Kapitel I:
Ein verhängnisvoller bildungsökonomischer Irrtum
Akademiker verdienen mehr als Nichtakademiker. Das gilt nicht nur in Deutschland und trifft sowohl auf die Monats- als auch auf die Lebenseinkommen zu, wobei Letztere wesentlich schwächer divergieren.19 Akademiker leisten einen deutlich größeren Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt als Nichtakademiker. Und auch die Arbeitslosigkeit ist unter Akademikern durchschnittlich geringer als unter Nichtakademikern. Selbst wenn man den viel zu hohen Anteil derjenigen aus dem Vergleich herausnimmt, die gar keine Berufsausbildung – im Extremfall nicht mal eine abgeschlossene Schulbildung – haben, bleiben diese Differenzen bestehen: Akademiker verdienen mehr, sie tragen pro Kopf mehr zum Bruttoinlandsprodukt bei (sofern sich dieser Beitrag überhaupt verlässlich berechnen lässt) und haben gegenüber nichtakademischen Fachkräften ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden. Eine naheliegende Schlussfolgerung ist, dass ein erhöhter Anteil von Akademikern an der Gesamtbevölkerung das Durchschnittseinkommen erhöhen würde, zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts beitrüge und die durchschnittliche Arbeitslosigkeit absenken würde. Diese These beruht jedoch auf einem Denkfehler, der erstaunlicherweise weit verbreitet ist. An dieser These scheint alle Kritik am Akademisierungswahn abzuprallen. Nicht einmal die empirischen Daten, die diese These zweifelsfrei widerlegen, scheinen zu helfen (siehe Tabelle I im Anhang).
Zunächst einige Hinweise zur Empirie, bevor wir zum Denkfehler selbst kommen: Deutschland und Österreich verzeichnen im internationalen Vergleich ungewöhnlich niedrige Akademikerquoten, obwohl gerade diese beiden Länder eine sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit und ein hohes Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Großbritannien mit einer knapp doppelt so hohen Akademikerquote wie Deutschland und vergleichbaren ökonomischen Bedingungen hat eine mehr als doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland und ein deutlich niedrigeres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Auch die Schweiz gehörte jahrelang zu den Ländern mit einer sehr niedrigen Akademiker- und Absolventenquote (im Jahr 2000 lag Letztere lediglich bei 12%, während der OECD-Durchschnitt damals schon 28% betrug).20 Dem ökonomischen Erfolg dieses Landes war das über Jahrzehnte nicht abträglich.
Eigentlich müssten die empirischen Daten hinreichend Irritationen um die bildungsökonomische Grundthese auslösen, wonach sich aus dem individuellen Vorteil des Akademikers gegenüber der nichtakademischen Fachkraft ein volkswirtschaftlicher ergebe. Dies ist nicht der Fall, weil das Denken in mathematischen Strukturen nicht weit verbreitet ist. Die Hartnäckigkeit der bildungsökonomischen These und die auf dieser These beruhende Bildungsideologie einer kontinuierlichen und im Prinzip unbegrenzten Ausweitung des Akademikeranteils21 beruhen auf einem fundamentalen Denkfehler.
Damit wir uns diesen Denkfehler klarmachen können, legen wir für einen Augenblick eine idealisierte Modellwelt zugrunde und vergleichen dort zwei Zustände: Der erste Zustand weist eine Akademikerquote von 20% gegenüber 60% nichtakademischen Fachkräften und 20% ohne Berufsausbildung auf. Das Einkommen der Akademiker sei um 50% höher als das der nichtakademischen Fachkräfte und um 100% höher als das derjenigen ohne Berufsausbildung. Im zweiten Zustand dieser Modellwelt hat sich der Akademikeranteil auf 40% verdoppelt. Der Anteil der nichtakademischen Fachkräfte hat sich entsprechend auf 40% abgesenkt, der Anteil derjenigen ohne Berufsausbildung stagniert bei 20%. Akademiker verdienen nun gegenüber nichtakademischen Fachkräften nach wie vor deutlich mehr, der Unterschied ist allerdings leicht von 50% auf 40% geschrumpft. Wegen des Verdrängungseffektes auf dem Arbeitsmarkt (Akademiker übernehmen Berufstätigkeiten, die zuvor hochqualifizierte nichtakademische Fachkräfte übernommen haben) sinkt das Realeinkommen der nichtakademischen Fachkräfte um 10%, und wegen der geringen Nachfrage nach beruflich Nichtqualifizierten und verschärfter Konkurrenz mit beruflich Gebildeten sinkt das Realeinkommen in diesem Sektor um 20% ab. Der geringere Unterschied zwischen Akademikern und nichtakademischen Fachkräften ist ebenfalls auf den Verdrängungseffekt zurückzuführen: Zunehmend übernehmen Akademiker berufliche Aufgaben, die zuvor Nichtakademiker wahrgenommen haben, was zu einer Absenkung der durchschnittlichen Einkommen von Akademikern führt. Trotz einer Verdoppelung des Akademikeranteils ist das Einkommen insgesamt pro Kopf um 6,3% rückläufig.22
Diese Modellwelt soll lediglich zeigen, dass die bildungsökonomische These, wonach es wünschenswert sei, den Anteil Hochqualifizierter so lange zu erhöhen, wie diese (pro Kopf) mehr verdienen oder (pro Kopf) mehr zum BIP beitragen, nicht generell zutrifft, sondern von ganz spezifischen Bedingungen abhängig ist.
