorienlehre als Grundlage des Rekonstruktionsbegriffs142
C Theorie der Kategorienlehre II: Die obere Grenze möglicher Erfahrung155
D Methodologische Schlussfolgerung II: Der Begriff der Rekonstruktion169
A Theorie der Kategorienlehre I: Die untere Grenze möglicher Erfahrung143
B Methodologische Schlussfolgerungen I: Die Begriffe Sequenz und Fallstruktur150
2.3.4. Das Schlussverfahren der Abduktion174
A Theorie der Abduktion: Nichtstandardisiertes Schlussfolgern175
B Methodologische Schlussfolgerung: Der Begriff der Strukturgeneralisierung192
3. Dritte Perspektive: Die Objektive Hermeneutik als Kompetenztheorie199
3.1. Chomskys Kompetenz-Performanz- Paradigma203
A Der generative Regelbegriff206
B Drei Ebenen der Kompetenz212
C Die zentralen Merkmale einer Kompetenztheorie214
3.2. Die Kritik des Kompetenzparadigmas und eine mögliche Lösung mit dem Modell der Inferenz218
A Wittgensteins Einwand: Privatsprachenargument und praxeologischer Regelbegriff219
B Die skeptische Lösung des Rechtfertigungsproblems225
C Die geradlinige Lösung des Rechtfertigungsproblems229
D Regulative und konstitutive Regeln238
E Das Modell der Inferenz241
F Kompetenz und Performanz als inferenzielles Verhältnis259
3.3. Die objektiv-hermeneutische Kompetenztheorie: Konsequenzen und Klarstellungen268
3.3.1. Objektiv-hermeneutische Theorie des Kompetenz-Performanz- Verhältnisses I: Generativ-konstitutive Regeln und latente Sinnstruktur270
A Einwände gegen den generativ-konstitutiven Regelbegriff276
B Die inferenzialistische Interpretation des generativ-konstitutiven Regelbegriffs283
C Latente Sinnstrukturen als Welt3 und als Gedanken: Die irreführende Rechtfertigung mit Popper und Frege292
3.3.2. Methodologische Schlussfolgerungen I: Die Begriffe Protokoll und Text301
A Der Begriff des Protokolls301
B Der Begriff des Textes305
3.3.3. Objektiv-hermeneutische Theorie des Kompetenz-Performanz- Verhältnisses II: Der erkenntniskonstitutive Zirkel309
3.3.4.Methodologische Schlussfolgerung II: Das Prinzip der Sequenzanalyse314
III Grundzüge einer objektiv-hermeneutischen Ästhetiktheorie318
1. Ästhetische Autonomie und die Strukturhomologie von Kunstwerk und Lebenspraxis322
1.1. Ästhetische Autonomie und die Eigenlogik der ästhetischen Erfahrung I326
1.2. Die Strukturhomologie von Kunstwerk und Lebenspraxis339
Exkurs: Krise und ( Post)Moderne352
2. Präsenz359
2.1. Präsenz und Krise359
2.2. Präsenz, Imagination und die Funktionalisierung der Präsenz zur Offenbarungs- oder Kompensationsinstanz375
A Der Begriff der Imagination381
B Die Funktionalisierung der Präsenz zur Kompensations- oder Offenbarungsinstanz391
3. Ästhetische Erfahrung als Spiel der Verstehensvollzüge406
3.1. Die materialistische Lesart416
A Unendliche Subversion des Verstehens417
B Ästhetische Differenz und die Folgen ihrer Auflösung428
3.2. Die hermeneutische Lesart448
A Die unendliche Steigerung des Sinns449
B Polysemie460
3.3. Die objektiv- hermeneutische Lesart468
A Ästhetische Erfahrung und die erstarrte Lebendigkeit des Kunstwerks: eine spielästhetische Lesart478
B Der Rätselcharakter des Kunstwerkes: Methodologische Konsequenzen505
4. Ästhetische Autonomie und die Eigenlogik der ästhetischen Erfahrung II520
4.1. Ästhetische Erfahrung und Suggestivität523
4.2. Das inferenzielle Verhältnis von Subjekt und Objekt in einem ästhetischen Zusammenhang540
2. Die Modifizierung der Prinzipien für literaturwissenschaftliche Sequenzanalysen601
Schluss616
IV Die Methodik der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse560
1. Die allgemeinen Prinzipien der Sequenzanalyse563
A Das Prinzip der Kontextfreiheit565
B Das Prinzip der Sequenzialität583
C Die Prinzipien Wörtlichkeit und Totalität589
D Die Prinzipien Extensivität und Sparsamkeit591
Literaturverzeichnis622
A) Texte von Ulrich Oevermann622
B) Sekundärliteratur627

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