1. Kapitel:
„Mexiko? Das ist viel zu gefährlich!“
„Warum klappt es denn schon wieder nicht?“, fragt mich Petra entnervt, als ich aus der Werkstatt kommend den Kopf schüttle und mich in den Fahrersitz fallen lasse.
„Frag mich lieber, warum die USA bald ihre Stellung als führende Wirtschaftsmacht verlieren: weil sie keinen Ölwechsel hinbekommen!“
Die Amerikaner haben es in den letzten Jahren meisterlich verstanden, im Wirtschaftsleben kontinuierlich Prozesse zu verbessern und die Effizienz zu steigern. Kein Prozessschritt, der nicht definiert ist. Kein Mitarbeiter, der nicht darauf gedrillt ist, diese Schritte ohne jegliche Abweichung zu befolgen. Prozessorientierung und militärischer Gehorsam bestimmen das Arbeitsleben des Amerikaners.
So war der größte Tabubruch in dem Unternehmen, für das ich in den USA gearbeitet habe, wenn ein Mitarbeiter sich nicht an die Vorgabe seines Managers und die exakt definierten Prozesse gehalten hat. Holte man sich in der Mittagspause einen Coffee-to-go im Café nebenan, dann hatte die Mitarbeiterin ein laminiertes Schaubild vor sich liegen, auf dem mit Bildern beschrieben war, wie in vier Schritten ein Kaffee zubereitet wird.
Und dann gibt es noch so wahnsinnig komplizierte Prozesse, wie der Ölwechsel beim Auto: Ölablassschraube aufdrehen, alten Ölfilter entfernen, warten bis das Öl abgelaufen ist, Ablassschraube wieder schließen, neuen Filter einsetzen, Öl auffüllen – fertig. Sechs Prozessschritte! Eigentlich alles klar, oder? Leider nicht für die Amerikaner.
Wie oft haben wir schon versucht, bei einer großen Supermarktkette einen Ölwechsel machen zu lassen. Erst werden zehn Minuten lang alle persönlichen Daten von mir erfasst: Name, Telefonnummer, Adresse; Kfz-Baujahr, Meilenstand, Fahrzeugnummer – am liebsten noch meinen Geburtstag, sowie Größe und Gewicht. Ja, wollen die mich denn heiraten? Ich brauche doch nur einen Ölwechsel! Doch dann passiert das Unfassbare – die Fahrzeugnummer wird nicht im Computer gefunden und damit auch nicht der passende Ölfilter. Entsetzt weicht der Servicemitarbeiter vor mir zurück. Bin ich vielleicht ein Terrorist?
„Nein, für dieses Auto haben wir leider keinen Ölfilter. Und ohne Ölfilter dürfen wir Ihr Öl nicht wechseln.“
„Kein Problem“, sage ich und ziehe den passenden Ölfilter aus der Tasche.
„Nein, nein – das geht trotzdem nicht. Ihr Auto existiert gar nicht. Wir haben keine Dokumentation. Wir wissen nicht, wie wir das bei Ihrem Auto machen sollen.“
In Gedanken fügt er wohl noch hinzu: Weiche von mir! Lass mich in Ruhe! Ich kann das nicht, ich will das nicht, und wenn du nicht sofort verschwindest, rufe ich Homeland Security, die Border Patrol, die NSA, die Antiterrorabwehr oder gleich den Präsidenten an.
Das ist dann regelmäßig der Moment, in dem wir resigniert aufgeben und im Rückspiegel beobachten, wie sich der Angestellte erleichtert den Schweiß von der Stirn wischt.
Wir fahren um die Ecke zu einer kleinen Werkstatt, in der fünf lachende Mexikaner arbeiten, die irgendwann in die USA eingewandert sind. Sie machen nicht nur ganz locker den Ölwechsel, sondern schmieren nebenbei noch den Wagen ab, putzen die Scheiben, prüfen den Luftdruck und saugen den Innenraum.
Nach über zwei Jahren wird es für uns endlich Zeit, die USA zu verlassen und sich die Welt jenseits der südlichen Landesgrenzen anzuschauen. Anderthalb Jahre haben wir in den Staaten gelebt und gearbeitet, weitere sieben Monate haben wir sie bereist. Und das nicht zum ersten Mal. Bereits 2004 sind wir mit dem VW-Bus ein halbes Jahr durch die USA gefahren, waren begeistert von den Naturhighlights, von den netten Menschen und den perfekten Campingmöglichkeiten.
„Aber nach Mexiko dürft ihr nicht reisen!“
„Warum denn nicht?“
„Ja habt ihr es denn noch nicht gehört? Dort herrscht Krieg! Ein Drogenkrieg, in dem jährlich Tausende Menschen umgebracht werden.“
Je näher wir der mexikanischen Grenze bei Brownsville/Matamoros kommen, desto eindringlicher warnen uns die Amerikaner. Mir ist ganz mulmig im Magen. Vielleicht bin ich ja doch kein Abenteurer? Neue Länder sehen, das ist in Ordnung. Aber sollen wir dafür wirklich unser Leben aufs Spiel setzen?