Die reale Welt in Deutschland unterscheidet sich von dieser Modellwelt in vielerlei Hinsicht, hat mit ihr aber auch einiges gemeinsam: eine Konvergenz (nicht Divergenz, wie oft behauptet wird!) der Lebensarbeitseinkommen von Akademikern mancher Fachbereiche und von nichtakademischen Fachkräften. Ein bloß schwaches Ansteigen der Realeinkommen seit den 1990er Jahren und ihr Rückgang von 2004 bis 200823 trotz ansteigender Studierendenquoten.24 Der zu erwartende Anstieg der Realeinkommen aufgrund eines gestiegenen Bildungsniveaus ist nicht eingetreten.25 So stellen Christiane Mück und Karen Mühlbein bereits für den Zeitraum zwischen 1991 und 2001 einen Einkommensverlust für ein Viertel aller Akademiker in Westdeutschland und somit eine Sättigung des Arbeitsmarktes fest.26 Auch der prognostizierte Arbeitskräftebedarf verweist auf einen ungefähr stetigen und relativ höheren Bedarf an mittleren Qualifikationsstufen im Vergleich zu Akademikern. Gerhard Bosch zeigt in einer Studie von 2011, dass sich auch bis 2025 die Verteilung des Arbeitskräftebedarfs nach Qualifikationen voraussichtlich nicht wesentlich ändern wird (im Vergleich zu 2005), sodass es bei einer zunehmenden Akademisierung der Gesellschaft zu Engpässen in den mittleren Qualifikationsniveaus und zu einem Überangebot an Akademikern auf dem Arbeitsmarkt kommen muss.27
Es ist anzunehmen, dass das Überangebot an akademischen Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt zu Einkommensverlusten unter Akademikern führt. Zwar scheint das Einkommen der Akademiker das der Nichtakademiker aktuell deutlich zu übertreffen. Bei einer Betrachtung des Bruttostundenlohns bedeutet dies beispielsweise, dass im Vergleich zu einem Meister oder Techniker ein Akademiker einen um 30% höheren Bruttostundenlohn aufweist.28 Für diesen Lohnunterschied ist aber jetzt schon vor allem der MINT-Akademiker29 (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) verantwortlich.30 Deren Einkommen lag deutlich über dem der übrigen Akademiker, was auf den technisch-organisatorischen Wandel der letzten Jahre und damit auf eine relativ steigende Nachfrage nach Hochqualifizierten dieser Fachbereiche zurückzuführen ist.31 In gewissen Bereichen kann von einer Konvergenz der Einkommen ausgegangen werden: So verfügt die Hälfte der Absolventen in den Geisteswissenschaften (2005 waren ca. 23% aller Studienanfänger Geisteswissenschaftler)32 über ein monatliches Nettoeinkommen von maximal 1700–2000 Euro im Jahr 2004 und liegt somit deutlich unter dem Einkommen anderer Akademiker.33 Verglichen mit den von Geisteswissenschaftlern am häufigsten ergriffenen Berufen34 werden in jenen, die eine Meister- bzw. eine Technikerausbildung erfordern, sogar höhere Einkommen erzielt.
Wie die Tabelle 1 zeigt, erzielen zwar einige Akademikerberufe, wie z.B. Ingenieure und Ärzte, hohe Einkommen. Dies gilt allerdings nicht für Absolventen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, deren Einkommen unter denen von Meistern und Technikern liegen. Bei Betrachtung der Lebenseinkommen dürfte sich dies noch stärker bemerkbar machen, da der Meister oder Techniker schnellere Ausbildungszeiten und schnellere Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Auch in Bezug auf die Arbeitslosenquoten lässt sich Folgendes feststellen: Bis zum Wirksamwerden der Agenda-Reformen ist über die Konjunkturzyklen hinweg eine ansteigende Arbeitslosigkeit trotz parallel steigender Studierendenquote zu beobachten. Das Risiko, arbeitslos zu werden, bleibt zwar für Akademiker weiterhin geringer als für nichtakademische Fachkräfte. Ein wirklich hohes Risiko, arbeitslos zu werden, besteht aber insbesondere für den viel zu hohen Anteil derjenigen, die ganz ohne Berufsabschluss bleiben (2012 verfügten 14,3% der 25- bis 65-Jährigen über keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss).35 So schwanken die qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten für Ungelernte zwischen 2007 bis 2012 auf einem hohen Niveau von 19 bis 22,1%, während Akademiker (inkl. Fachhochschulabsolventen) eine niedrige Arbeitslosenquote von 2,9% (2007) und 2,5% (2012) aufweisen. Die Arbeitslosenquote derjenigen, die eine berufliche Bildung absolviert haben, ist mit 6,1% (2007) und 4,4% (2012) stabil.36 Bemerkenswert ist dabei zweierlei: Die Arbeitslosenquoten von Meistern und Technikern lagen 2008 sogar geringfügig niedriger als für Akademiker,37 bis 2008 lag die Arbeitslosenquote von Fachhochschulabsolventen (2,1%) unter der von Universitätsabsolventen...