AUFTAKT:
Hinter den Kulissen eines Traumberufs
»Die menschliche Stimme ist die Grundlage aller Musik.«
Richard Wagner
Etwas hörte auf. Nicht nur die Atemzüge des Publikums, das gebannt den letzten Tönen von Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno lauschte. Die Sopranistin Sandrine Piau hatte sie gerade ergreifend schlicht in die Kuppel der Kölner Philharmonie geseufzt. Auch die Zeit setzte aus, für die Winzigkeit eines Wimpernschlags stand die Welt still. Ein Augenblick, in dem es nur eins gab: diese berückenden und berührenden Töne. Es war ein Singen, das völlig nach innen gerichtet war. Seine Wirkung war so groß, weil Sandrine Piau den Mut hatte, so klein und pur zu musizieren. Was folgte, war eine Emotionalität der Stille: Der Moment vom Schlusston bis zum ersten Applaus ist der Moment der Magie in der Musik – ein Geschenk des Sängers an das Publikum und an sich selbst.
Szenenwechsel: Wagners Walküre an der Met mit Jonas Kaufmann in der Rolle des Siegmund. Ein Schwert verhieß mir der Vater – der Tenor beginnt den brütenden Gesang mit erstickter, baritonal eingedunkelter Stimme, die den Vulkan unter der Oberfläche nur erahnen lässt. Sie steigert sich und kulminiert schließlich in den Paroxysmen der »Wälse«-Rufe, so mächtig wie der Stamm der Weltesche, in dem das Schwert steckt, mit Tönen, deren Oberfläche so aufregend rau ist wie deren Rinde. Jonas Kaufmanns Stimme ist ein Ereignis, ein Tenor voller Testosteron. Auch dadurch fasziniert Gesang: mit der Überwältigung durch die Wucht, die Schönheit oder den Reichtum einer Stimme. Wenn ein Sänger seinen Gesang, wie Jonas Kaufmann, in den Dienst des Dramas stellt, den Sinn der Worte mit den Mitteln der Stimme illuminiert, sind auch das große Momente auf der Bühne.
Zeitsprung: Juni 2001, am Kölner Opernhaus gibt Karin Beier ihr Operndebüt mit Verdis Rigoletto. Es ist eine brillante Inszenierung, in der die Regisseurin der Gesellschaft unnachgiebig den Spiegel vorhält. Besonders zugespitzt zeigt sich das in der Ballszene: Rigolettos Gesang, der Abbild seiner zunehmenden Verzweiflung ist, steht in krassem Gegensatz zur derben Party Crowd, die ihn umgibt. Auf seinen Narrenstab ist eine Kamera gesteckt, mit der er durch die obszön feiernden Gäste auf der Bühne läuft. Die Bilder der Partygesellschaft werden per Beamer in Echtzeit auf Großleinwände projiziert. Es gibt Zwischenrufe und Tumulte im Publikum. »Konzertant!«, ruft ein aufgebrachter Zuschauer. In der Pause kommt es gar zu Handgreiflichkeiten zwischen Gegnern und Befürwortern der Inszenierung. Auch das kann Gesang respektive Oper sein: politisch und gesellschaftskritisch, wie ihr Ursprung im griechisch-antiken Theater.
Diese Abende erlebt man nicht oft. Es sind seltene und daher kostbare Momente, in denen alle Rädchen im Wunderwerk der Oper ineinandergreifen und mehr als die Summe ihrer Teile werden. Diese Momente kann man auch nicht »machen«, sie entstehen im Dialog des Künstlers mit dem Kunstwerk und im Dialog der beiden mit dem Publikum. Manchmal erhaschen wir dabei nur einen kurzen Blick in diesen fremd-faszinierenden Kosmos, manchmal aber stehen die Tore weit offen, und wir betreten eine neue Welt, staunend wie Alice beim ersten Blick auf das Wunderland. Wenn alles zusammenkommt, kann Musik, kann ein Lied, eine Oper uns etwas erzählen, über die Welt, in der wir leben, und über uns: wer wir sind, wo wir herkommen und wohin wir gehen (können).
Dies sind drei kurze Geschichten darüber, was Gesang für uns bedeuten kann. Vom Gesang reden heißt aber auch und vor allem: von Sängern reden. Man könnte diese Episoden nicht ohne sie erzählen – und ohne sie gäbe es auch dieses Buch nicht: Sie sollen hier zu Wort kommen, um sie soll es gehen, um ihre Arbeit und ihr Leben mit der Stimme.
Zwar hat die zunehmende Aufmerksamkeit für das Regietheater sie in den Feuilletons der Zeitungen immer weiter an den Rand gedrängt – wenn überhaupt noch über Oper geschrieben wird, geht es fast ausschließlich um die Inszenierung, die Sänger müssen sich mit einigen wenigen Sätzen begnügen oder werden gleich ganz in die Klammer abgeschoben – der überwiegende Teil des Publikums aber geht auch oder sogar: vor allem wegen der Sänger in die Oper. Im Sänger vereinen sich die unterschiedlichen Kunstformen zum Gesamtkunstwerk Oper: In seinem Gesang repräsentiert er die Musik, in seinem Spiel die theatralische Aktion, durch sein Kostüm hat er Anteil an der Ausstattung.