„Wenn ihr Glück habt, dann werdet ihr nur entführt und gefoltert. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihr direkt hinter der Grenze abgeknallt werdet!“
Mein Gott! Was ist denn in Mexiko los? Es fehlt nur noch, dass die Amerikaner, denen wir von unserem Vorhaben erzählen, flehend vor uns auf die Knie fallen und uns anbetteln, es bleiben zu lassen. Fast fesselt man uns mit Handschellen an das nächste Straßenschild. Also eines muss man ihnen lassen. Sie haben vielleicht Probleme mit unserem Ölwechsel, aber um unser Wohlbefinden sind sie tatsächlich in ernster Sorge. Soll unser großes Vorhaben, mit dem eigenen Auto von Nord- nach Südamerika zu reisen, schon an der mexikanischen Grenze scheitern? Ich schlage mir einige schlaflose Nächte um die Ohren und wäge Vorteile und Risiken gegeneinander ab.
„Wir fahren lieber nicht!“, verkünde ich am nächsten Morgen. „Wir können doch durch Europa reisen. Soll auch schön sein.“
„Ja, wenn man alt ist“, entgegnet Petra.
Es sind schließlich Andrea und Gunnar, ein deutsches Paar, das wir in Arizona im Statepark treffen. Sie sprechen so begeistert von ihrem Vorhaben, nach Feuerland zu reisen – und zwar mit einem Opel-Astra und Igluzelt – dass ich mich mitreißen lasse und doch wieder zur ursprünglichen Reiseplanung zurückkehre.
Eine letzte Warnung kommt von Trevor, den wir in einem Trailerpark nahe der mexikanischen Grenze kennenlernen. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Kopfgeldjäger. Nachts durchkreuzt er mit seinem ATV, einem geländegängigen Motorrad auf vier Rädern, den schmalen Streifen zwischen den USA und Mexiko. Er jagt illegal über die Grenze kommende Mexikaner und liefert sie für eine Prämie an die amerikanische Grenzpolizei.
Der Grenzübertritt nach Mexiko verläuft dann – ja, wie soll ich sagen: mexikanisch! Der Beamte an der migración ist sehr freundlich und bewilligt uns einen Aufenthalt von 180 Tagen. Danach schickt er uns weiter zum nächsten Fenster, dort müssen die für die Einfuhr des Autos benötigten Unterlagen kopiert werden. Das Fenster ist zu, das Licht aus. Hmm! Wir warten. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Fenster zu, Licht aus. Der Mann vom banjercito, wo die Einfuhr des Autos bewilligt wird, winkt uns herüber. Er schaut durch unsere Unterlagen und kann mit dem internationalen Fahrzeugschein nichts anfangen. Nein, mit so einem lustigen Heftchen können wir nicht über die Grenze. Die deutsche Zulassungsbescheinigung gefällt ihm schon besser. Sie sieht wesentlich offizieller aus. Verstehen kann er aber nichts. Wo steht das Baujahr? Das Gewicht? Die Fahrzeug-ID? Ah ja – er trägt alles in seinen Computer ein. Na, da hätten wir uns auch fantasievolle Papiere selber basteln können. Es wird viel gelacht – ein zweiter Beamter kommt dazu. Sie begleiten uns zum Auto, finden alles ganz toll. Und schicken uns dann zurück zum Kopierfenster, damit wir von den Papieren Duplikate machen lassen.
Doch: Fenster zu, Licht aus. Wir warten: eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Fenster zu, Licht aus. Der Beamte von der Migración schaut zu uns rüber: „Haha, der schläft noch.“ Ja, ja Siesta um halb neun in der Früh. Der Kollege vom Banjercito hat Mitleid, winkt uns zu sich herüber und macht schnell die fünf notwendigen Kopien. Für die nächsten zehn Jahre darf unser Auto in Mexiko bleiben.
Der Kollege am Kopierfenster ist nun auch endlich auf der Arbeit erschienen. Gut so, denn er macht nicht nur Kopien, sondern verkauft auch Autoversicherungen. Drei Monate kosten genauso viel wie zwölf. Na, wir werden sehen, wie lange wir nun wirklich in Mexiko bleiben. Drei Monate sind unsere Planung, aber wenn es mehr werden, ist das auch nicht schlimm.
„Bienvenidos a Mexico – Willkommen in Mexiko“, ruft uns der Soldat noch hinterher, nachdem wir durch die erste Militärkontrolle hinter der Grenze gefahren sind. Gerade noch hat sich ein vermummter Soldat in unserer Kabine auf der Suche nach Waffen und Drogen durch die Schränke getastet. Wir passieren die Grenzregion. Hier soll er toben, der Krieg zwischen den Drogenbaronen und dem Militär. Bereits nach einigen Kilometern kommen uns schwere Militärfahrzeuge entgegen mit Soldaten hinter schussbereiten Maschinengewehren auf dem Dach. Kurze Zeit später durchqueren wir ein Dorf, an dessen Straßenrand wieder Soldaten stehen – in voller Kampfausstattung mit Gewehren im Anschlag. Leichter Nieselregen und sehr diesiges Wetter geben der Kulisse ein bedrohliches...