Dabei ist das, was wir von einem Sängerleben sehen, nicht mehr als ein kurzer Ausschnitt, der Moment, wenn sich am Abend der Vorhang hebt und den Blick freigibt auf das glänzende Endprodukt. Von den Anstrengungen, Rückschlägen, Kämpfen, Siegen und Niederlagen und vor allem von der harten Arbeit auf dem Weg zu einer glanzvollen Aufführung, gar zum Glamour eines Diven-Daseins, wissen wir wenig. Für den Sänger besteht das Leben nicht nur aus Scheinwerferlicht, Applaus und Premierenpartys, im Gegenteil: Singen ist Hochleistungssport! Und ebenso wie der Leistungssportler muss auch der Sänger sein Leben seiner Profession anpassen und bisweilen sogar unterordnen. Eine schöne Stimme allein reicht nicht aus, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Es geht auch um Disziplin und Arbeit, um Entbehrung und Verzicht, um Glück und Gesundheit, um gute Lehrer und zuverlässige Weggefährten. Für manche wird der vermeintliche Traumberuf dabei zum Albtraum.
Wenig wissen Opernbesucher und Musikhörer über die Komplexität des Sängerberufs. Hier für Aufklärung zu sorgen liegt offensichtlich auch den Sängern am Herzen: Fast alle haben sich bereit erklärt, über den eigenen Beruf zu sprechen, auch über das, was wir als Zuschauer normalerweise nicht sehen – über Ängste, Zweifel und Krisen, aber auch über jene magischen Momente, für die sich alle Anstrengung lohnt. Trotz voller Terminkalender und eng gesteckter Reisepläne haben sie sich die Zeit für intime Einblicke und die gemeinsame Reflexion über ihren Beruf genommen. Wie in einem Kaleidoskop entsteht aus diesen Gesprächen mit Sängern unterschiedlichster Stimmfächer und Altersstufen ein Bild davon, was es bedeutet, Berufssänger zu sein. Stattgefunden haben sie an den unterschiedlichsten Orten: mit Philippe Jaroussky und Angelika Kirchschlager etwa am Morgen nach einer Aufführung beim gemeinsamen Frühstück im Hotel, der zweiten Heimat vieler Sänger; mit Christiane Karg und Piotr Beczala via Skype, weil die eine zum verabredeten Zeitpunkt eine schwere Erkältung auskurieren musste und der andere für eine mehrwöchige Probenphase in den USA weilte; oder ganz privat wie bei Christa Ludwig zu Hause in Klosterneuburg vor den Toren Wiens und bei Edda Moser, die ihren Rückzugsort in Rheinbreitbach gefunden hat, nur einen Steinwurf entfernt vom Drachenfels bei Bonn.
Eines wurde dabei schnell klar: Den Sängerberuf gibt es nicht, die Karrierewege verlaufen und verliefen höchst individuell. Sie hängen von der stimmlichen Veranlagung und Entwicklung ab, von der eigenen Persönlichkeit, dem künstlerischen Umfeld aus Lehrern, Agenten, Intendanten – und immer wieder auch vom Faktor Glück. Dennoch gibt es Fragen und Probleme, denen sich ein Sänger früher oder später stellen muss, das fängt schon in der Gesangsausbildung an. Die eigene Stimme zu finden bedeutet nicht nur, das Instrument technisch zu beherrschen, sondern auch seinen persönlichen Klang und Charakter zu finden und zu lieben. Anja Harteros spricht deswegen von einer Selbstliebe, die man als Sänger zu seiner eigenen Stimme entwickeln muss. Es bedeutet auch, die Möglichkeiten und Grenzen einer Stimme auszuloten und: zu akzeptieren – hinsichtlich der Wahl des Stimmfaches und des Repertoires.
Sänger zu sein heißt aber immer auch: einer zu werden. Eine Gesangsstimme ist nie fertig, sie wandelt sich vielmehr fortwährend, analog zur körperlichen Entwicklung eines jeden Menschen. Jedes Alter bringt dabei seine ganz eigenen Vorzüge und Probleme mit sich. Die große Edita Gruberová hat unlängst etwa ihre Gesangstechnik umgestellt, um damit der altersbedingten Entwicklung ihres Körpers Rechnung zu tragen – mit fast 70 Jahren. Immer wieder müssen Sänger richtungsweisende Entscheidungen treffen, auf jedem Level ihrer Karriere: bei der Wahl des richtigen Lehrers, im Umgang mit jugendlicher Ungeduld, im Hinblick auf die Verlockungen, die Erfolg und Ruhm mit sich bringen, oder auf den richtigen Moment für den Abschied von der Bühne.
Was die Sänger erzählt haben, ihre Gedanken, Erfahrungen und Reflexionen, zeichnen nicht nur Karriere-, sondern auch Lebenswege nach. Zum einen weil das Singen einen so großen Einfluss auf das Privatleben und die persönliche Lebensführung hat, zum anderen aber auch weil sich Stimme und Persönlichkeit eines Menschen nicht voneinander trennen lassen. Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben muss jeder Sänger immer wieder neu austarieren, und nicht immer liegen die Entscheidungen allein bei ihm. Freimütig berichten die Sänger über ihre ganz individuellen Wege, die nicht nur von der Schönheit und Ausdruckskraft der eigenen Stimme bestimmt werden, sondern von vielen weiteren Faktoren abhängig sind. Dazu gehört der Umgang mit Lehrern, Kollegen, Bühnenpartnern, Regisseuren und Dirigenten. Denn auch wenn er allein im Rampenlicht steht: Ein Sänger ist immer nur so gut wie das Team, das ihn umgibt.
Dazu gehören aber auch Berichte von Sängerleben, die von Verzicht geprägt sind: auf ein »normales Leben«, auf Freunde, Familie und Kinder. Die Stimme diktiert das Leben und seine Rhythmen. Wie...